Donnerstag, 31. Oktober 2019

Ernst Stadler: An die Schönheit / Hier ist Einkehr, René Schickele über den Dichter



An die Schönheit

So sind wir deinen Wundern nachgegangen
wie Kinder· die vom Sonnenleuchten trunken·
ein Lächeln um den Mund· voll süßem Bangen

und ganz im Strudel goldnen Lichts versunken·
aus dämmergrauen Abendtoren liefen.
Fern ist im Rauch die große Stadt ertrunken·

kühl schauernd steigt die Nacht aus braunen Tiefen.
Nun legen zitternd sie die heißen Wangen
an feuchte Blätter· die von Dunkel triefen·

und ihre Hände tasten voll Verlangen
auf zu dem letzten Sommertagsgefunkel·
das hinter roten Wäldern hingegangen – –

ihr leises Weinen schwimmt und stirbt im Dunkel.

1904

Aufbruch: Hier ist Einkehr

Hier ist Einkehr. Hier ist Stille, den Tagen und Nächten
zu lauschen, die aufstehen und versinken.
Hier beginnen die Hügel. Hier hebt sich,
tiefer landwärts, Gebirge, Kiefernwälder
und durchrauschte Täler.
Hier gießt sich Wiesengrund ins Freie.
Bäche spiegeln gesänftigt reine Wolken.
Hier ist Ebene, breitschultrig, heftig blühend,
Äcker, streifenweis geordnet,
Braunschollig, grün, goldgelb von Korn,
das in der Julisonne reift.
Tag kommt mit aufgefrischtem Himmel,
blitzend in den Halmen;
Morgen mit den harten, kühlen Farben,
Die betäubt in einen brennendgelben Mittag sinken –
grenzenlose Julisonne über allen Feldern,
In alle Krumen sickernd, schwer ins Mark versenkt,
bewegungslos,
In langen Stunden weilend, nur von Schatten überwölbt,
die langsam weiter laufen,
Sich strecken und entzündet in das violette Farbenspiel
des Abends wachsen,
Das nicht mehr enden will.
Schon ist es Nacht, doch trägt die Luft
Mit Dämmerung vollgesogen
noch den lichten Schein,
Der tiefer blühend auf der Schwingung
der gewellten Hügelränder läuft –
Schon reicht unmerklich Frühe an die Nacht
der weißen Sterne.
Bald weht aus Büschen wieder
aufgewirbelt junges Licht.

Und viele Tag und Nächte werden in der Bläue
auf- und niedersteigen,
Eintönig, tief gesättigt,
wunschlos in der großen Sommerseligkeit –
Sie tragen auf den schweren
sonngebräunten Schultern Sänftigung und Glück.

Der Lyriker Ernst Stadler, geboren am 11. August 1883 in Colmar, Elsass; starb am  30. Oktober 1914 bei Zandvoorde nahe Ypern in Belgien („Flandernschlacht“). Leider wurde er, bevor er eine Gastprofessur in Toronto annehmen konnte zum Militärdienst eingezogen.

"Ist Ernst Stadler Deutscher oder ist er ein Franzose, der das Deutsch als Kultursprache schreibt, etwa wie die Belgier französisch schreiben? Seine "Präludien" sind Ausklänge, zufällig. Ein schöner und zarter Traum, den ein ursprünglicher Charakter nachträumt, um das Nachher besorgt und von neuen Geistern längst besessen. Es ist weder Verlaine, noch Régnier. Herr Stadler hat sich in ihre Landschaften verirrt und baut ihre Gärten nach eigenem Empfinden um. Es ist ein Kunststück, er beweist, daß er zu dichten versteht, auch in dieser Gegend, die ihm übrigens sehr sympathisch erscheint; in diesen flüchtigen Gebilden, vor Sonnenaufgang, schwankt ein dunkler Kern, ein ganz eigener, überlegen. Stadlers Gedichte bezeugen eine wirkliche Originalität durch scheinbares, liebevolles Eingehen auf fremde Techniken, auf Empfindungsarten anderer. Ein ahnungsweises Eingehen. Dabei finden sich keine zehn Zeilen, die rein anempfunden wären, wiewohl sie die Originalität verschleiern und manchmal auszulöschen drohen. Der dunkle Kern in der Orgie matter Farben, zärtlicher Musik, das Eigene läßt sich schwer bestimmen, nur daß es lebt, läßt sich fühlen. Kinderaugen blicken in perverse Pracht und gefahrvolle Landschaften und zucken nicht. Fromme Hände flackern unzüchtig. Nicht, als ob die Originalität lediglich ideeller Art wäre, auch die Form verwahrt ein Heiliges, Eigenes. Eine Form, die nur scheinbar den Marmor sucht; sie verflüchtigt sich vielmehr wie Wind und Welle. Wenn es vorüber ist, bleibt ein schmiegender Duft, fallen immer wieder zwei, drei Töne in Moll. In Moll, ewig in Moll: das scheint Stadlers Naturell. Kontraste und Dissonanzen fehlen. Ich glaube nicht daran, meine vielmehr, daß dies eine Wirkung der Dichtart ist, in der er sich ergeht. Wie er sie empfand, weich, verträumt, giebt er sich wieder. Unfreiheit, Schüchternheit bannten ihn in die Farben und Klänge der Dämmerungen; mir scheint, es gilt allein, das Klima zu wechseln. Man muß eben weit gehen, um seine Heimat zu finden, um den Ort, wo man zutiefst wurzelt, zu begreifen, denn man hat sich zu früh verirrt"

René Schickele aus: Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde.
Jg. 7, 1904/05, Heft 16, 15. Mai 1905,

Das Bild "Kleine Hütten im Wald" ist von der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch.

Freitag, 18. Oktober 2019

Karl Gustav Vollmoeller: Sonett / Die alte Weise / Des morgens in einem fremden Land



Sonett

Denkst Du daran? - Wir gingen still zusammen,
Tief durch den Schnee in dämmerige Weite,
Und vor uns her auf die verschneite Heide
Warf noch die Sonne ihre letzten Flammen.

Denkst Du daran? - Wir gingen still zusammen,
Und manchmal lächeltest du wie im Traume,
Wie blauer Duft wob es am Waldessaume,
Am dunkeln Himmel lichte Wölkchen schwammen.

