Dienstag, 29. Dezember 2015

Klabund - Die Harfenjule

Die Harfenjule: Luise Nordmann mit ihrer Harfe


Die Harfenjule

Emsig dreht sich meine Spule,
Immer zur Musik bereit,
Denn ich bin die Harfenjule
Schon seit meiner Kinderzeit.

Niemand schlägt wie ich die Saiten,
Niemand hat wie ich Gewalt.
Selbst die wilden Tiere schreiten
Sanft wie Lämmer durch den Wald.

Und ich schlage meine Harfe,
Wo und wie es immer sei,
Zum Familienbedarfe,
Kindstauf oder Rauferei.

Reich mir einer eine Halbe
Oder einen Groschen nur,
Als des Sommers letzte Schwalbe
Schwebe ich durch die Natur.

Und so dreht sich meine Spule,
Tief vom Innersten bewegt,
Bis die alte Harfenjule
Einst im Himmel Harfe schlägt.

Klabund (1890 - 1928) Für die Nazis, die seine Werke später verboten, seine Bücher verbrannten, war er ein „Asphaltdichter“, also in etwa ein entarteter und verjudeter Künstler, für die Kommunisten war er ein „bürgerlicher Individualitätstrottel“. Doch mit seinen Gedichten, die er in kleinen Heften, wie zum Beispiel der „Harfenjule“ veröffentlichen ließ, billig gedruckt und günstig zu haben, so wollte er es, traf er einen Volkston, der ihn bei den „kleinen Leuten“ beliebt machte.

Sonntag, 20. Dezember 2015

Wilhelm Bölsche - Die Poesie der Großstadt


Wilhelm Bölsche (1861 - 1939) war Schriftsteller und Herausgeber. Er arbeitete unter anderem für den Kosmos-Verlag und gilt als der Schöpfer des modernen Sachbuches. Auch initiierte der Freidenker die erste Volkshochschule. Sein Text "Die Poesie der Großstadt" entstand 1890, und er klingt für mich immer noch überraschend modern.


Die Poesie der Großstadt.

Die moderne Großstadt ist bar aller Poesie, – wie oft das schon ausgesprochen worden ist! Man durchblättere die nachgelassenen Briefwechsel von Dichtern, die gezwungen waren, ihren Lebensabend im emporwachsenden Berlin, dem Berlin, das Großstadt vor ihren Augen wurde, zuzubringen. Klagen, nichts als Klagen! Das Ende aller Poesie ist dieses grauenvolle Häusermeer. Wer nicht die Mittel hat, wenigstens ein Drittel des Jahres fern von dieser kalten Welt in irgend einem Waldwinkel oder Seebade sich aufzuhalten, dem versiegt alsbald der heilige Quell, sein Herz wird leer und roh wie diese Steinkolosse, diese ungeheueren, schwirrenden Geschäftsräder, er geht unter an Leib und Seele. 

Ich bin aus der Provinz nach Berlin gekommen, und was ich so oft gelesen hatte, habe ich geglaubt. Ich habe mir unter ein paar Jahren berliner Leben etwas vorgestellt wie eine bittere Kur, die man der Not gehorchend, schon einmal als moderner Mensch auf sich nehmen müsse zur Stählung des Geistes; die Poesie, so dachte ich, müsse fein säuberlich im untersten Gefache meines Koffers eingepackt liegen und liegen bleiben, bis diese schlimme Zeit der zwangsweisen Nordpolfahrt überstanden sei, später, bei Waldgrün und Bachesrauschen sollte sie schon wieder eine fröhliche Auferstehung feiern. Jahre sind vergangen und ich habe Berlin lieb gewonnen, nicht, wie so mancher, weil ich hier in hervorragendem Maße mein materielles Glück gemacht hätte, sondern als Poet. Wenn ich jetzt die Stadt durchwandere, vom Zentrum mit seinem wilden Strudel bis hinaus zur stillen Vorstadt, wo Welt und Welt, Dorf und Großstadt, Häusermeer und wogende Saatfläche sich berühren, so habe ich in mir nur ein Gefühl, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dieser Fülle des poetischen Stimmungsgehaltes, dieser Ueberfülle, die fast erdrückt, die in ihrer Größe nur einem gleicht, nämlich der Riesenstadt selbst. Ich habe mich sagen müssen: woher kommt dieser Gegensatz, wo liegt der Grund für jenes schiefe, voreilige Urteil, das so oft aus so gewichtigem Munde erklingt?
Mancherlei Ursachen treten hier zu gemeinsamer Wirkung zusammen. 

