Donnerstag, 28. März 2024

Sophie Friederike Brentano: An einem Baum am Spalier

 



An einen Baum am Spalier

Armer Baum! - an deiner kalten Mauer
festgebunden, stehst du traurig da,
fühlest kaum den Zephyr, der mit süßem Schauer
in den Blättern freier Bäume weilt
und bey deinen leicht vorübereilt.
O! dein Anblick geht mir nah!
und die bilderreiche Phantasie
stellt mit ihrer flüchtigen Magie
eine menschliche Gestalt schnell vor mich hin,
die, auf ewig von dem freien Sinn
der Natur entfernt, ein fremder Drang
auch wie dich in steife Formen zwang.

Sophie Friederike Brentano, geboren am 27. 3. 1770 als Sophie Schubart, gestorben 31. 10. 1806

Obwohl Sophie Schubart gegenüber der Ehe große Vorbehalte empfand, heiratete sie 1793 aus ökonomischen Gründen den Jenaer Bibliothekar und Juraprofessor Friedrich Ernst Carl Mereau.

Die Mereaus lebten in Jena, wo Sophie Mereau durch die Vermittlung ihres Ehemannes Friedrich Schiller kennenlernte. 1791 veröffentlichte sie erste Gedichte in Schillers Thalia. Im Hause der Mereaus verkehrten neben Schiller auch Jean Paul, Johann Gottfried Herder, Friedrich und Ludwig Tieck, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schelling sowie August Wilhelm, Friedrich und Dorothea Schlegel.

Schiller erkannte ihr Talent, auch wenn er ihr aufgrund ihres Geschlechts nicht zugestand, tatsächlich Kunst zu schaffen („Ich muß mich doch wirklich darüber wundern, wie unsere Weiber jetzt, auf bloß dilettantischem Wege, eine gewisse Schreibgeschicklichkeit sich zu verschaffen wissen, die der Kunst nahe kommt.“). Er förderte sie, indem er ihre Gedichte in seiner Zeitschrift Die Horen und in seinem Musenalmanach abdruckte.

Nach dem Tod ihres sechsjährigen Sohnes Gustav im Jahr 1800 lebte sie getrennt von ihrem Mann und ließ sich 1801 im Herzogtum Sachsen-Weimar scheiden. Gemeinhin gilt dies als die erste von einer Frau initiierte Scheidung im Herzogtum.

Gemeinsam mit ihrer Tochter, die ihr Mereau unüblicherweise überließ, baute sie sich in Camburg ein neues Leben auf. Sie konnte von ihrer literarischen Tätigkeit leben, so dass sie finanziell unabhängig war. Als sie von Clemens Brentano schwanger wurde, heiratete sie ihn im Jahr 1803. Durch Brentanos Eifersucht und besitzergreifende Art fühlte sie sich eine Zeit lang eingeschränkt. Einer Freundin schrieb Mereau, das Zusammenleben mit Brentano enthalte Himmel und Hölle, aber die Hölle sei vorherrschend. Das Ehepaar lebte zuerst kurz in Marburg und wieder in Jena, ab 1804 in Heidelberg.

Ende 1805 hatte Sophie Brentano mit ihrem fünften Kind eine Fehlgeburt und erkrankte infolgedessen. 1806 starb sie im Alter von 36 Jahren bei der Geburt ihres sechsten Kindes im Kindbett.[6] Alle drei Kinder mit Brentano starben vor ihr selbst. Sie wurde in Heidelberg auf dem Armenfriedhof der Kirche St. Anna beigesetzt. (Wiki)

Sonntag, 17. März 2024

Paul Kraft: Nacht-Lied / Lied beim Aufwachen am Morgen

 



Nacht-Lied

Abende im Bette zu liegen
Unter den Bildern und Sternen
Und im Dufte der Fernen
Selig sich wiegen.

Gleitend in Decken zu fahren
Durch goldene Weiten
Und in Seligkeiten
Durchleuchtet sich baden.