Die andern waren weit vorausgegangen,
Wir gingen still und sahen still uns an,
Es hatte sacht zu dunkeln angefangen,

Leis fiel der Schnee in großen weißen Flocken,
Wir gingen still und sahen still uns an.
Von ferne läuteten die Abendglocken.

Aus: Simplicissimus 1896


Die alte Weise

Die alte Weise kann ich nimmer finden.
Der Mondschein flutet silbern in den Gründen
es ist als wollt die Nacht im Duft vergehen.

In solchen Nächten kamst du sonst zu mir
Dann klangen feine Stimmen in den Winden
und leise träumend saß ich fromm bei dir
Nun ist es lang dass ich dich nicht gesehen.

Kennst du das Herz und der Gedanken Sünden
Die alte Weise kann ich nimmer finden.


Des morgens in einem fremden Land

Des morgens im Frühlichtschwanken
wenn es tastend zu dämmern begann
da kommen die verworrnen Gedanken
die mein Herz nicht bannen kann:

Ein Schuppen, alt und verfallen
wir Kinder sitzen spät noch darin
still draussen die Flocken fallen
Kennt ihr die Schneekönigin?

Und die Mädchen erzählen mit Flüstern
von der kalten Königin klingender Pracht
die die Kinder verlockt in der düstern
schneestreuenden Winternacht

und wie in des Teufels Krallen
der Zauberspiegel in Splitter zersprang
in weß Herz die Splitter fallen
der krankt daran sein Leben lang,

Mich fröstelt‘ ich schmiege mich fester
an dich (mein Herz ist bang und weh)
was bist du so kalt meine Schwester,
gingst du zu lange im Schnee?

Ich wollte ja gern mit dir wandern.
Ich suchte dich immer. Was winkt ihr mir zu
und lächelt so höhnisch ihr andern?
Mein alter Freund, da bist auch du:

wir hielten zusammen im schroffen
jähen Wechsel von Leid und Lust.
haben dich nun die Splitter getroffen
oder trag ich sie in der Brust

Und mein Vater, du mit dem blassen
verstörten Antlitz, was suchst du hier?
Vater, wo hast du die Mutter gelassen..
und was wollt ihr denn alle von mir

Schneekönigin lass mir die Seele
dein Lächeln ist Frost, Eis deine Stirn
Die Angst sitzt mir an der Kehle
Das Blut braust in meinem Hirn

des morgens im Frühlichtschimmer
da es tastend zu dämmern begann.
starr seh ich umher im Zimmer:
Etwas Fremdes schaut mich an.

Karl Gustav Vollmöller, geboren am 7. Mai 1878 in Stuttgart; gestorben am 18. Oktober 1948 in Los Angeles, der Stadt seines Exils. Er war ein Tausendsassa: Archäologe, Philologe, Lyriker, Dramatiker, Schriftsteller, Drehbuchautor, Übersetzer, Rennfahrer, Flugzeugkonstrukteur, Pionier des Stumm- und Tonfilms und Reformer des deutschen, europäischen und amerikanischen Theaters. Sein Gedichtband „Parcival – Die frühen Gärten“ verhalf ihm 1903 zu seinem Durchbruch als gefeierter Lyriker.

"Bei Vollmoeller (wird) die technische Perfektion bis zu einem Punkte gebracht, über den hinaus keine Steigerung mehr möglich ist … An Vollmoeller fasziniert, daß er den Weg seiner Epoche bis an den Rand des Abgrunds mitgeht.”

Klaus Günther Just in: Übergänge – Probleme und Gestalten der Literatur 1966

Sonntag, 13. Oktober 2019

Gerrit Engelke: Allheimat / Am Meerufer



Allheimat

Könnt ich mich lösen vom starren Gebein,
Von erdegeborener Schwere:
Könnt in Lüften eine Wolke sein,  -
Ein Funkeln im Sternenheere  -

Könnt ich zerbrechen den drückenden Zaum,
In Licht und in Brausen verließen:
In rollende Wogen, in stürzenden Schaum
Die dirstende Seele ergießen  -

O könnt ich in rauschendem, rasendem Spiel,
Im Sturm sein ein seliger Reiter:
Ich weiß nicht wohin  -  ohne Maß, ohne Ziel
Immer weiter, immer weiter  -  - 


Am Meerufer

Und Welle kommt und Welle flieht
Und der Wind stürzt sein Lied.
Schaumwasser spielt an deine Schuhe
Knie nieder, Wanderer, ruhe.

Es wälzt das Meer zur Sonne hin,
Und aller Himmel blüht darin.
Mit welcher Welle willst du treiben?
Es wird nicht immer Mittag bleiben.

E braust ein Meer zur Ewigkeit,
In Glanz und Macht und Schweigezeit,
Und niemand weiß wie weit  -
Und endlich kommst du dort zur Ruh,
Lebenswandrer, Du.

Gerrit Engelke wurde am 21. Oktober 1890 in Hanover geboren. „Gewiß ist Engelke der Dichter des Maschinenzeitalters, doch unter dem Einfluß Whitmans erscheint bei ihm die Arbeitswelt in idealisierter Sicht.  . . . Trotz aller Faszination teilte er freilich den unreflektierten Fortschrittsglauben seiner Zeit nicht.“ , heißt es über ihn im Buch „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen  -  Vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts“ von Hans J. Schütz.

Am 13. Oktober 1918 fiel er an der Westfront, kurz nachdem er einem Freund geschrieben hatte, er wolle über das „vom Krieg befreite, wieder menschlich-brüderlich werdende Völkereuropa der Städte, der Arbeit, des Lebens“ schreiben.

Dass Engelke dem städtischen Leben jedoch auch kritisch gegenüber stand zeigt sein Gedicht „Ich will heraus aus dieser Stadt“, in dem es unter anderem heißt: „Bald hab ich diese Straßenwochen, / bald diesen Stadtbann aufgebrochen / und ziehe hin, wo Ströme durch die Ewig-Erde pochen, / ziehe selig in die Welt!“

Leider lässt sich nicht sagen, wohin sich der frühverstorbene Dichter entwickelt hätte. Doch eines lässt sich gewiss sagen: Er ist zu Unrecht dem Vergessen anheim gefallen.

