Dienstag, 29. Dezember 2015

Klabund - Die Harfenjule

Die Harfenjule: Luise Nordmann mit ihrer Harfe


Die Harfenjule

Emsig dreht sich meine Spule,
Immer zur Musik bereit,
Denn ich bin die Harfenjule
Schon seit meiner Kinderzeit.

Niemand schlägt wie ich die Saiten,
Niemand hat wie ich Gewalt.
Selbst die wilden Tiere schreiten
Sanft wie Lämmer durch den Wald.

Und ich schlage meine Harfe,
Wo und wie es immer sei,
Zum Familienbedarfe,
Kindstauf oder Rauferei.

Reich mir einer eine Halbe
Oder einen Groschen nur,
Als des Sommers letzte Schwalbe
Schwebe ich durch die Natur.

Und so dreht sich meine Spule,
Tief vom Innersten bewegt,
Bis die alte Harfenjule
Einst im Himmel Harfe schlägt.

Klabund (1890 - 1928) Für die Nazis, die seine Werke später verboten, seine Bücher verbrannten, war er ein „Asphaltdichter“, also in etwa ein entarteter und verjudeter Künstler, für die Kommunisten war er ein „bürgerlicher Individualitätstrottel“. Doch mit seinen Gedichten, die er in kleinen Heften, wie zum Beispiel der „Harfenjule“ veröffentlichen ließ, billig gedruckt und günstig zu haben, so wollte er es, traf er einen Volkston, der ihn bei den „kleinen Leuten“ beliebt machte.

Sonntag, 20. Dezember 2015

Wilhelm Bölsche - Die Poesie der Großstadt


Wilhelm Bölsche (1861 - 1939) war Schriftsteller und Herausgeber. Er arbeitete unter anderem für den Kosmos-Verlag und gilt als der Schöpfer des modernen Sachbuches. Auch initiierte der Freidenker die erste Volkshochschule. Sein Text "Die Poesie der Großstadt" entstand 1890, und er klingt für mich immer noch überraschend modern.


Die Poesie der Großstadt.

Die moderne Großstadt ist bar aller Poesie, – wie oft das schon ausgesprochen worden ist! Man durchblättere die nachgelassenen Briefwechsel von Dichtern, die gezwungen waren, ihren Lebensabend im emporwachsenden Berlin, dem Berlin, das Großstadt vor ihren Augen wurde, zuzubringen. Klagen, nichts als Klagen! Das Ende aller Poesie ist dieses grauenvolle Häusermeer. Wer nicht die Mittel hat, wenigstens ein Drittel des Jahres fern von dieser kalten Welt in irgend einem Waldwinkel oder Seebade sich aufzuhalten, dem versiegt alsbald der heilige Quell, sein Herz wird leer und roh wie diese Steinkolosse, diese ungeheueren, schwirrenden Geschäftsräder, er geht unter an Leib und Seele. 

Ich bin aus der Provinz nach Berlin gekommen, und was ich so oft gelesen hatte, habe ich geglaubt. Ich habe mir unter ein paar Jahren berliner Leben etwas vorgestellt wie eine bittere Kur, die man der Not gehorchend, schon einmal als moderner Mensch auf sich nehmen müsse zur Stählung des Geistes; die Poesie, so dachte ich, müsse fein säuberlich im untersten Gefache meines Koffers eingepackt liegen und liegen bleiben, bis diese schlimme Zeit der zwangsweisen Nordpolfahrt überstanden sei, später, bei Waldgrün und Bachesrauschen sollte sie schon wieder eine fröhliche Auferstehung feiern. Jahre sind vergangen und ich habe Berlin lieb gewonnen, nicht, wie so mancher, weil ich hier in hervorragendem Maße mein materielles Glück gemacht hätte, sondern als Poet. Wenn ich jetzt die Stadt durchwandere, vom Zentrum mit seinem wilden Strudel bis hinaus zur stillen Vorstadt, wo Welt und Welt, Dorf und Großstadt, Häusermeer und wogende Saatfläche sich berühren, so habe ich in mir nur ein Gefühl, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dieser Fülle des poetischen Stimmungsgehaltes, dieser Ueberfülle, die fast erdrückt, die in ihrer Größe nur einem gleicht, nämlich der Riesenstadt selbst. Ich habe mich sagen müssen: woher kommt dieser Gegensatz, wo liegt der Grund für jenes schiefe, voreilige Urteil, das so oft aus so gewichtigem Munde erklingt?
Mancherlei Ursachen treten hier zu gemeinsamer Wirkung zusammen. 