Zunächst wird in einer ganz unberechtigten Weise die nervöse Überreizung, die das großstädtische Treiben bei jedem, der im „Kampf ums Dasein“ steht, notwendig hervorruft, mit dem poetischen Stimmungsgehalte, der sich dem unparteiischen Beobachter aufdrängt, verwechselt. Das ist ja wahr: das berliner Leben macht nervös, sobald man selbst ein Stück Berlin wird, selbst mit in den Wettbewerb eintritt. Der moderne Dichter, der nicht mit Fortunas Beutel geboren wird, muß ja nun auch um sein Leben ringen. Alljährlich drängen sich ganze Scharen von jungen, künstlerisch begabten Menschen nach der Hauptstadt. Zu Hause haben sie lyrische Gedichte geschmiedet, von Sinnen und Minnen geschwärmt. In Berlin packt sie das große Rad der Lohnarbeit für den Tag. Sie müssen Feuilletons schreiben, um zu leben, sie müssen die Luft der Zeitungsdruckerei atmen, in ihren Mußestunden ist ihre Beschäftigung das nervöse, unendlich wertlose Streiten mit Genossen am Biertisch oder im Kaffe. Von Berlin sehen die jungen Leute eigentlich nichts, sie sehen bloß das Stückchen Facharbeit. Nun will der eine oder andere aber doch Romane schreiben. Es entsteht die unglückliche Spezies des neueren berliner Romans. Da ist alles mit dem roten Feuerschein krankhafter Nervosität beleuchtet. Die Stadt erscheint halb als eine Hölle, halb als ein Ort der grauen Langeweile. Alles ist Tendenz, die Menschen Karikaturen, die Handlung im besten Falle eine peinliche Kriminalgeschichte. Von den echten Stimmungen, die studiert sein wollen und zwar von ganz gesunden Augen, von der echten realistischen Erklärung aus den Verhältnissen, ja selbst nur von irgendwelchen charakteristischen, der Großstadt eigentümlichen Situationen ist da kaum die Rede. Es ist klar, daß der gesunde Leser sich von solchen Büchern mit einigem Schrecken zurückzieht und den Mangel an Poesie, den er in diesen nervösen Stadtprodukten allerdings findet, auf die Stadt als Objekt überträgt. Man wird mir einwenden, es gäbe auch wohlhabende Poeten in Berlin, solche, die nicht in der Tretmühle säßen, die ihr wohlverdientes Auskommen hätten. Diese aber zögen sich mit Abscheu vor der Großstadt als dichterischem Gegenstande zurück. Leider könnte man hier bestätigend gute Namen nennen. Wie Berlin seine jungen Dichter hat, die nichts kennen als Redaktionsstube, Bierlokal und Kaffe, deren Lektüre die Fachzeitung, deren weibliches Ideal die Kellnerin und deren Weltanschauung trotz des angeblichen Realismus die trockenste Bücherweisheit ist, so hat es seine hochehrwürdigen älteren Herrn vom Pegasus, die absolut niemals irgendetwas von ihrer eigenen Hauptstadt gesehen haben als C und W, Centrum und Westen, die eleganten Viertel, und auch die nur in den eleganten Straßen und Häusern. Wenn man bei solchen Leuten Entdeckungsfahrten in entlegeneren Winkeln der Stadt erzählt, so hat es den Anschein, als ob man von Innerafrika oder Südamerika spräche, so groß ist das Interesse, so groß ist aber auch die Unkenntnis beim Zuhörer. Und doch schreibt man auch in diesen Kreisen berliner Romane. Selbst ein Mann wie Spielhagen ist hier nicht auszuschließen. Man nehme einen Roman wie seinen "Neuen Pharao". Hier ist die Lektüre der Tagesblätter ebenso bemerkbar, wie die Kenntnis der feinen und halbfeinen Salons in Berlin W.; von Kenntnis der Stadt und ihres echten Stimmungsgehaltes keine Spur, ja überhaupt kein Anlauf, nach dieser Seite etwas zu bieten; einiges, was nicht zu umgehen war, ist erfunden – und das ist falsch; anderes ist nicht gekannt. Der Leser muß notwendig auch hier ein Gefühl unsäglicher Farblosigkeit bekommen, und hier wird er in erhöhtem Maße die Schuld der Stadt beimessen, denn er weiß vielleicht von früher her, daß Spielhagen (um bei dem Beispiel zu bleiben) da, wo er zu Hause ist, etwa am Seestrande, immer ein Meister des Lokalkolorits gewesen ist. 