Das Bild ist von der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch

Samstag, 5. Oktober 2019

Victor Hadwiger: Bewegter Wald, Erich Mühsam: Erinnerungen an Victor Hadwiger



Bewegter Wald

Wie eine große Welle ist der Wald
Und wie das Ringen weiter Seligkeiten
Der Sturm. - -
Dann laß die Schatten meiner Seele untertauchen,
Und mich ins Herz der Erde horchen
Wenn meine Zeit kein Pendel mehr zerreißt -
Und horchen und suchen
Die Spur der Ausgangslosen.

Ein langes, langes Beten wird mein Leben,
Ein Schauen, ein Schauern wird es,
Und endlich kalt und groß
Und dunkel wie der Wald.
Was heiß und licht in meiner Seele war
Ich gabs dem Sturme
Was heiß und licht und sündig
Es rauscht, es rauscht,
Die Augen meiner Seele sehen
Den fernen Zug.
Wie eine Schaar von Wandervögeln
Wie ein beredtes Heer von tausend Drosseln
Aufsteigt aus dem Wacholderhain! -
Euch meine besten Sünden gab ich hin,
Dort - dort - und weiter, weiter -
Sie fliegen um den Mond
Den hellen Hof entlang
Vorbei, vorbei - -
Dort wohnt der liebe Gott. -
Ein langes, banges Beten war mein Leben
Ich hör das Herz der Erde pochen.
"Und gieb mir nur das Eine
Vergieb mir nichts,
Laß dort mein Angedenken weiterrauschen
Die braunen Wandervögel." -
Fühl ich es nicht, wie blaß und braun durchs Nebelmeer
Die weichen Flocken fallen, -
Und Flügelchen um Flügelchen. - - -

Das Herz der Erde pocht
Der Wald ist kalt und groß
Und stumm und schrecklich,
Wie eine schwarze Woge in den Himmel
Greift, gräbt der Wald -
Der Wald rächt mich.

Aus: Die Aktion Zeitschrift für freiheitliche Politik und Literatur
Herausgegeben von Franz Pfemfert
Nr. 21 Jahrgang 1911

Aus Erich Mühsam „Unpolitische Erinnerungen“ über Victor Hadwiger (1878 - 1911): Meiner Wirtin muß wohl die Boheme-Atmosphäre, die ich in ihre Wohnung gebracht hatte, sehr zugesagt haben. Denn eines Tages berichtete sie mir, daß der Herr, der die beiden kleineren Zimmer auf der anderen Seite des Korridors bewohne, ausziehe; es wäre ihr recht, wenn einer meiner Freunde sie nähme. Ich hatte gerade wieder einen Schlafburschen zu beherbergen. Das war der Prager Lyriker Viktor Hadwiger, der plötzlich im »Café des Westens« aufgetaucht war und mir dort eine Empfehlung, ich glaube von Hugo Salus, überbrachte. Ein großer, schwerer Mensch, dem die ungeordneten blonden Haarsträhnen und der kräftige Knebelbart ein ziemlich wildes Aussehen gaben, das, zumal in Verbindung mit seinem äußerst robusten Auftreten, die tiefe Bildschönheit seiner Verse nicht ahnen ließ. Der wurde also jetzt mein Zimmernachbar, und ich wurde der ständige Zeuge seiner Maßlosigkeiten. Hadwiger war maßlos in allem: im Trinken, Rauchen und Fluchen, im Überschwang der Glückseligkeit und im Weltschmerz. Hatte er kein Geld, um Tabak oder Schnaps zu kaufen, war er bei einer Frau abgefahren, ärgerte er sich über irgendwas, dann konnte er mörderisch schimpfen; ich habe keinen anderen Menschen getroffen, dem in der Wut eine solche Sturzflut haarsträubendster Unflätigkeiten zur Verfügung stand. War ihm aber etwas zum Guten ausgegangen, hatte er unerwartet Geld bekommen, war ihm ein Gedicht gelungen, hatte sich ein Mädchen von ihm küssen lassen, dann leuchteten seine großen, hellblauen Augen, seine Stimme wurde weich und schmeichelnd, und man spürte ein inneres Tanzen in dem mächtigen Körper des Mannes. Mehrmals weckte mich Hadwiger in der Nacht auf, kam polternd in Unterhosen in mein Zimmer herüber und wollte wissen, ob mir ein Vers gefalle oder ob ich diese oder jene Wortverbindung in einem Gedicht für zulässig halte. Oder er brachte ein eben fertig gewordenes Gedicht, erklärte es in unbändiger Begeisterung als das beste, das ihm je gelungen sei, und trug es mit Bärenstimme vor. Ich hielt so viel von Hadwigers dichterischer Begabung, daß ich ihm einen Abend im Peter-Hille-Kabarett zur Vorlesung verschaffte, bei dem ich in einleitenden Worten die Überzeugung aussprach, hier wachse das lyrische Talent der Zukunft heran. Viktor Hadwiger ist 1911 mit dreiunddreißig Jahren gestorben. Außer dem 1903 erschienenen Versband Ich bin und wenigen Novellen ist meines Wissens zu seinen Lebzeiten kein Buch von ihm gedruckt worden. Nach seinem Tode gab Dr. Anselm Ruest ein ganz kleines Bändchen ausgewählter Gedichte heraus, das unter dem Titel Wenn unter uns ein Wanderer ist bei Alfred Richard Meyer verlegt wurde. Auf dem Umschlag des Heftes, sprechend ähnlich und psychologisch glänzend erfasst, steht, von John Höxter gezeichnet, der Kopf des Dichters.

Freitag, 27. September 2019

Marie Madeleine: Ich war so wild. . . / Im Vorübergehn



                                                                  Ich bin so jung, und ich bin so heiß,
                                                                  und ich sehne mich nach der einen Nacht.
                                                                  Ich werde kommen auf dein Geheiß,
                                                                  o du! Und wie ich zu hassen weiß - - -
                                                                  Nimm dich in Acht!


Ich war so wild und hab' so viel geküsst
und wusste doch nicht, was die Liebe ist.

Und seit mein Mund auf deinen Lippen lag,
bist meine Sehnsucht du bei Nacht und Tag.

Ich liebe deiner Stimme müden Ton;
mir ist, ich suchte dich so lange schon.