Zunächst wird in einer ganz unberechtigten Weise die nervöse Überreizung, die das großstädtische Treiben bei jedem, der im „Kampf ums Dasein“ steht, notwendig hervorruft, mit dem poetischen Stimmungsgehalte, der sich dem unparteiischen Beobachter aufdrängt, verwechselt. Das ist ja wahr: das berliner Leben macht nervös, sobald man selbst ein Stück Berlin wird, selbst mit in den Wettbewerb eintritt. Der moderne Dichter, der nicht mit Fortunas Beutel geboren wird, muß ja nun auch um sein Leben ringen. Alljährlich drängen sich ganze Scharen von jungen, künstlerisch begabten Menschen nach der Hauptstadt. Zu Hause haben sie lyrische Gedichte geschmiedet, von Sinnen und Minnen geschwärmt. In Berlin packt sie das große Rad der Lohnarbeit für den Tag. Sie müssen Feuilletons schreiben, um zu leben, sie müssen die Luft der Zeitungsdruckerei atmen, in ihren Mußestunden ist ihre Beschäftigung das nervöse, unendlich wertlose Streiten mit Genossen am Biertisch oder im Kaffe. Von Berlin sehen die jungen Leute eigentlich nichts, sie sehen bloß das Stückchen Facharbeit. Nun will der eine oder andere aber doch Romane schreiben. Es entsteht die unglückliche Spezies des neueren berliner Romans. Da ist alles mit dem roten Feuerschein krankhafter Nervosität beleuchtet. Die Stadt erscheint halb als eine Hölle, halb als ein Ort der grauen Langeweile. Alles ist Tendenz, die Menschen Karikaturen, die Handlung im besten Falle eine peinliche Kriminalgeschichte. Von den echten Stimmungen, die studiert sein wollen und zwar von ganz gesunden Augen, von der echten realistischen Erklärung aus den Verhältnissen, ja selbst nur von irgendwelchen charakteristischen, der Großstadt eigentümlichen Situationen ist da kaum die Rede. Es ist klar, daß der gesunde Leser sich von solchen Büchern mit einigem Schrecken zurückzieht und den Mangel an Poesie, den er in diesen nervösen Stadtprodukten allerdings findet, auf die Stadt als Objekt überträgt. Man wird mir einwenden, es gäbe auch wohlhabende Poeten in Berlin, solche, die nicht in der Tretmühle säßen, die ihr wohlverdientes Auskommen hätten. Diese aber zögen sich mit Abscheu vor der Großstadt als dichterischem Gegenstande zurück. Leider könnte man hier bestätigend gute Namen nennen. Wie Berlin seine jungen Dichter hat, die nichts kennen als Redaktionsstube, Bierlokal und Kaffe, deren Lektüre die Fachzeitung, deren weibliches Ideal die Kellnerin und deren Weltanschauung trotz des angeblichen Realismus die trockenste Bücherweisheit ist, so hat es seine hochehrwürdigen älteren Herrn vom Pegasus, die absolut niemals irgendetwas von ihrer eigenen Hauptstadt gesehen haben als C und W, Centrum und Westen, die eleganten Viertel, und auch die nur in den eleganten Straßen und Häusern. Wenn man bei solchen Leuten Entdeckungsfahrten in entlegeneren Winkeln der Stadt erzählt, so hat es den Anschein, als ob man von Innerafrika oder Südamerika spräche, so groß ist das Interesse, so groß ist aber auch die Unkenntnis beim Zuhörer. Und doch schreibt man auch in diesen Kreisen berliner Romane. Selbst ein Mann wie Spielhagen ist hier nicht auszuschließen. Man nehme einen Roman wie seinen "Neuen Pharao". Hier ist die Lektüre der Tagesblätter ebenso bemerkbar, wie die Kenntnis der feinen und halbfeinen Salons in Berlin W.; von Kenntnis der Stadt und ihres echten Stimmungsgehaltes keine Spur, ja überhaupt kein Anlauf, nach dieser Seite etwas zu bieten; einiges, was nicht zu umgehen war, ist erfunden – und das ist falsch; anderes ist nicht gekannt. Der Leser muß notwendig auch hier ein Gefühl unsäglicher Farblosigkeit bekommen, und hier wird er in erhöhtem Maße die Schuld der Stadt beimessen, denn er weiß vielleicht von früher her, daß Spielhagen (um bei dem Beispiel zu bleiben) da, wo er zu Hause ist, etwa am Seestrande, immer ein Meister des Lokalkolorits gewesen ist. 

Das sind nun ein paar Gründe mehr äußerlicher Art. Es gibt aber auch solche von weit mehr innerlicher Natur. Man redet heute mit besonderer Vorliebe von den Gegensätzen zwischen Realismus und Romantik. Das spielt auch in dieses Kapitel der Großstadt-Poesie hinein, man muß die Dinge nur richtig fassen. Romantik ist ein böses Wort, fast so arg wie das allerdings noch etwas schlimmere Unglückswort Idealismus. Wenn man Romantik allgemein faßt als das lyrische Element der Dichtung, so ist es gar nicht in Gegensatz zu einem irgendwie vernünftigen Realismus zu bringen, denn eine Ästhetik, die uns die Lyrik streichen wollte, wäre vollkommener Wahnsinn. Fassen wir den Begriff aber enger! Nehmen wir etwa Eichendorff. Man beachte, wie eng hier das Stoffgebiet der Lyrik geworden ist. Träumereien, Weltflucht, ewige Sehnsucht nach dem Alten, Verlorenen: Waldesstille, Glockengeläut, bemooste Ruinen. Wer will leugnen, daß auch diese spezielle Art der Romantik herrliches geleistet hat. Das Instrument ist aber klein, man kann es nicht überall gebrauchen. Vor allen Dingen ist die Gegenwart nicht dafür gemacht. Die Poesie der Großstadt kann man nicht fassen mit Eichendorff's Augen. Mitten im Geklingel der Pferdebahnen, dem Geschmetter der Militärmusik, dem unablässigen Klappern der Balken an hundert aufwachsenden Häuserkolossen in dieser ganzen Gigantomachie des hellen Zeitentages kann man nicht wohl das Waldhorn blasen, ohne sich lächerlich zu machen, und ein Narr sucht hier nach dem "Mühlenrad im stillen Grunde". 