Das sind nun ein paar Gründe mehr äußerlicher Art. Es gibt aber auch solche von weit mehr innerlicher Natur. Man redet heute mit besonderer Vorliebe von den Gegensätzen zwischen Realismus und Romantik. Das spielt auch in dieses Kapitel der Großstadt-Poesie hinein, man muß die Dinge nur richtig fassen. Romantik ist ein böses Wort, fast so arg wie das allerdings noch etwas schlimmere Unglückswort Idealismus. Wenn man Romantik allgemein faßt als das lyrische Element der Dichtung, so ist es gar nicht in Gegensatz zu einem irgendwie vernünftigen Realismus zu bringen, denn eine Ästhetik, die uns die Lyrik streichen wollte, wäre vollkommener Wahnsinn. Fassen wir den Begriff aber enger! Nehmen wir etwa Eichendorff. Man beachte, wie eng hier das Stoffgebiet der Lyrik geworden ist. Träumereien, Weltflucht, ewige Sehnsucht nach dem Alten, Verlorenen: Waldesstille, Glockengeläut, bemooste Ruinen. Wer will leugnen, daß auch diese spezielle Art der Romantik herrliches geleistet hat. Das Instrument ist aber klein, man kann es nicht überall gebrauchen. Vor allen Dingen ist die Gegenwart nicht dafür gemacht. Die Poesie der Großstadt kann man nicht fassen mit Eichendorff's Augen. Mitten im Geklingel der Pferdebahnen, dem Geschmetter der Militärmusik, dem unablässigen Klappern der Balken an hundert aufwachsenden Häuserkolossen in dieser ganzen Gigantomachie des hellen Zeitentages kann man nicht wohl das Waldhorn blasen, ohne sich lächerlich zu machen, und ein Narr sucht hier nach dem "Mühlenrad im stillen Grunde". 