Mir ist, ich suchte dich mein Leben lang
wie eines Liedes halbvergess'nen Klang,

Der sehnsuchtsvoll durch meine Seele bebt,
ein Leben kündend, das ich einst gelebt.

Aus: Auf Kypros Von Marie-Madeleine, Est-Est-Verlag Berlin-Charlottenburg


Im Vorübergehn

Ich kann Dir nicht Glück noch Liebe geben,
Aber mit tödlich sicherer Hand
Schleud're ich einen Fackenbrand
Lodernd hinein in Dein stilles Leben.

Einen Fackelbrand, einen flackernden Schimmer, -
Ich kann Dir nicht Ernten noch Früchte bieten;
Nur eine Handvoll Frühlingsblüten
Werf' ich Dir lachend hinein in's Zimmer.

Ich geige Dir keinen Festgesang
Auf meiner Seele zitternder Fiedel, -
Nur ein leichsinniges Walzerliedel, - -
Und vergiß nicht, Schatz, wie süß das klang! –

Aus: Marie Madeleine - In Seligkeit und Sünde, Continent Verlag, Berlin 1905

Marie Madeleine wurde am 4. April 1881 in Eydtkuhnen, Ostpreußen, als Marie Madeleine Günther geboren; später wurde sie durch Heirat Baronin von Puttkamer, sie starb am 27. September 1944. Bekannt wurde sie durch die Sammlung erotischer Lyrik Auf Kypros (1900).

1900 bis 1932 blieb keines der Bücher von Marie Madeleine, unter einer Auflage von 10.000 Exemplaren. Wahrscheinlich trugen Verrisse dieser Art nicht unwesentlich zu dem Erfolg bei: "Die schamlose Lyrik der perversen Verse der Marie Madeleine… als wenn echte Scham nur ein leider angezüchtetes, nicht ursprüngliches Gefühl der Weibesnatur wäre, so erzählt ihre geile, wüste, überhitzte Pubertätserotik…" (Albert Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit)

Ernst Wilhelm Lotz: Keine Sterne / Hart stoßen sich die Wände an den Straßen. . .




Keine Sterne

Die Straße dehnt sich lang in rote Ferne.
Die Lampen glühen prall das Pflaster an.
Ich blick hinauf. Sehr dringend. Doch die Sterne
Sind lichtverwischt und zeigen sich nicht an.

Das macht mich traurig in der lauten Gassen.
Doch ich bin jung und gräme mich nicht gern.
Ich schau umher. Und finde lauter blasse,
Totmatte Augen. Keinen Augenstern.

Entmutigt lasse ich mich von dem Strome treiben
Die Hände tief in Taschen durch die Stadt.
Und weiß, ich werde heute Verse schreiben.
Verhängt wie Sterne und wie Augen matt.


Hart stoßen sich die Wände in den Straßen ...

Hart stoßen sich die Wände in den Straßen,
Vom Licht gezerrt, das auf das Pflaster keucht,
Und Kaffeehäuser schweben im Geleucht
Der Scheiben, hoch gefüllt mit wiehernden Grimassen.

Wir sind nach Süden krank, nach Fernen, Wind,
Nach Wäldern, fremd von ungekühlten Lüsten,
Und Wüstengürteln, die voll Sommer sind,
Nach weißen Meeren, brodelnd an besonnte Küsten.

Wir sind nach Frauen krank, nach Fleisch und Poren,
Es müssten Pantherinnen sein, gefährlich zart,
In einem wild gekochten Fieberland geboren.
Wir sind versehnt nach Reizen unbekannter Art.

Wir sind nach Dingen krank, die wir nicht kennen.
Wir sind sehr jung. Und fiebern noch nach Welt.
Wir leuchten leise. – Doch wir könnten brennen.
Wir suchen immer Wind, der uns zu Flammen schwellt.


Aus: Wolkenüberflaggt, Gedichte, in der Reihe Der jüngste Tag, Band 36, Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1917




Ernst Wilhelm Lotz, geboren am 6. Februar 1890 in Culm an der Weichsel, Westpreußen; er fiel als Kriegsfreiwilliger am 26. September 1914 bei Bouconville, Frankreich. Er war Lyriker und Übersetzer, unter anderem übersetzte er Gedichte von Arthur Rimbaud und Paul Verlaine.

Donnerstag, 26. September 2019

Richard Beer-Hofmann: Schlaflied für Mirjam



Schlaflied für Mirjam

Schlaf mein Kind, schlaf, es ist spät -
Sieh wie die Sonne zur Ruhe dort geht.
Hinter den Bergen stirbt sie in Rot.
Du weißt nicht von Sonne und Tod.
Wendest die Augen zum Licht und zum Schein.
Schlaf, es sind so viel Sonnen noch dein.
Schlaf mein Kind, mein Kind schlaf ein.

Schlaf mein Kind, der Abendwind weht.
Weiß man woher er kommt, wohin er geht?
Dunkel verborgen die Wege hier sind
Dir und auch mir und uns allen mein Kind.
Blinde so gehn wir und gehen allein.
Keiner kann keinem Gefährte hier sein.
Schlaf mein Kind, mein Kind schlaf ein.

Schlaf mein Kind, und horch nicht auf mich.
Sinn hats für mich nur und Schall ists für dich.
Schall nur wie Windes wehn, Wassergerinn,
Worte vielleicht eines Lebens Gewinn!
Was ich gewonnen, gräbt man mit mir ein.
Keiner kann keinem ein Erbe hier sein.
Schlaf mein Kind, mein Kind schlaf ein.

Schläfst du Mirjam, Mirjam mein Kind?
Ufer nur sind wir und tief in uns rinnt
Blut von Gewesenen, zu Kommenden rollts.
Blut unsrer Väter voll Unruh und Stolz.
In uns sind alle, wer fühlt sich allein?
Du bist ihr Leben, ihr Leben ist dein.
Mirjam mein Leben, mein Kind, schlaf ein.

Aus: An den Wind geschrieben - Lyrik der Freiheit 1933 – 1945 Herausgegeben von Manfred Schlösser, dtv 1962

Richard Beer-Hofmann, geboren am 11. Juli 1866 in Wien; gestorben am 26. September 1945 im Exil in New York, Romancier, Dramatiker, Lyriker.