Es liegt Humor darin und vorläufig noch ein echtes Stimmungselement, wenn in all' den Spektakel der Weltstraße hinein auf einmal ein Orgeldreher seine Weise ertönen läßt, aber das ist eben etwas anderes. Das gehört zu den großen Kontrasten der Stadt selbst, ja, man könnte an diesem armen Orgeldreher ein ganzes Stück Berliner Geschichte aufzeigen, den ganzen Übergang von der gemütlichen Philisterstadt zur kalten Großstadt, wie er sich ausspricht in der verschiedenen Stellung der Hausbewohner grade zu diesem Mann: hier noch heller Jubel aller Kinder und weiblichen Bewohner des Hauses, wenn der Alte mit seinem quiekenden Instrument in den kleinen, schmutzigen Hof tritt, dort der strenge Zettel über dem Portierfensterchen der eleganten Mietskaserne: "Musizieren verboten." Also so etwas gehört nicht hierher. Tatsächlich werden diese Dinge unausgesetzt verkannt. Es leben uns genug junge Lyriker, die von der Großstadt singen wollen, auf dem Tische des Kritikers häuft sich um Weihnachten ein kleiner Eiffelturm von Proben an. Und was singen diese angenehmen Jünglinge uns? In melancholischen Versen wird die allerdings nicht anzuzweifelnde Tatsache ausgesprochen und rührselig bedauert, daß unter den Linden keine tausendjährige Eichen mit altgermanischen Opferaltären in ihrem Schatten wachsen, daß die Spree kein krystallklarer Bergquell ist und die Häuser der Friedrichstraße nicht idyllische Schäferhäuschen mit jenen berühmten patriarchalischen Sitten der Bewohner, wie sie nirgendwo vorkommen, sind. Wenn ich diese Form der Romantik verwerfe, so leugne ich damit nicht im Entferntesten das echte melancholische Element, das der wahren Großstadt-Poesie allerdings in hohem Maße innewohnt. Es entspringt aus Kontrasten, trägt aber nicht künstliche hinein. Eine Überfülle tragischer Motive im eigentlichen Sinne umschließt dieses Häusermeer. Wo immer man es als ein Ganzes zu sehen bekommt, überwiegt schon im rein Landschaftlichen der ernste, düstere Eindruck, der dann leicht assoziativ, durch Reflexion, zu verstärken ist. Ein Sonnenuntergang über den rauchenden Schloten der Weltstadt hat etwas dämonisches, er gleicht einem ungeheuren Brande, mehr Qualm als Licht und das Licht tief abgedämpft zu fahlem Dunkelrot. Und selbst ein gesunder Rest echter Naturromantik fehlt nicht, wenn er auch in keiner Weise dominierend hervortritt. Es liegt ein schwermütig süßer Reiz in dem Baum, der aus dem widerlichen Kerker jener zimmerartig engen berliner Höfe seine schwachbelaubten Äste wie hilfesuchend nach reiner Luft emporreckt, in der Vorstadt-Lerche, die ihr Nest noch auf einem zwischen Häuserkolossen zufällig, in Folge irgend einer selbst wieder tragischen mißlungenen Bauspekulation übrig gebliebenen Restchen Ackerland baut, die in der Frühe ihr Lied hinaustrillert und doch kaum viel höher kommt mit ihren guten kleinen Schwingen als die Mietskasernen ringsum hoch sind. Wer sucht, findet solche Motive zahlreich. Man darf sich aber selbst hier nicht zur Einseitigkeit verführen lassen. Neben dem melancholischen Stimmungselemente steht gewaltig und hinreißend das Motiv der Größe, der Erhabenheit, der überwältigenden Herrlichkeit. Die Großstadt ist ja doch in eminentem Sinne auch die Großtat der menschlichen Kultur auf ihrer gegenwärtigen Entwickelungsstufe. Allerdings gerät man bei diesem Punkte sogleich wieder auf eine neue Streitfrage der Poeten, der künstlerisch schauenden Menschen überhaupt. Die Großstadt hat grade in ihrer erfreulichen fortschreitenden Seite ihren eigenen Stil, und es fragt sich, ob das Künstlerauge sich darauf einläßt, denselben zu studieren, sich ihm anzupassen, oder ob es ihn in Stücke zerschneidet und die Stücke einseitig und schablonenhaft nach älteren Mustern beurteilt. Im letzteren Falle bleibt grade bei unserer neuesten und im sichtbarsten Emporgang begriffenen Weltstadt, Berlin, verzweifelt wenig "Schönheit" übrig. Ich bin wiederholt mit Bekannten (Poeten, Architekten und anderen) durch Berlin gepilgert. Im Ganzen fanden sie Berlin schauderhaft. Gnade fanden kleine Ecken, die Kirchen am Gendarmenmarkt: da fanden sie etwas von Rom; die Museumsinsel: da herrschte klassischer Geist; dieses oder jenes Denkmal. Den Rathausbau nannte einer völlig verfehlt, aus allerlei formalen Detailgründen; der Rest unermeßlich nüchtern; grauenvoll vor allem vom künstlerischen Standpunkt die riesigen Eisenhallen der Bahnhöfe, grauenvoll die Häuserinseln, die endlosen Riesenstraßen der Vorstädte. Man nannte mir Paris, man nannte mir Rom. Das waren Großstädte, die man sich gefallen lassen konnte. Man sagte das im guten Glauben, man hatte es gelesen und das Auge darauf geschult, jede korinthische oder jonische Säule mehr war ein Schönheitsbeweis, jede dampfumwallte eiserne Bahnhofshalle ein Monstrum mehr. Dem Gesamtpanorama von Berlin fehlte es vollends an jedem klassischen Linienschwunge, es war einfach abscheulich, ohne Größe, ohne Stil. Ich persönlich kenne Rom oberflächlich und Paris ziemlich genau aus eigener Anschauung. Ich weiß sehr wohl, daß ein Blick auf das Panorama von Berlin vom Kreuzberg oder auf die Silhouette etwa vom Central-Viehhof her nicht zu vergleichen ist mit dem Anblick der Peterskirche vom Pincio oder dem goldschimmernden Koloß der Lutetia, wie ihn die Terrasse von Meudon zeigt. Falsch, grundfalsch ist nur der angelegte Maßstab. Wer festklebt an der Schablone bestimmter klassischer Formen, wer sich übertäuben läßt durch die wohlgefälligen Linien einer Säulenreihe, durch den pomphaften Lichtreflex auf einer Goldkuppel, wer mit einem Worte ganz und immerzu nur das Alte vertritt, der Ästhetik kein Recht der Fortentwickelung zugesteht, der ist allerdings ewig verloren für den Zauber moderner Großstadt-Poesie. Niemand wird den Reiz leugnen, den auch auf uns heute, die Kinder moderner Zeit, ein antiker Tempelbau ausübt wie die Berliner Nationalgallerie. Dennoch liegt nicht hier der Schwerpunkt des Charakteristischen für die Großstadt. Die gigantische Panzerschale der Bahnhofshalle am Alexanderplatz wäre hier viel eher zu nennen. Herausgerissen aus dem Ganzen wäre sie häßlich, häßlich wären die himmelhohen Neubauten, die endlosen Straßen, ganz hervorragend häßlich wären die Stangen der elektrischen Lampen an der Leipziger Straße, das krause Notennetz der unzähligen, die Giebel allenthalben überkletternden, die Straßen überbrückenden, fast schon den blauen Himmel in ein liniiertes Blatt verwandelnden Telegraphendrähte. Als Glied des Ganzen, ja als Machtglied, als Ausdruck des Kulturheraufgangs finde ich das alles groß, erhaben, schön. Der Begriff der Erhabenheit ist längst als ein ästhetisch zulässiger anerkannt. Auch das Assoziative, dem Gedanken an den idealen Gehalt und Zweck Entspringende, ist seit Fechner in der vernünftigeren Ästhetik als Faktor der Schönheitswirkung anerkannt. Es gibt kein Argument dagegen, daß die Schönheitsempfindung des Menschen bildungsfähig ist, daß sie sich tatsächlich bei freier Entwickelung im unbefangenen modernen Menschen schon nach der angedeuteten Seite hin wesentlich umgebildet, herangebildet, zum Zuge der Zeit heraufgebildet hat. Das ist ein unendlich wichtiger Gesichtspunkt für den Wert oder Unwert der Großstadt in der poetischen Betrachtung. Man soll nicht zerpflücken zu Gunsten eines Prinzips, man soll sich vertiefen, soll lernen. Mag der Rathausbau seine Schwächen im Detail haben; man soll ihn als wesentlichen, typischen Bestandteil des Ganzen fassen, da ist er ein erhabenes, ein schönes Glied. Im letzten Grunde ist das Symbolische selbst in der klassischen Kunst, in der älteren Kunst überhaupt unverhältnismäßig beherrschender gewesen, als man gewöhnlich zugibt. Im Symbolischen aber fällt das Vereinzelte, das direkt und an sich formal Wirksame ganz von selbst fort vor der Forderung der Allgemeinheit. Das weiter auszuführen, hieße ein Kapitel zur neueren Kunstgeschichte schreiben. Aber anzudeuten war die Sache auch für unsern Zweck. 