Es liegt Humor darin und vorläufig noch ein echtes Stimmungselement, wenn in all' den Spektakel der Weltstraße hinein auf einmal ein Orgeldreher seine Weise ertönen läßt, aber das ist eben etwas anderes. Das gehört zu den großen Kontrasten der Stadt selbst, ja, man könnte an diesem armen Orgeldreher ein ganzes Stück Berliner Geschichte aufzeigen, den ganzen Übergang von der gemütlichen Philisterstadt zur kalten Großstadt, wie er sich ausspricht in der verschiedenen Stellung der Hausbewohner grade zu diesem Mann: hier noch heller Jubel aller Kinder und weiblichen Bewohner des Hauses, wenn der Alte mit seinem quiekenden Instrument in den kleinen, schmutzigen Hof tritt, dort der strenge Zettel über dem Portierfensterchen der eleganten Mietskaserne: "Musizieren verboten." Also so etwas gehört nicht hierher. Tatsächlich werden diese Dinge unausgesetzt verkannt. Es leben uns genug junge Lyriker, die von der Großstadt singen wollen, auf dem Tische des Kritikers häuft sich um Weihnachten ein kleiner Eiffelturm von Proben an. Und was singen diese angenehmen Jünglinge uns? In melancholischen Versen wird die allerdings nicht anzuzweifelnde Tatsache ausgesprochen und rührselig bedauert, daß unter den Linden keine tausendjährige Eichen mit altgermanischen Opferaltären in ihrem Schatten wachsen, daß die Spree kein krystallklarer Bergquell ist und die Häuser der Friedrichstraße nicht idyllische Schäferhäuschen mit jenen berühmten patriarchalischen Sitten der Bewohner, wie sie nirgendwo vorkommen, sind. Wenn ich diese Form der Romantik verwerfe, so leugne ich damit nicht im Entferntesten das echte melancholische Element, das der wahren Großstadt-Poesie allerdings in hohem Maße innewohnt. Es entspringt aus Kontrasten, trägt aber nicht künstliche hinein. Eine Überfülle tragischer Motive im eigentlichen Sinne umschließt dieses Häusermeer. Wo immer man es als ein Ganzes zu sehen bekommt, überwiegt schon im rein Landschaftlichen der ernste, düstere Eindruck, der dann leicht assoziativ, durch Reflexion, zu verstärken ist. Ein Sonnenuntergang über den rauchenden Schloten der Weltstadt hat etwas dämonisches, er gleicht einem ungeheuren Brande, mehr Qualm als Licht und das Licht tief abgedämpft zu fahlem Dunkelrot. Und selbst ein gesunder Rest echter Naturromantik fehlt nicht, wenn er auch in keiner Weise dominierend hervortritt. Es liegt ein schwermütig süßer Reiz in dem Baum, der aus dem widerlichen Kerker jener zimmerartig engen berliner Höfe seine schwachbelaubten Äste wie hilfesuchend nach reiner Luft emporreckt, in der Vorstadt-Lerche, die ihr Nest noch auf einem zwischen Häuserkolossen zufällig, in Folge irgend einer selbst wieder tragischen mißlungenen Bauspekulation übrig gebliebenen Restchen Ackerland baut, die in der Frühe ihr Lied hinaustrillert und doch kaum viel höher kommt mit ihren guten kleinen Schwingen als die Mietskasernen ringsum hoch sind. Wer sucht, findet solche Motive zahlreich. Man darf sich aber selbst hier nicht zur Einseitigkeit verführen lassen. Neben dem melancholischen Stimmungselemente steht gewaltig und hinreißend das Motiv der Größe, der Erhabenheit, der überwältigenden Herrlichkeit. Die Großstadt ist ja doch in eminentem Sinne auch die Großtat der menschlichen Kultur auf ihrer gegenwärtigen Entwickelungsstufe. Allerdings gerät man bei diesem Punkte sogleich wieder auf eine neue Streitfrage der Poeten, der künstlerisch schauenden Menschen überhaupt. Die Großstadt hat grade in ihrer erfreulichen fortschreitenden Seite ihren eigenen Stil, und es fragt sich, ob das Künstlerauge sich darauf einläßt, denselben zu studieren, sich ihm anzupassen, oder ob es ihn in Stücke zerschneidet und die Stücke einseitig und schablonenhaft nach älteren Mustern beurteilt. Im letzteren Falle bleibt grade bei unserer neuesten und im sichtbarsten Emporgang begriffenen Weltstadt, Berlin, verzweifelt wenig "Schönheit" übrig. Ich bin wiederholt mit Bekannten (Poeten, Architekten und anderen) durch Berlin gepilgert. Im Ganzen fanden sie Berlin schauderhaft. Gnade fanden kleine Ecken, die Kirchen am Gendarmenmarkt: da fanden sie etwas von Rom; die Museumsinsel: da herrschte klassischer Geist; dieses oder jenes Denkmal. Den Rathausbau nannte einer völlig verfehlt, aus allerlei formalen Detailgründen; der Rest unermeßlich nüchtern; grauenvoll vor allem vom künstlerischen Standpunkt die riesigen Eisenhallen der Bahnhöfe, grauenvoll die Häuserinseln, die endlosen Riesenstraßen der Vorstädte. Man nannte mir Paris, man nannte mir Rom. Das waren Großstädte, die man sich gefallen lassen konnte. Man sagte das im guten Glauben, man hatte es gelesen und das Auge darauf geschult, jede korinthische oder jonische Säule mehr war ein Schönheitsbeweis, jede dampfumwallte eiserne Bahnhofshalle ein Monstrum mehr. Dem Gesamtpanorama von Berlin fehlte es vollends an jedem klassischen Linienschwunge, es war einfach abscheulich, ohne Größe, ohne Stil. Ich persönlich kenne Rom oberflächlich und Paris ziemlich genau aus eigener Anschauung. Ich weiß sehr wohl, daß ein Blick auf das Panorama von Berlin vom Kreuzberg oder auf die Silhouette etwa vom Central-Viehhof her nicht zu vergleichen ist mit dem Anblick der Peterskirche vom Pincio oder dem goldschimmernden Koloß der Lutetia, wie ihn die Terrasse von Meudon zeigt. Falsch, grundfalsch ist nur der angelegte Maßstab. Wer festklebt an der Schablone bestimmter klassischer Formen, wer sich übertäuben läßt durch die wohlgefälligen Linien einer Säulenreihe, durch den pomphaften Lichtreflex auf einer Goldkuppel, wer mit einem Worte ganz und immerzu nur das Alte vertritt, der Ästhetik kein Recht der Fortentwickelung zugesteht, der ist allerdings ewig verloren für den Zauber moderner Großstadt-Poesie. Niemand wird den Reiz leugnen, den auch auf uns heute, die Kinder moderner Zeit, ein antiker Tempelbau ausübt wie die Berliner Nationalgallerie. Dennoch liegt nicht hier der Schwerpunkt des Charakteristischen für die Großstadt. Die gigantische Panzerschale der Bahnhofshalle am Alexanderplatz wäre hier viel eher zu nennen. Herausgerissen aus dem Ganzen wäre sie häßlich, häßlich wären die himmelhohen Neubauten, die endlosen Straßen, ganz hervorragend häßlich wären die Stangen der elektrischen Lampen an der Leipziger Straße, das krause Notennetz der unzähligen, die Giebel allenthalben überkletternden, die Straßen überbrückenden, fast schon den blauen Himmel in ein liniiertes Blatt verwandelnden Telegraphendrähte. Als Glied des Ganzen, ja als Machtglied, als Ausdruck des Kulturheraufgangs finde ich das alles groß, erhaben, schön. Der Begriff der Erhabenheit ist längst als ein ästhetisch zulässiger anerkannt. Auch das Assoziative, dem Gedanken an den idealen Gehalt und Zweck Entspringende, ist seit Fechner in der vernünftigeren Ästhetik als Faktor der Schönheitswirkung anerkannt. Es gibt kein Argument dagegen, daß die Schönheitsempfindung des Menschen bildungsfähig ist, daß sie sich tatsächlich bei freier Entwickelung im unbefangenen modernen Menschen schon nach der angedeuteten Seite hin wesentlich umgebildet, herangebildet, zum Zuge der Zeit heraufgebildet hat. Das ist ein unendlich wichtiger Gesichtspunkt für den Wert oder Unwert der Großstadt in der poetischen Betrachtung. Man soll nicht zerpflücken zu Gunsten eines Prinzips, man soll sich vertiefen, soll lernen. Mag der Rathausbau seine Schwächen im Detail haben; man soll ihn als wesentlichen, typischen Bestandteil des Ganzen fassen, da ist er ein erhabenes, ein schönes Glied. Im letzten Grunde ist das Symbolische selbst in der klassischen Kunst, in der älteren Kunst überhaupt unverhältnismäßig beherrschender gewesen, als man gewöhnlich zugibt. Im Symbolischen aber fällt das Vereinzelte, das direkt und an sich formal Wirksame ganz von selbst fort vor der Forderung der Allgemeinheit. Das weiter auszuführen, hieße ein Kapitel zur neueren Kunstgeschichte schreiben. Aber anzudeuten war die Sache auch für unsern Zweck. 