Federn und Laken voll Güte,
Nacht  -  und Süße  -  beschattet.
Was im Lichte sich mühte,
Ist nun ermattet.

(Alles löst sich von dir,
Chemie und Mathematik,
Des Lehrers dämonischer Blick
In dein beglänztes Revier.)

Denken an eine Frau,
Die nackt und ganz nah an dir lag,
An Duft von Weiche und Blau
Und Teppichgemach.


Lied beim Aufwachen am Morgen

Morgendlich angeschmiegt
An schmeichelnde Kissen,
Wehes, das dich umfliegt,
Ist nun zerrissen.

Freundlich funkelt noch nach,
Was du im Schlafe genossen,
Was dich, halbträumend, halbwach  - 
Leuchtend umflossen.

Seidenes und kühles Gedicht
Klingt in dir.
Schwebendes, tanzendes Licht
Verstrahlt an dir.

Glieder werden wie Gold,
Sind so dem Leben entbebt.
Alles ist nun verzollt,
Was du mit Beben gelebt.

Glieder lösen sich sanft,
Werden gewichtlos und leicht.
Liebe, die zu dir sich neigt,
Führt dich aus Nacht in den Tag.

Paul Kraft, aus: Gedichte, Kurt Wolff Verlag, Leipzig, als achtzehnter Band der Bücherei „Der jüngste Tag“, 1915

Paul Kraft, geboren am 28. April 1896 in Magdeburg – Sudenburg, gestorben am 17. März 1922 in Berlin, Lyriker, erste Veröffentlichungen ab 1913 in der von Franz Pfempfert herausgegeben Zeitschrift Die Aktion. Durch Vermittlung von Franz Blei erscheint 1915 im Kurt Wolff Verlag in der Reihe „Der jüngste Tag“ sein Band Gedichte. Er stirbt am 17. März 1922 an den Folgen einer falsch behandelten Lungentuberkulose im Krankenhaus Neukölln in Berlin.

In der verdienstvollen Reihe VERSENSPORN erschien 2022 das Heft Nr. 49, es bietet mit insgesamt 32 Texten neben einer Auswahl aus Krafts einzigem Band „Gedichte“ auch einige nur verstreut veröffentlichte Gedichte sowie eine größere Anzahl unveröffentlichter Texte, die die Grundlage für das 1921 nicht zustande gekommene Gedichtbuch 1921 bildeten.

Samstag, 16. März 2024

Paul Boldt: Vormorgens

 



Vormorgens

Schneeflocken klettern an den Fensterscheiben,
Auf meinem Schreibtisch schläft der Lampenschein,
Und hingestreute Bogen, weiß und rein,
Ich wollte wohl etwas von Versen schreiben.

Der Tag ist nah. Die Jalousien schurr’n,
Die letzten Sterne torkeln von den Posten.
Der Tag ist nah, den unbesternten Osten
Bevölkern Morgenwinde schon purpurn.

Und mich bewachsen Abende, beschatten
Die Jahre! O ich dunkle ein.
Das Gas singt in den Gassen Litanein,
Dass meine Augen so sehr früh ermatten.

Paul Boldt, aus: Junge Pferde! Junge Pferde!, Kurt Wolff Verlag Leipzig 1914
Auch in: Junge Pferde, junge Pferde. Das Gesamtwerk; Lyrik, Prosa, Dokumente, Verlag Walter, 1979

Am 16. März 1921 starb der 1885 geborene Dichter Paul Boldt in Freiburg im Breisgau an einer Embolie nach einer Operation. Er hinterließ nur einen Gedichtband, schon 1918 hatte er aufgehört zu schreiben. Doch durch sein Gedicht „Junge Pferde“ wurde er 1914 in Künstlerkreisen berühmt.

Mittwoch, 13. März 2024

Arthur Silbergleit, aus: Die Magd

 



In paradiesische Gärten blühe, Maria, hinein,
Lausch' deinen Liedergefährten, Bronnen im Frühmondenschein,
Höre den Nachttau vertropfen, heimlich lobpreisend den Hang,
Herz, mit melodischem Klopfen stimm' in den heiligen Gesang!