Zur Großstadt gehört auch der Großstadt-Mensch. Poetische Stimmungsbilder aus der berliner Welt müßten uns vor allen Dingen auch den Berliner zeigen, das Kind des Übergangs von der kleinen Spreestadt zur ungeheuren Reichs- und Weltstadt. Seltsam: der Berliner selbst ist ein schlechter Beobachter. Er hat Sinn dafür, sich selbst zu karikieren, aber nicht einmal in gutmütiger Art. In unsern "Berliner Romanen" (abgesehen davon, daß die wenigsten von den echten Berlinern herstammen) sind kaum die schwächsten Anläufe gemacht, den Berliner richtig zu schildern. Man wird an die Stindeschen Buchholz-Geschichten erinnern. Nun, da sind einzelne gute Züge, aber es ist das Unglück dieser Sachen, daß der Autor nicht bloß Beobachter geblieben ist, daß er auch Vollblut-Dichter werden wollte, dazu aber hatte er nicht das Zeug. So mischen sich in diesen Büchern, die überdies durch forcierte Massenproduktion rasch bergab gegangen sind, in die trefflichsten Detailstudien nach dem Leben die groben Späße internationaler Situationskomik; und vollends die Anläufe zur Vertiefung in's Ernste, die Versuche großstädtischen Hintergrund wirklich in entsprechender Größe zu malen, bedeuteten den vollkommenen Bankerott des dichterischen Vermögens. Nichts erscheint auf den ersten Blick so leicht und nichts ist tatsächlich so schwer, wie die Bewältigung dieser Großstadt-Stoffe mit dem Mittel der scherzenden oder auch der scharfen Satire. Nein, schildern soll man diese Dinge vor allem, treu  schildern. Das Tragische und das Komische darin kommen dann von selbst stark genug an's Licht. Man darf sich auch durch die Lust am Heiteren nicht darüber hinwegtäuschen, daß, je tiefer man die Menschen einer solchen Übergangszeit zwischen Kleinstadt und Großstadt studiert, der Schatten viel mehr werden als der Lichtpunkte. Frau Buchholz kommt sehr ähnlich massenhaft in Berlin vor, das ist sicher; aber das Komische ihrer Halbbildung wird anderswo zur Tragödie, die Kontraste, die in der Laune des Künstlers belustigende Schattenbildchen an die Wand zaubern, liegen in der Wahrheit zentnerschwer auf den Menschen. Damit soll aber nun der anderen Spezies unseres neueren Berliner Romans, der in schwärzestem Gewande einher wandelnden Ehebruchsgeschichte aus Berlin W, wie sie etwa Paul Lindau geliefert hat, erst recht nicht das Wort geredet sein. Die feine französische Technik kann hier ebenso wenig darüber hinwegtäuschen, daß von typischen berliner Verhältnissen kaum ein winziger Schatten vorhanden, und das Internationalste was sich nur entdecken läßt, der Spannung wegen in die Mitte geschoben ist. 