Zur Großstadt gehört auch der Großstadt-Mensch. Poetische Stimmungsbilder aus der berliner Welt müßten uns vor allen Dingen auch den Berliner zeigen, das Kind des Übergangs von der kleinen Spreestadt zur ungeheuren Reichs- und Weltstadt. Seltsam: der Berliner selbst ist ein schlechter Beobachter. Er hat Sinn dafür, sich selbst zu karikieren, aber nicht einmal in gutmütiger Art. In unsern "Berliner Romanen" (abgesehen davon, daß die wenigsten von den echten Berlinern herstammen) sind kaum die schwächsten Anläufe gemacht, den Berliner richtig zu schildern. Man wird an die Stindeschen Buchholz-Geschichten erinnern. Nun, da sind einzelne gute Züge, aber es ist das Unglück dieser Sachen, daß der Autor nicht bloß Beobachter geblieben ist, daß er auch Vollblut-Dichter werden wollte, dazu aber hatte er nicht das Zeug. So mischen sich in diesen Büchern, die überdies durch forcierte Massenproduktion rasch bergab gegangen sind, in die trefflichsten Detailstudien nach dem Leben die groben Späße internationaler Situationskomik; und vollends die Anläufe zur Vertiefung in's Ernste, die Versuche großstädtischen Hintergrund wirklich in entsprechender Größe zu malen, bedeuteten den vollkommenen Bankerott des dichterischen Vermögens. Nichts erscheint auf den ersten Blick so leicht und nichts ist tatsächlich so schwer, wie die Bewältigung dieser Großstadt-Stoffe mit dem Mittel der scherzenden oder auch der scharfen Satire. Nein, schildern soll man diese Dinge vor allem, treu  schildern. Das Tragische und das Komische darin kommen dann von selbst stark genug an's Licht. Man darf sich auch durch die Lust am Heiteren nicht darüber hinwegtäuschen, daß, je tiefer man die Menschen einer solchen Übergangszeit zwischen Kleinstadt und Großstadt studiert, der Schatten viel mehr werden als der Lichtpunkte. Frau Buchholz kommt sehr ähnlich massenhaft in Berlin vor, das ist sicher; aber das Komische ihrer Halbbildung wird anderswo zur Tragödie, die Kontraste, die in der Laune des Künstlers belustigende Schattenbildchen an die Wand zaubern, liegen in der Wahrheit zentnerschwer auf den Menschen. Damit soll aber nun der anderen Spezies unseres neueren Berliner Romans, der in schwärzestem Gewande einher wandelnden Ehebruchsgeschichte aus Berlin W, wie sie etwa Paul Lindau geliefert hat, erst recht nicht das Wort geredet sein. Die feine französische Technik kann hier ebenso wenig darüber hinwegtäuschen, daß von typischen berliner Verhältnissen kaum ein winziger Schatten vorhanden, und das Internationalste was sich nur entdecken läßt, der Spannung wegen in die Mitte geschoben ist. 