Wenn von dem Efeu der Wände, die um dich Wälder gespannt,
Hallt deines Lebens Legende, orgelnd ins Echo gebannt,
Schwingt sie die Harfe der Träume reicher im Laubgewölk aus,
Rauschen prophetische Bäume sie um dein blauendes Haus.

Küßt dich in Zephyrs Gezeiten zärtlich der Zauberer Schlaf,
Führt von verwehenden Welten segnend ein Fittich-Seraph
Über verdämmernde Hänge dich in der Götter Gemach,
Jauchz' seine Schwingengesänge selig im Himmelswind nach.

Arthur Silbergleit, aus: Die Magd - Eine Marienlegende, Eigenbrödler – Verlag, Berlin 1919

Arthur Silbergleit, geboren am 26. Mai 1881 in Gleiwitz in Oberschlesien; wurde am 13. März 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert, wo er noch im gleichen Monat starb.

"Silbergleit ist ein Dichter, der am Webstuhl der Natur sitzt, in dem Göttliches noch ursprünglich wirkt. Er kommt vom Religiösen her, alles in ihm, an ihm ist stark und tief von Gläubigkeit durchglüht. In seinen Werken verknüpfen sich Stoff und Idee, Welt und Geist, verbinden sich Wissenschaft und Dichtung. Arthur Silbergleit kann selbst in seinen weltlichen Werken nicht verleugnen, daß er ein Sproß seiner Litauischen Ahnen ist, die als Priester in den Zelten Israels heimisch waren."

Max Tau (1897 - 1976), deutsch-norwegischer Schriftsteller.

"Die Benennung Sänger trifft auf Silbergleit vorzüglich zu, auf die Geschmeidigkeit und Beherrschung des Reims, auf die innere Regentschaft über Klang und Reim, auf die sorgfältige Vokalisierung, auf den bel canto, der jede lyrische Empfindung begleitet."

Max Hochdorf (1880 - 1948)

Montag, 11. März 2024

Paul Haller: Vorfrühling




Vorfrühling

Schon harren tausend Knospen
Am noch verschloßnen Tor,
Dann bricht an allen Enden
Das junge Laub hervor.

Schon wandelt an den Hängen
Ein hoffnungslauer Wind,
Wo bald die Anemonen
Vom Schlaf erstanden sind.

Nun breitet bald die Erde
Ihr bräutlich Linnen aus
Und wartet froh des Liebsten,
Der kommt mit Sturmgebraus

Er kommt mit hellem Pfeifen
Und singt nicht gern allein.
Er springt durch’s offene Fenster
Der Braut ins Haus hinein.

Schon flüstern durch die Stauden
Die Wünsche rings im Land;
Am Walde seh ich flattern
Der Freiheit Fahnenband.

Schon harren tausend Knospen
Am noch verschloßnen Tor,
Dann bricht an allen Enden
Die neue Zeit hervor!

Paul Haller, aus: Gedichte; herausgegeben von Dr. Erwin Haller, Verlag von H. R. Sauerländer & Co. Aarau 1922

Paul Haller, geboren am 13. Juli 1882 in Rein bei Brugg (heute zu Rüfenach); gestorben am 10. März 1920 in Zürich, Schweizer Schriftsteller.

Literarisch bedeutsam sind Hallers Mundartepos Juramareili und sein Mundart-Drama Marie und Robert. In beiden Werken gelang Haller eine eigenständige schweizerische Adaption des Naturalismus, den er während seines Studiums in Berlin kennengelernt hatte. Im sozialkritischen Versepos Juramareili schilderte er das Schicksal eines Mädchens, dessen Leben durch den väterlichen Alkoholmissbrauch ruiniert wurde. Das im Arbeitermilieu angesiedelte Marie und Robert war das erste ernste Mundartdrama und thematisierte den Konflikt zwischen Liebesleidenschaft und Gewissen.