Einen letzten Punkt will ich noch kurz streifen. Man könnte ihn das historische Motiv in dem dichterisch aufgefaßten Stimmungsbilde der Großstadt nennen. Es ist bei anderen Weltstädten – ich erinnere bloß an Paris – sehr viel stärker als bei Berlin. Wer mit einigem Wissen ausgerüstet durch die Straßen der Seinestadt wandelt, der sieht an allen Ecken und Enden mitten im Strudel der Gegenwart die Vergangenheit, er sieht Jahrhunderte, die über den Platz, auf dem er steht, hinweggeschritten sind. Diese "Gespenster" reden mit, sie arbeiten hinein in die Stimmung, sie beeinflussen den Dichter, er mag wollen oder nicht. Wer den Platz anschaut, wo das Haupt des sechzehnten Ludwig gefallen ist, wer die Stimmung des Ortes fassen will, der mag sich stellen wie er will: mitten in das brausende Treiben der Menschen, das Rollen der Droschken, das Poltern des Omnibus mischt sich ihm der alte Klang, das alte Bild. Ich glaube, man soll sich diesem Motiv, wenn man ihm auch nicht entgehen kann, nicht zu einseitig hingeben, und Berlin ist in dieser Hinsicht ein günstigeres Beobachtungsfeld als ein so alter Kultursitz wie Paris. Was man selbst aus Berlin an solchen historischen Stimmungen herauslesen kann, wenn man den Schwerpunkt bewußt und in berechtigtem Sonderzweck hierher verlegt, das zeigen die Berliner Bilder von Julius Rodenberg, kleine Kabinettstücke, die jeder Poet als Vorstudien von sehr hohem Werte begrüßen muß und die vielfach sogar durch die Form wirklichen poetischen Wert erhalten. 

Das ist einiges von dem, was sich dem Satze entgegenstellen ließe: Die Großstadt ist bar aller Poesie. In dieser allgemeinen Fassung lassen sich die Dinge nur andeuten, nicht eigentlich beweisen. Das Letztere bleib' Sache der Detailstudie. Das derbe Rad der Welt kreist rascher, als daß die ästhetische Betrachtung immer gleich nachkommen könnte. So wächst uns die Großstadt jäh über den Kopf, plötzlich steht sie vor uns als Riesengemälde, als Riesenepos der Wirklichkeit und fordert Einlaß in die kühlen Hallen der Systematik. Kein Wunder, daß das Wirrsal ein großes ist. Aber das empfängliche Gemüt des Menschen wird schon nachkommen. Als der Ideenkreis des Christentums an einem Pfingstmorgen der Weltgeschichte in die staunende Menschheit eintrat, schien die Stunde der Kunst geschlagen zu haben. Heute scheint es dem Besucher der Museen, daß an jenem Morgen der triebkräftigste Schößling der Kunst gesäet worden sei. So wechselt die Meinung vor dem Erfolg. Und sie wird auch wechseln vor der Tatsache einer Befruchtung der Kunst durch die Großstadt, durch diese Großstadt, die das Licht des Morgenrotes scheinbar schwärzt durch ihren Rauchatem, die für die trillernde Lerche keinen Himmel mehr hat und von dem Dichter fordert, er solle ein Mensch sein, wie alle, Nerven haben von Stahl und die Sonne nur zwischen Telegraphendrähten sehen.

Montag, 16. November 2015

Kurt Kapper - Was kommt denn noch




          Was kommt denn noch


Und wir begreifen unsre Schritte kaum,
Wenn wir durch diese langen Gänge gehn,
Wir können diese Welt noch nicht verstehn
Und hängen tastend zwischen Zeit und Raum.

Wir sehen Steine nur und keinen Baum,
Denn während wir in diese Höfe spähn,
Scheint unser Denken völlig still zu stehn
Als lebten wir in einem wachen Traum.

Was kommt denn noch? Ist es noch nicht genug?
Wer hat uns denn in diesen Kreis verbannt?
Wir haben solches Suchen nie gekannt.

Und zagen scheu vor jedem Atemzug.
Das ist doch Traum! Das ist doch Selbstbetrug!
Und unbegreiflich quält sich der Verstand.


Dieses Gedicht schrieb Kurt Kapper im Konzentrationslager Theresienstadt, wohin er 1941 kam. 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert, wo er am 16. 2. 1945 noch nach der Befreiung durch die Sowjetarmee starb. 

Ein weiteres Sonett von ihm:

 


Sonett von Theresienstadt

Und Nacht und Tag, und Tag und Nacht,
Sie gleiten über unsre Häupter hin,
Zusammenhanglos, ohne Kraft und Sinn,
Als hätte Puppen man aus uns gemacht.

Der Klang der Welt, von Fernen hergebracht,
Wir hören ihn an uns vorüberziehn,
Und irgendwo iin Weiten sacht verglühn,
Und immer tiefer sinken wir im Schacht.