Durch seine jüdische Abstammung war Richard Beer-Hofmann seit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 aktiv bedroht. Erst am 19. August 1939 gelang ihm die Emigration, zunächst in die Schweiz nach Zürich, schließlich nach New York. 1945 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er verstarb noch im selben Jahr.


Das Foto zeigt Mirjam Beer-Hofmann im Jahre 1899

Montag, 23. September 2019

Friedrich Hölderlin: Der Herbst, Gedichte aus dem Turm



Der Herbst

Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen,
Wo sich der Tag mit vielen Freuden endet,
Es ist das Jahr, das sich mit Pracht vollendet,
Wo Früchte sich mit frohem Glanz vereinen.

Das Erdenrund ist so geschmückt, und selten lärmet
Der Schall durchs offne Feld, die Sonne wärmet
Den Tag des Herbstes mild, die Felder stehen
Als eine Aussicht weit, die Lüfte wehen

Die Zweig und Äste durch mit frohem Rauschen,
Wenn schon mit Leere sich die Felder dann vertauschen,
Der ganze Sinn des hellen Bildes lebet
Als wie ein Bild, das goldne Pracht umschwebet.


Der Herbst

Die Sagen, die der Erde sich entfernen,
Vom Geiste, der gewesen ist und wiederkehret,
Sie kehren zu der Menschheit sich, und vieles lernen
Wir aus der Zeit, die eilends sich verzehret.

Die Bilder der Vergangenheit sind nicht verlassen
Von der Natur, als wie die Tag' verblassen
Im hohen Sommer, kehrt der Herbst zur Erde nieder,
Der Geist der Schauer findet sich am Himmel wieder.

In kurzer Zeit hat vieles sich geendet,
Der Landmann, der am Pfluge sich gezeiget,
Er siehet, wie das Jahr sich frohem Ende neiget,
In solchen Bildern ist des Menschen Tag vollendet.

Der Erde Rund mit Felsen ausgezieret
Ist wie die Wolke nicht, die abends sich verlieret,
Es zeiget sich mit einem goldnen Tage,
Und die Vollkommenheit ist ohne Klage.


Friedrich Hölderlin (1770 - 1834), Gedichte aus dem Turm, in dem er seit 1807 lebte.

Dienstag, 17. September 2019

Hugo Ball: Wenn je ich still. . . / Rotes Kreuz

Hugo Ball (1916)


                                                                »Ich bin gegangen nach allen Seiten
                                                                 Und jeder Weg war weiß verschneit
                                                                 Es wurden Wüsten meine Weiten
                                                                 Und Wunder jede Einsamkeit …«



Wenn je ich still und ganz mich zu Dir kehre,
Dann mußt Du groß und schweigend mich empfangen
Aus irrer Dunkelheit kam ich gegangen,
Besorgt, daß ich Dein lichtes Bild verzehre.

Wenn ich zu forschen lächelnd Dir verwehre,
Nach Lust und Leid, die doch auch mir erklangen,
Nach Stern und Freund, die mir am Wege sangen,
So wisse, daß ich tiefer Dir gehöre …

Nur eines war's, das mich bewegte
Hervorzugehn aus jedem Ungemach,
Das eine nur, das fiebernd mich erregte,

Und das mich schützte, daß ich nicht erlag:
Der Kindesglanz in Deinem Seelengrunde …
Noch einmal trinken mit berauschtem Munde …


Rotes Kreuz

Wie sind doch diese Stunden weh und krank,
Sogar die Amseln in den Zweigen klagens.
Der Park hat die Gebärde stummen Tragens,
Die Blätter rauschen leise: Gruß und Dank …
Jetzt gehn die Sterne silbern ihren Gang,
Bis zu der Stunde mildesten Versagens.
Oh, Labsal fern und nahen Glockenschlagens,
Bald kehrt die Mutter wieder, licht und schlank.
Wie ist doch eine Welt so bald versunken,
In Gottes Hand zurück, aus der sie kam.
Kaum haben wir dem Morgen zugewunken
Ist schon der Abend da, der alles nahm.
Du sendest Herr, uns aus wie Frühlingslieder.
Erhöre uns, wir klingen wieder …


Aus: Emmy Ball-Hennings „Hugo Ball - Sein Leben in Briefen und Gedichten“, Mit einem Vorwort von Hermann Hesse, S. Fischer Verlag, Berlin 1930

Hugo Ball (*22. 2. 1886 ; † 14. 9. 1927), als Dada zum Dadaismus wurde, wandte er sich mit Emmy Hennings anderen Gefilden zu. . .


Adolf Unger: Bekenntnis / Gurs



Bekenntnis

Ich, Sohn einer Analphabetin,
Sohn eines Schuhmachers,
Unbekannter Sänger,
Singe mir selbst dieses Lied.
Aus tiefster innerer Seele
Strömt es heftig hervor,
Und ich greife zur Feder
Und setze Sinn um Sinn.
Denn viel hab ich zu sagen:
Mein eigener Inkassant ich bin;
Ich rase durch die Straßen meiner Empfindungen
Und was ich fordere
Ist heiligstes Bekennen.

Adolf Unger, geboren am 11. Juni 1904 in Wien; starb am 13. September 1942 im KZ Auschwitz, er war ein österreichischer Arbeiterdichter.

Mit seiner Familie verließ Unger im März 1938 Österreich und ging nach Belgien. Am 10. Mai 1940, dem Tag des Einmarsches deutscher Truppen in Belgien, wurde die Familie Unger verhaftet und von den Belgiern nach Frankreich abgeschoben. Dort wurden sie in mehrere Lager eingewiesen, wie Camp de Gurs, Rivesaltes und Mont Louis. Vom Sammellager Drancy aus wurden Unger und seine Frau in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in der Gaskammer ermordet wurden.


Gurs

Sie liegen wie Klötze aus Schlamm,
Auf Säcken mit Stroh gefüllt.
Gegen ihr Leid ist kein Damm
Gebaut, Not wird nicht gestillt.
Sie hoffen und beten nicht mehr.
So liegen und warten sie auch.
Ihr Leben ist schal und leer,
Ein Nichts, ein Hauch,
Manchmal schrecken sie auf,
Gedrückt vom Alp der Nacht.
So liegen sie da zu Hauf.
Was hat man aus ihnen gemacht.