Einen letzten Punkt will ich noch kurz streifen. Man könnte ihn das historische Motiv in dem dichterisch aufgefaßten Stimmungsbilde der Großstadt nennen. Es ist bei anderen Weltstädten – ich erinnere bloß an Paris – sehr viel stärker als bei Berlin. Wer mit einigem Wissen ausgerüstet durch die Straßen der Seinestadt wandelt, der sieht an allen Ecken und Enden mitten im Strudel der Gegenwart die Vergangenheit, er sieht Jahrhunderte, die über den Platz, auf dem er steht, hinweggeschritten sind. Diese "Gespenster" reden mit, sie arbeiten hinein in die Stimmung, sie beeinflussen den Dichter, er mag wollen oder nicht. Wer den Platz anschaut, wo das Haupt des sechzehnten Ludwig gefallen ist, wer die Stimmung des Ortes fassen will, der mag sich stellen wie er will: mitten in das brausende Treiben der Menschen, das Rollen der Droschken, das Poltern des Omnibus mischt sich ihm der alte Klang, das alte Bild. Ich glaube, man soll sich diesem Motiv, wenn man ihm auch nicht entgehen kann, nicht zu einseitig hingeben, und Berlin ist in dieser Hinsicht ein günstigeres Beobachtungsfeld als ein so alter Kultursitz wie Paris. Was man selbst aus Berlin an solchen historischen Stimmungen herauslesen kann, wenn man den Schwerpunkt bewußt und in berechtigtem Sonderzweck hierher verlegt, das zeigen die Berliner Bilder von Julius Rodenberg, kleine Kabinettstücke, die jeder Poet als Vorstudien von sehr hohem Werte begrüßen muß und die vielfach sogar durch die Form wirklichen poetischen Wert erhalten. 

Das ist einiges von dem, was sich dem Satze entgegenstellen ließe: Die Großstadt ist bar aller Poesie. In dieser allgemeinen Fassung lassen sich die Dinge nur andeuten, nicht eigentlich beweisen. Das Letztere bleib' Sache der Detailstudie. Das derbe Rad der Welt kreist rascher, als daß die ästhetische Betrachtung immer gleich nachkommen könnte. So wächst uns die Großstadt jäh über den Kopf, plötzlich steht sie vor uns als Riesengemälde, als Riesenepos der Wirklichkeit und fordert Einlaß in die kühlen Hallen der Systematik. Kein Wunder, daß das Wirrsal ein großes ist. Aber das empfängliche Gemüt des Menschen wird schon nachkommen. Als der Ideenkreis des Christentums an einem Pfingstmorgen der Weltgeschichte in die staunende Menschheit eintrat, schien die Stunde der Kunst geschlagen zu haben. Heute scheint es dem Besucher der Museen, daß an jenem Morgen der triebkräftigste Schößling der Kunst gesäet worden sei. So wechselt die Meinung vor dem Erfolg. Und sie wird auch wechseln vor der Tatsache einer Befruchtung der Kunst durch die Großstadt, durch diese Großstadt, die das Licht des Morgenrotes scheinbar schwärzt durch ihren Rauchatem, die für die trillernde Lerche keinen Himmel mehr hat und von dem Dichter fordert, er solle ein Mensch sein, wie alle, Nerven haben von Stahl und die Sonne nur zwischen Telegraphendrähten sehen.