Hineingestellt in großes Weltgeschehn,
Trägt uns der Nachen, unbekannt wohin.
Kaltblaue Sterne, die herniedersehn

Und über unsern irren Wegen ziehn
Verklären uns in tröstendem Verstehn
Und kreisen segnend über uns dahin.

1943 in Theresienstadt entstanden



Aus: „An den Wind geschrieben, Lyrik der Freiheit 1933 – 1945“, gesammelt, ausgewählt und eingeleitet von Manfred Schlösser unter Mitarbeit von Hans-Rolf Ropertz; Schriftenreihe Agora, Darmstadt 1960

Jens Heimreich - Der Derwisch in der Wüste




Der Derwisch in der Wüste


Ich bin allein, die einst sich mir gesellten,
Seh ich auf Pfaden, die mein Engel mied.
Wenn ich auch sang vor ihren schwarzen Zelten,
Nachtvogelgleich mein erstes Lied.


Was ich ersann, träumt wunderlich geborsten
Wie Türme tun, die nie ein Mensch betrat,
In großen Wüsten, wo die Adler horsten,
Und golden steht des Schweigens reife Saat.


Ich will die Gärten meines Hoffens fliehen,
Zu früh schon ward des Lebens Dolde schwer
Um die ich warb, ich laß sie gerne ziehen,
Mein Wort verlangt nach Menschenohr nicht mehr.


Gewärtig nur bin ich der Unsichtbaren
Und meine Lippe sei fortan geweiht,
Daß sich mein Wandel stärke in Gefahren
Und würdig sei in würdeloser Zeit.




Jens Heimreich war ein deutscher Dichter, der sich einer Berliner Wiederstandsgruppe gegen die Nationalsozialisten anschloss. Er wurde 1940 an die Ostfront verfrachtet, wo er 1943 verwundet wurde und 1944 starb. Dieses und andere seiner Gedichte ist während des Krieges entstanden und wurde illegal verbreitet.

Dienstag, 3. November 2015

Georg Trakl: Verklärter Herbst



Am 3. November 1914 starb der Dichter Georg Trakl. Trakl wurde als Militärapotheker einberufen und begab sich angesichts der Gräuel, welcher er an der Front teilhaftig wurde, in den Freitod. 

            Verklärter Herbst           

Gewaltig endet so das Jahr
mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise
gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit.
Im Kahn den blauen Fluß hinunter
wie schön sich Bild an Bildchen reiht -
das geht in Ruh und Schweigen unter.


Georg Trakl (3. 2. 1887  -  3. 11. 1914), dieser früh vollendete und früh verstorbene Dichter, dessen Werke mich immer wieder berühren. Ich denke in Werken, und ob sie mir gefallen, und nicht in Biografien. Ich denke an das Beständige, und nicht an das Flüchtige. Ich denke an das Flüchtige, welches Bestand hat. . .

Freitag, 30. Oktober 2015

Ernst Stadler - Botschaft - Aufbruch



Am 30. 10. 1914 starb der aus dem Elsass stammende deutschsprachige Dichter bei Ypern. Er wurde eines der vielen Opfer unter den Lyrikern des Expressionismus, die im ersten Weltkrieg „fielen“.

Seine Gedichtsammlung „Der Aufbruch“ von 1914 war der Höhepunkt seines kurzen Schaffens und sein bekanntestes Werk. Er war mit René Schickele befreundet.

Botschaft

Du sollst wieder fühlen, daß alle stark und jungen Kräfte dich umschweifen,
Daß nichts stille steht, daß Gold des Himmels um dich kreist und Sterne dich umwehn,
Daß Sonne und Abend niederfällt und Winde über blaue Meeressteppen gehn,
Du sollst durch Sturz und Bruch der Wolken wilder in die hellgestürmten Himmel greifen.

Meintest du, die sanften Hafenlichter könnten deine Segel halten,
Die sich blähen wie junge Brüste, ungebärdig drängend unter dünner Linnenhut?
Horch, im Dunkel, geisterhafte Liebesstimme, strömt und lallt dein Blut –
Und du wolltest deine Hände müde zur Ergebung falten?

Fühle: Licht und Regen deines Traumes sind zergangen,
Welt ist aufgerissen, Abgrund zieht und Himmelsbläue loht,
Sturm ist los und weht dein Herz in schmelzendes Umfangen,
Bis es grenzenlos zusammensinkt im Schrei von Lust und Glück und Tod.


Der Aufbruch Die Flucht - Betörung

Nun bist du, Seele, wieder deinem Traum
Und deiner Sehnsucht selig hingegeben.
In holdem Feuer glühend fühlst du kaum,
Daß Schatten alle Bilder sind, die um dich leben.

Denn nächtelang war deine Kammer leer.
Nun grüßen dich, wie über Nacht die Zeichen
Des jungen Frühlings durch die Fenster her,
Die neuen Schauer, die durch deine Seele streichen.

Und weißt doch: niemals wird Erfüllung sein
Den Schwachen, die ihr Blut dem Traum verpfänden,
Und höhnend schlägt das Schicksal Krug und Wein
Den ewig Dürstenden aus hochgehobnen Händen.