Mittwoch, 11. September 2019

Kurt Schwitters: Die Nixe

John William Waterhouse (1849 - 1917) A Mermaid




Die Nixe

Ballade

Es war einmal ein Mann, der gung
In eines Flusses Niederung.
Der Tanz der grünlich krausen Wellen
Tat seines Geistes Licht erhellen.

Am Ufer gluckste es so hohl,
Wohl einmol, zwomol, hundertmol;
Und auf des Flusses Busen brannte
Ein Glanz, den jener Mann nicht kannte.

Da dachte jener klug und schlicht:
„Ich weiß nicht, doch da stimmt was nicht!“
Und guckte ohne auszusetzten
Auf die verwunschnen Wellenfetzen.

Auf einmal gab es einen Ton,
Und aus dem Wasser hob sich schon
Mit infernalischem Geflimmer
Ein blondes, nacktes Frauenzimmer.

Die hatte irgendwo
Den Schwanz, gewachsen am Popo;
Dagegen fehlten ihr die Beine
Das Mädchen hatte eben Keine.

Sie steckte sich in ihr Gesicht
Ein Lächeln, das ins Herze sticht
Und stützte lockend ihre Hände
Auf ihres Schwanzes Silberlende.

Dem Mann am Ufer wurde schwach;
Er dachte: „Oh“, und dachte: „Ach!“
Und ohne groß sich zu bedenken,
Wollt er ihr die Liebe schenken.

Dem Mädchen in der Niederung
War seine Liebe nicht genung;
Sie winkte, statt sich zu erbarmen,
Dem Mann mit ihren beiden Armen.

Da bebberte der arme Mann,
Wie nur ein Starker bebbern kann;
Und senkte sich mit einem Sprung
Hinunter in die Niederung.

Da sitzt er nun und hat den Arm
Gebogen um der Nixe Charme;
Und wenn ein andrer kommt gegangen,
So wird er ebenso gefangen.


Kurt Schwitters, geboren am 20. Juni 1887 in Hannover; gestorben am 8. Januar 1948 in Kendal, Cumbria, England; Dichter, Grafiker, Dadaist. Das Gedicht "Die Nixe" ist auf 1942 datiert. "Ich bin frei wie ein Vogel im Wasser" schrieb er zu dieser Zeit an einen Freund. 

"Unsterblichkeit ist nicht jedermanns Sache" (Kurt Schwitters)

Dienstag, 10. September 2019

Maximilian Bern: Wetterleuchten / Vagantenlied



Wetterleuchten

Zerrissene Wolken schimmern hell;
Matt funkeln vereinzelte Sterne.
Ein Wetterleuchten, feuergrell,
Zuckt auf in dämmernder Ferne.

Die flammende Unrast, abends spät
Von der Tagesschwüle geboren,
Dies Lenzgewitter, das rasch vergeht,
Im Grenzenlosen verloren:

Gemahnt an deine Liebe mich,
Die einst in heißen Stunden
So blendend kam, so jäh verblich
Und längst in Nacht entschwunden.

Maximilian Bern, ursprünglich Bernstein, geboren am 13. November 1849 in Cherson, Russisches Kaiserreich; starb am 10. September 1923 in Berlin.

Ab 1875 war er freier Schriftsteller. Er „verstummte als Dichter bald und beschränkte sich in der Folge auf die Herausgabe von Anthologien und Deklamatorien“ (Arthur Schnitzler).

Im September 1923, zur Zeit der Hyperinflation, hob er in Berlin seine gesamten Ersparnisse von über 100.000 Mark, die er ein Leben lang zurückgelegt hatte, von seinem Konto ab um damit genau einen U-Bahn-Fahrschein zu bezahlen. Er machte noch eine letzte Fahrt durch Berlin, um danach in seine Wohnung zurückzukehren, wo er verhungerte.


Vagantenlied

Nun ist mir alles einerlei,
Geht es empor, geht’s abwärts wieder:
Und geht es gar nicht, streck’ ich mich
An Strassenrand zum Sterben nieder.

Der Morgen findet mich dann tot
Wie manchen Vogel auf der Halde,
Wie manches Wild, gestorben nachts
Vereinsamt, hilflos, tief im Walde.

Und streift der erste Frührotschein
Die Wangen mir, die leichenfahlen,
Dann schimmern sie, als freut’ ich mich,
Erlöst zu sein von meinen Qualen.

Aus: „Die zehnte Muse - Dichtungen vom Brettl und fürs Brettl“, herausgegeben von Maximilian Bern, Berlin 1904

Montag, 9. September 2019

Alfred Grünewald: Trennung nach erstem Besuch / Geheimnis / Sakrament vom Schnee



Trennung nach erstem Besuch

Kann es denn sein, daß ich dich wiedersehe?!
Dies Zimmer war verzaubert. Deine Nähe

gab leise Glorie jedem Ding und war
schon fast Erinnerung. Dein helles Haar

berührte diese Kissen. Fänd ich doch
die Schmiegung deines schönen Hauptes noch!

Dies Glas, das eingereiht im Schranke steht,
du trankst daraus. Welch heiliges Gerät!

Du hieltest dieses Buch in deinen Händen.
Nur zitternd kann ich seine Seiten wenden.

Durch jene Türe tratst du schüchtern ein.
Der Spiegel fing dein Bild. O blieb' es mein!

Dort saßest du und dort. - Ich fass' es kaum:
Altäre standen im vertrauten Raum.

Geheimnis

Als sie mich fragten, woher ich kam,
verriet ich keinem, von dir.

Und als sie mir sagten: "Du glühst wie in Scham!",
kühlt' ich die Wangen mir.

Und als sie staunten: "Was macht dich so froh?",
tat ich dem Lächeln Gewalt.

Doch als sie raunten: "Was zitterst du so?",
sprach ich: "Die Nacht kommt bald."


Sakrament vom Schnee

Laß in dein Narrenherz den Winter ein.
In Gärten schwärmtest du mit Ungestümen
und wolltest lächelnd deine Blumen rühmen.
Da ließ der andern Lachen dich allein.

Doch oft im Dunkel wuchs aus deiner Pein
ein großer Glanz und lag auf allen Beeten.
Und plötzlich sahst du Wege, nie betreten,
und Garten, Nacht und Himmel waren dein.