Der Aufbruch Die Flucht - Ende

Nur eines noch: viel Stille um sich her wie weiche Decken schlagen,
Irgendwo im Alltag versinken, in Gewöhnlichkeit, seine Sehnsucht in die Enge bürgerlicher Stuben tragen,
Hingebückt, ins Dunkel gekniet, nicht anders sein wollen, geschränkt und gestillt, von Tag und Nacht überblüht, heimgekehrt von Reisen
Ins Metaphysische – Licht sanfter Augen über sich, weit, tief ins Herz geglänzt, den Rest von irrem Himmelsdurst zu speisen –

Kühlung Wehendes, Musik vieler gewöhnlicher Stimmen, die sich so wie Wurzeln stiller Birken stark ins Blut dir schlagen,
Vorbei die umtaumelten Fanfaren, die in Abenteuer und Ermattung tragen,
Morgens erwachen, seine Arbeit wissen, sein Tagewerk, festbezirkt, stumm aller Lockung, erblindet allem, was berauscht und trunken macht,
Keine Ausflüge mehr ins Wolkige, nur im Nächsten noch sich finden, einfach wie ein Kind, das weint und lacht,

Aus seinen Träumen fliehen, Helle auf sich richten, jedem Kleinsten sich verweben,
Aufgefrischt wie vom Bad, ins Leben eingeblüht, dunkel dem großen Dasein hingegeben.


Der Aufbruch Die Flucht - Reinigung

Lösche alle deine Tag’ und Nächte aus!
Räume alle fremden Bilder fort aus deinem Haus!
Laß Regendunkel über deine Schollen niedergehn!
Lausche: dein Blut will klingend in dir auferstehn!
Fühlst du: schon schwemmt die starke Flut dich neu und rein,
Schon bist du selig in dir selbst allein
Und wie mit Auferstehungslicht umhangen –
Hörst du: schon ist die Erde um dich leer und weit
Und deine Seele atemlose Trunkenheit,
Die Morgenstimme deines Gottes zu umfangen.


Der Aufbruch Die Rast - Herrad

Welt reichte nur vom kleinen Garten, drin die Dahlien blühten, bis zur Zelle
Und durch die Gänge nach dem Hof und früh und Abends zur Kapelle’
Aber unter mir war Ebene, ins Grün versenkt, mit vielen Kirchen und weiß blühenden Obstbäumen,
Hingedrängten Dörfern, weit ins Land gerückt, bis übern Rhein, wo wieder blaue Berge sie umsäumen.
An ganz stillen Nachmittagen meinte man die Stimmen von den Straßen heraufwehen zu hören, und Abends kam Geläute,
Das hoch den blau ziehenden Rauch der Kamine überflog und mich in meinem Nachsinnen erfreute.

Wenn dann die Nacht herabsank und über meinem Fenster die Sterne erglommen,
War eine fremde Welt aus Büchern auf mich hergesenkt und hat mich hingenommen.
Ich las von Torheit dieser Welt, Bedrängnis, Späßen, Trug und Leiden,
Fromme Heiligengeschichten, grausenvoll und lieblich, und die alte Weisheit der Heiden.
Sinnen und Suchen vieler Menschenseelen war vor meine Augen hingestellt,
Und Wunder der Schöpfung und Leben, das ich liebte, und die Herrlichkeit der Welt.

Und ich beschloß, all das Krause, das ich seit so viel Jahren
Aus Büchern und Wald und Menschenherzen und einsamen Stunden erfahren,
Alles Gute, das ich in diesem Erdenleben empfangen,
Treu und künstlich in Bild und Schrift zu bewahren und einzufangen.
Später, wenn die Augen schwächer würden, in den alten Tagen,
Würd ich in meiner Zelle sitzen und übers Elsaß hinblicken und mein Buch aufschlagen,
Und meiner Seele sprängen wie am Heiligenquell im Wald den Blinden Wunderbronnen,
Und still erging ich mich und lächelnd in dem Garten meiner Wonnen.

Dienstag, 27. Oktober 2015

Verwirrspiele - Ein Text in eigener Sache



Der Aufstieg der . .. Bewegung ist der Protest des Volkes gegen einen Staat, der das Recht auf Arbeit und die Wiederherstellung des natürlichen Auskommens verweigert. Wenn der Verteilungsapparat des weltwirtschaftlichen Systems von heute es nicht versteht, den Ertragsreichtum der Natur richtig zu verteilen, dann ist dieses System falsch und muss geändert werden.  . . .   Das wesentliche an der gegenwärtigen Entwicklung ist die große antikapitalistische Sehnsucht, die durch unser Volk geht, die heute vielleicht schon fünfundneunzig Prozent unseres Volkes bewusst oder unbewusst erfasst hat. Diese antikapitalistische Sehnsucht ist nicht im geringsten eine Ablehnung des aus Arbeit und Sparsamkeit entstandenen sittlich berechtigten Eigentums.  . .“

Kurz überflogen und mit einem Kopfnicken durch gewunken?

„Nun diese ganze jüdische Welt, die eine ausbeuterische Sekte, ein Blutegelvolk, einen einzigen fressenden Parasiten bildet, eng und intim nicht nur über Staatsgrenzen hinweg, - diese jüdische Welt steht heute zum größten Teil einerseits Marx, andererseits Rothschild zur Verfügung.“ 

Die bekannte Rhetorik, welche in der Geschichte so viel Unheil angerichtet hat?

Lesen braucht Zeit, einmal die Zeit des Lesens selber, dann die Zeit des Überdenkens des Gelesenen, dann die Suche nach Querverweisen, dann das erneute Überdenken. Das vorschnelle Urteil möchte zurück gehalten werden. Ein in unserer schnellebigen Zeit verschroben klingender Satz. Ist es doch eher eine Zeit des plakativen Schreibens, der schnellen Sätze, der parolenhaften Überschriften, der Stakkatosätze. Der schnellen Rede und Widerrede im Internet.