Aus solchen Nächten aber hob die Frühe
sich drohend auf und sog an deiner Kraft.
Und matter wurde deiner Wünsche Spiel.

Laß Winter sein und sprich zu Schnee: Erblühe!
Der Lenz war nur unsel'ge Wanderschaft.
Lösch aus dein Herz. Schon schimmert dir das Ziel.

 Aus: Alfred Grünewald „Lass meine Seele dir Heimat sein“, Wien, Verlag Jungbrunnen 1990.Eine Auswahl

Alfred Grünewald wurde am 17. März 1884 in Wien geboren. Nach den Novemberpogromen 1938 wurde er am 14. November 1938 in das KZ Dachau verbracht, im Januar 1939 wurde er wieder entlassen. Er floh über die Schweiz nach Südfrankreich, nach Kriegsausbruch wurde er in der Fort-Carré in Antibes und im Lager Les Milles interniert, bis Herbst 1942 lebte er in Nizza. Dort wurde er von der Polizei des Vichy-Regimes festgenommen und an die SS ausgeliefert. In Auschwitz wurde er am 9. September 1942 ermordet.

Sonntag, 8. September 2019

Hugo Ball: Totenrede für Hans Leybold / Hans Leybold: O über allen Wolkenfahnen. . .


Hugo Ball: Totenrede für Hans Leybold

(April 1915)

Hans Leybold — ich muß ihn ja gekannt haben! Wir führten an den Kammerspielen in München zusammen Hauptmanns »Helios« auf. Er war ein Student. Er machte mich mit der »Aktion« bekannt. Er negierte mein Gesäß. Er reizte mich maßlos.

Wir fanden einen kleinen Verlag in München. Der hieß Bachmair, H. F. S. X. Y. Bachmair. Anlaß vielen Gelächters für uns. Sprach Leybold: »Lasset uns eine Zeitschrift gründen!« Die hießen wir »Revolution«. Als die Zeitschrift gegründet war, verlangten die Abonnenten ein Programm. Leybold sprach: »Wohlan denn, Ihr —, wennschon immerhin: Hier habet ihr ein Programm«. Und schrieb: »Kampf gegen Seiendes, für Keimendes. Gegen Kunstportiere, Kulturportiere, Avenariusse, Scharrelmänner, Obskuranten, Schwärzlinge, Hertlinge, Hohlwege, Panteutschisten, Stagnaten, Kastraten. Gegen literaturbehaftete Oberlehrer, kunstsinnige Kritiker, allgemeine Rundschauer. In Summa: Gegen Zuständliches«. Und fügte hinzu: »Nichtschriftsteller heraus! Keine Literaten sollen gezüchtet werden«. Da hatte man denn die Revolution! Da war sie. 20 Jahre alt war der Kerl. Sehr hurtig. Und paffte einfach drauf los.

Sprach jemand in Berlin: »Was ist das für eine Revolution, die ihr da macht in München! Da steht ja kein Satz Politik drin!« »Richtig«, sprach Leybold, »da steht kein Satz Politik drin. Was soll man tun?« 5 Minuten später waren wir konfisziert mit Nummer I.

»Holla«, sagte ich zu ihm, »da steht nur kein Sozialismus, keine Altersfürsorge, kein Mutterheim, kein Rotes Kreuz drin. Und auch die Rosa Luxemburg wird nicht mitarbeiten. Noch Frau Zetkin«. »Aaber: Politik, zum Donnerwetter, Politik«, sprachen wir zweistimmig, »ist das etwas anderes als die Lehre von den Mitteln, mit denen man sich selbst oder eine Idee durchsetzt? Und wenn unsere Idee — na, sagen wir schon — ›der Geist‹ ist, ist es vielleicht unsere Politik, daß wir ›den Geist‹ durchsetzen?« Unter Geist verstanden wir aber alles, was gegen das Gesäß, gegen die Verdauung und gegen das Finanzherz gerichtet ist. Jeglichen Fanatismus im Gegensatz zu jeglichem Traum- und Innenleben. Jegliche Anarchie im Gegensatz zu jeglichem Bonzentum (sei's, wer's sei). Wir versuchten, das überlegene geistige Kaliber in unsere Hand zu bekommen und es spielen zu lassen. Wir suchten jede Handlung, jedes Unternehmen, jede Zeile Geschriebenes nur im Zusammenhang mit unserer Endabsicht zu ästimieren, für Komplexe empfindlicher als für Äußerungen. Für Wandlungen dankbarer als für »Charakter«. Unser Ziel aber hieß: Geistige Konspiration zwecks Ermöglichung geistiger Werte.

Inzwischen verspritzten wir Glossen und Gedichte, nach allen Seiten. »Die Revolution« verkrachte nach 5 Nummern. Leybold wurde nacheinander Mitarbeiter des »März«, des »Vorwärts«, der »Aktion«, der »Zeit im Bild«, der »Tat«.

Das Bedeutsamste, was er in dieser Zeit schrieb, scheint mir eine Glosse in »Zeit im Bild« gewesen zu sein. Dort vertrat er die Ansicht: »Es muß (in diesem Volk) immer etwas los sein. Immer etwas knallen, passieren. Immer wer angezaubert werden. Laut erhebet eure Stimmen, lauter, lauter. Der Zweck heiligt die Mittel«. Ein richtiger Jesuit, was? »Die Stillen im Lande«, meinte er, »werden nicht gehört«. Er meinte damit solche Herren Hermann Stehr, Gustav Landauer, Paul Boldt und andere.

Und es begab sich, daß uns der Einfall kam, Franz Blei zu propagieren. Wir fanden das sehr witzig. Blei hatte immer propagiert. Warum sollte er nicht selbst einmal propagiert werden? Also spielte er die Uraufführung seiner »Welle« in den Münchener Kammerspielen. Leybold programmatelte. Seewald inszenierte. Ich zeichnete verantwortlich. Wir bewarben uns um eine Theater-Direktion in Dresden. Wir versuchten das Münchener Künstlertheater in unsere Hand zu bekommen (wohl wissend, daß das Theater der springende Punkt ist). Wir planten eine internationale Anthologie von Lyrik. »Teufel, Teufel«, sagte Leybold, setzte sich in die Eisenbahn und fuhr nach Kiel.

Wir entspannen einen heftigen Briefwechsel. Er warb um mich, vorsichtig und höflich, wie um eine obszöne Frau. Wir erkannten einander und setzten ein Psychofakt in die Welt, das wir Baley nannten und das den Zweck hatte, Posen, Gesten, Vexationen zu kultivieren. Arrogant zu sein wie — wie Einstein.

Ich befreundete mich mit Kandinsky und ging zum Expressionismus über. Er seinerseits empfahl mir Heinrich Manns »Professor Unrat« zur Lektüre. Ich schrieb ihm:

»Wir, Bruder, toben mit den grellen Bumerangs, Trompetenbäume schrillen in Cis-Moll.
Wir schnellen durch die Luft gleich Fetzen grünen Tangs,
Blutäugig fliegende Fische voller Haß und Groll.«

Ich suchte ihn von Heinrich Mann und seiner Begeisterung für die Sachlichkeit abzubringen.
In demselben Moment erklärte Kaiser Wilhelm, daß das mit den Franzosen und Russen so nicht weitergehen könne. Und Leybold schwenkte auch die Fahne und blies auch ins Hifthorn und machte auch den Krieg mit Frankreich. Mir persönlich ist ja der Krieg unsympathisch, denn es ist eine Rigorosität, daß Leute wie Pèguy erschossen werden. Aber man kann nichts machen. Denn der Krieg ist eine Notwendigkeit Gottes. Dazu kam, daß Leybold eine Sympathie hatte für Kanonenrohre, weil sie ihn mit Freudschen Theorien erfüllten.

Doch hiervon genug. Sie werden wissen wollen, was dieser geniale junge Mann positiv geleistet hat. Nun denn! Er starb auf dem Felde der Ehre (viele Russen sterben anderswo). Er hat eine Zeitschrift gegründet, die einen sehr bedeutungsvollen Namen hat. Er pöbelte gegen Otto Ernst, gegen die Epigonen des Turnvaters Jahn, gegen Roda Roda, Feistritz, Walter Kollo und viele andere. Was an sich nichts bedeutet. Aber er faßte diese Insekten in Kristall, putzte sie auf, hing ihnen Schellen und Lendenschürze um, so daß mit der Zeit eine recht niedliche Negertruppe daraus geworden wäre.

Sodann: Er tat furchtbar viele Frauen auf: bei ihm eine Form der Propagierung des öffentlichen Lebens. Glich sich dadurch Ulrich von Hutten an. Dichtete:

Unglaublich viele schöne Frauen gibt es in der Stadt,
Sie haben blaßgepuderte Wangen und ziegelrote Münder,
Sie sind teils kränklich, teils gesünder,
Manche quellen über, manche werden niemals satt.

Er fiel Athleten an, Kunstturner, Studenten, Cafétiers und stiftete auf diese Weise eine Art abgekürzter Polemik. Er hielt es für ganz unwichtig, Literatur zu machen, und für sehr schwer, ein deutscher Schriftsteller zu werden, weil das eine contradictio in adjecto sei.
Aber das alles half ihm nichts. Eines Tages, mitten im Krieg, stürzte er vom Pferd, vor der Stadt Namur, kam zurück nach Berlin, pflanzte einen Vollbart ins Café des Westens und begab sich in seine Garnison Itzehoe, von wo er depeschieren ließ, er sei mit dem Tode abgegangen.

Es ist unerhört und scheußlich, daß dieser junge Mann aus dem Kriege nur die physische Konsequenz ziehen mußte, während die geistige ihm versagt blieb. Er ging ein (literarisch gesprochen). Er verendete (literarisch gesprochen). Er starb in irgendeiner Ecke, ohne einen Laut, und ohne daß er noch jemand gesprochen hätte. Fürs Vaterland. Aber er wollte hinaus aus dem Vaterland. Immer. Nur hinaus aus dem Vaterland. Mangel an Vaterland war direkt ein Defekt bei ihm. So war er geartet.

Ich sehe ihn vor mir, unbändig lachend. »Menschenskind, eine Totenrede?« Schon klemmt er das Monokel ins Auge, gibt seinem Körper einen Ruck und sistiert die Vorstellung. Oder auf der Straße: Er trägt einen blauen Mantel, geht mit verkniffenen, breitgeschwungenen Augenbrauen nach dem Tempo einer Automobilhupe und spuckt. »Alter Bulle«, sage ich zu ihm, »wir werden noch manchen Kampf miteinander zu kämpfen haben.« »Woll, woll«, sagt er, im raschen Gehen auf der Straße, während der Mantel fliegt.

Widersprechen Sie nicht! Kaufen Sie seine nachgelassenen Glossen und Gedichte, die ich herausgeben werde. Er ist hin. Es muß ihm sehr schwer gefallen sein, wie ich ihn kenne. Aber es ist nichts zu machen. Gedenken Sie seiner! Haben Sie Mitleid! Seien Sie freundlich! Sie alle haben seinen Tod mitverschuldet. Alle, wie Sie auch hier unten sitzen. Möge Ihnen sein Name einfallen, wenn Sie Ihre Kinder säugen!

Ich habe dem nichts hinzuzufügen. 

O über allen Wolkenfahnen . . .

O über allen Wolkenfahnen,
die windgetrieben sich in Bläue krallen,
stehen unverrückbar Sonnen, welche niemals fallen.
wir schwingen uns bewegt in ihre Bahnen,

sind selber Nebel und bestrahlte Dämpfe.
Verdrängen wir die nächt’gen Schatten
der Erdendinge! Lassen alle nimmersatten
Begierden. Gelöst sind alle Krämpfe,

die hart die Glieder engten.
Wir werden Äther, Luft und Wellen.
Oh, aus unsern Leibern strömen Quellen,
spritzend in das ungewohnte Licht! Wir schenkten

uns dem All! Es hat uns königlich empfangen.
Mit Sturmtrompeten und mit Regenwehen.
Wie unsre Füße über Sonnenbrücken gehen!
In unsrer Hände Kelch hat sich ein Tropfen Gold gefangen.

Hans Leybold wurde am 2. April 1892 in Frankfurt am Main geboren. Er wurde zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 eingezogen und schon bald vor Namur (Belgien)  schwer verwundet. Drei Tage nach seiner Rückkehr zum Regiment erschoss er sich in der Nacht vom 7. zum 8. September.