Die Formel „weder rechts noch links“ im politischen Spektrum hört sich so griffig an, wenn mit „links“ auch der Stalinismus bezeichnet wird, oder die chinesische Kulturrevolution. Da greift das Unbehagen im Magen, auch beim Anblick stalinistischer Diktatoren. Andererseits: Ein Unbehagen an der Ungerechtigkeit, ein Wunsch nach Gleichbehandlung aller Menschen, eine Nivellierung der Einkommen zugunsten der Hungernden und Ausgebeuteten: Das sind traditionell linke Themen, und besonders die Gleichbehandlung aller Menschen, die im Begriff „Internationale“ manifestiert ist, da schlägt mein Herz „links“. Doch schon bei dem Begriff „Diktatur des Proletariats“ rumort es bei mir im Magen: Als Dichter kleinbürgerlicher Herkunft, als Handwerker in Familienbetrieben habe ich mich nicht dem „Proletariat“ zugehörig gefühlt. Wie viele der „linken“ Schriftsteller der Weimarer Republik und der Bundesrepublik stehe und ich auch der „Arbeiterbewegung“ sympathisierend an der Seite, doch in deren Sinne „links“ bin ich nicht.

„Bürgerlicher Individualitätstrottel“ wurde der Dichter Klabund von den Kommunisten der Weimarer Republik genannt, für die Rechten war er kurz ein „Asphaltliterat“, was gleichbedeutend ist mit „entarteter Künstler“. Viele der kritischen und für Gleichbehandlung und  -gerechtigkeit eintretenden Künstlerinnen und Künstler ging es so. Und wie vielen Linken der Weimarer Zeit wurde mit dem Hitler-Stalinpakt die letzte Illusion geraubt, was denn nun „rechts“ oder links“ sei.

Aus der Geschichte lernen? Die drei Pünktchen  „. . . „ im ersten Zitat vor „Bewegung“ stehen für „nationalsozialistische“, hier also gebärdet sich der Sozialismus national, hört sich links an, und ist doch „rechts“, da nicht auf das Internationale, auf alle Menschen ausgerichtet, sondern auf die des eigenen Volkes. Das war zu der Zeit, als noch nicht in Gänze entschieden war, ob die NSdAP nun der Expansionspolitk Hitlers folgt, dem Herrschen einer Herrenrasse über die bolschewistischen, slawischen Untermenschen, oder ob sie sich um den nationalen Sozialismus (mit Ausschluss der Juden) verschreibt. Der Redner obiger Worte nahm jedoch ein unrühmliches Ende, er wurde von den eigenen Kumpanen ermordet.

Heutzutage wird allerlei Wortebrei durch die Weiten des Internets geschleudert, weder „rechts“ noch „links“ sollen wir sein, und uns nicht durch „Teile und herrsche“ auseinanderdividieren lassen. Dass dann diese Formel von denjenigen in den Mund genommen wird, die gerne alle Flüchtlinge, „Asylanten“ vertreiben wollen, zugunsten eines homogenen Was auch immers, das hier unbedingt geteilt und geherrscht werden muss unter den Ärmsten der Armen, dass die „völkischen“ den Vorrang vor allen anderen Menschen haben sollen. . . Da wird aus der Formel „weder rechts noch links“ durchgängig eine „rechte“.

Also: Geht mir weg mit „weder rechts noch links“. Gerne bin ich als bürgerlicher Individualitätstrottel „irgendwie links“, auch wenn ich „meinen Marx“ nicht gelesen habe (dafür aber Kropotkin). Und dass ich den linken Schwestern und Brüdern ein gesundes Misstrauen entgegen bringe, das liegt daran, dass ich auch dort immer wieder stumpfen Antiamerikanismus finde, dummen Antisemitismus, gewalttätige Plattitüden. Daher hab ich noch einmal den Bakunin oben nachgeschoben, als kleiner Fingerzeig, dass „links“ nicht unhinterfragt nachgeplappert werden sollte, und dass Antisemitismus auch in der „linken“ Tradition zu finden ist, so wie Kapitalismuskritik in der „rechten“. Schließlich war Bakunin einer der Stammväter des Anarchosyndikalismus.

Doch vor allen mache ich mein Politikverständnis am konkreten Handeln der Beteiligten fest. Politisches Handeln soll Menschlichkeit und Herz zeigen, und bei letzterem nicht nur einen rechten Fleck.


Zitat eins:

Gregor Strasser, aus der Reichstagsrede über die antikapitalistische Sehnsucht am 10. 5. 1932, zitiert nach Konrad Heiden „Hitler – Das Leben eines Diktators“, Zürich 1935, S. 398

so geht das Zitat weiter:

„ . . . Sie ist der Protest des Volkes gegen eine entartete Wirtschaft, und sie verlangt vom Staate, dass er, um das eigene Lebensrecht zu sichern, mit den Dämonen Gold, Weltwirtschaft, Materialismus, mit dem Denken in Ausfuhrstatistik und Rechsbankdiskont bricht und ehrliches Auskommen für ehrlich geleistete Arbeit wieder herzustellen in der Lage ist. Diese antikapitalistische Sehnsucht ist ein Beweis dafür, dass wir vor einer großen Zeitwende stehen: die Überwindung des Liberalismus und das Aufkommen eines neuen Denkens in der Wirtschaft und einer neuen Einstellung zum Staat.“


Zitat zwei:

Michail Bakunin, „Persönliche Beziehungen zu Marx“, in Gott und der Staat und andere Schriften (1871), Reinbek 1971, hier zit. nach Micha Brumlik, „Antisemitismus im Frühsozialismus und Anarchismus“, in Ludger Heid, Arnold Paucker (Hg.): Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933, Soziale Utopien und religiös-kulturelle Traditionen, Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 49, Tübingen 1992, S. 38 (Zitiert aus Jutta Ditfurth, „Der Baron, die Nazis und die Juden“, S. 94 )