Mit seinen Mundartdichtungen hat er Aargauer Autoren wie Hansjörg Schneider und Hermann Burger beeinflusst. Doch auch seine hochdeutschen Dichtungen gehören zum Eindringlichsten, was die Jahre zwischen 1910 und 1920 in der Schweiz hervorgebracht haben. (Wiki)

Das Foto zeigt den Dichter 1910

Samstag, 2. März 2024

Gertrud Kolmar: Die Tänzerin

 



Die Tänzerin

Ich bin der Ostwind: hört ihr mich mit Wipfeln schlagen
Ich bin das Finstre: fühlt ihr mich aus Mooren ziehn ?
Ich bin der Himmel: mit dem Großen Wagen.
Die Erde: mit Chalcedon und Rubin.
Die Schritte, mächtig und gemessen,
Ich habe ihrer keinen noch vergessen,
Nicht aller Farben: Berggrün und Karmin.

Ich ziere meinen Hals so wie ein Schwan.

Die Freude spiegelt sich in seinem Biegen
Und lächelt in ihr Angesicht,
Ihr Schleier sprudelt Quellchen, die sich schmiegen
In dieses stillere, das weite Licht,
Das ihre Brauen bringen,
Des Trauermantels Schwingen,
Der über einer Goldbandlilie dicht.

Ich werfe mich hinüber wie ein Fisch.

Er springt um seinen Tod: so tu' ich Gleiches;
In wunden Kiemen Straßenstaub,
Schlag' ich mich selbst aufschnellend an die Tür des Reich
Das ewig raschelt von verfallen greisem Laub,
Drin kleine Mühn mit Qual verflochten
Zu häßlich schwelendem Gestirn, zerfransten Dochten,
Die krämpfezuckend suchen ihren Raub.

Ich trage dies mein Haar zur Erde hin.

Ich bin der Baum der demütigen Klage. Weide.
Ich bin das Ding, das niedert: Sensenblatt und Krug.
Ich bin der Mensch - auch wenn ich meine Seele
scheide,
Dem Schiff voll weißer Segel mit des Leibes Bug.
Sie wartet, die ich ausgewiesen,
Auf seinen letzten Augenblick, auf diesen,
Und kehrt zurück in einem tiefen Atemzug.

Gertrud Kolmar, aus: 49 Gedichte in 4 Räumen, geschrieben um 1933, posthum veröffentlicht

Gertrud Kolmar (Pseudonym für Gertrud Käthe Chodziesner, geboren am 10. Dezember 1894 in Berlin. Ab Ende der 1920er-Jahre erschienen einzelne ihrer Gedichte in literarischen Zeitschriften und Anthologien. 1934 wurde ihr zweiter Gedichtband Preußische Wappen im Verlag Die Rabenpresse von Victor Otto Stomps publiziert. Diese Veröffentlichung brachte den Verlag auf eine Liste unerwünschter Verlage des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, von dem er dann boykottiert wurde. Kolmar durfte ab 1936 nicht mehr unter ihrem Künstlernamen publizieren, sondern nur noch unter ihrem Familiennamen Chodziesner.

Ab Juli 1941 musste Gertrud Kolmar Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten. Ihr Vater wurde im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und starb dort im Februar 1943. Gertrud Kolmar wurde am 27. Februar 1943 verhaftet und am 2. März 1943 im 32. sogenannten Osttransport des RSHA in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Von den etwa 1500 Berliner Jüdinnen und Juden, die in diesem Zug am 3. März 1943 in Auschwitz ankamen, wurden nach der Selektion an der 'Alten Rampe' 535 Männer und 145 Frauen als „arbeitsfähige“ Häftlinge registriert und in das Lager eingewiesen. Die übrigen etwa 820 Deportierten dieses Zuges, darunter Gertrud Kolmar, wurden nicht als Häftlinge registriert und vermutlich sofort nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet. (Wiki)


Das Bild ist ein Ausschnitt aus einem Foto von 1937

Dienstag, 27. Februar 2024

Iwan Goll: Wald

 



Wald

I

Durch Disteln war der Gang zu dir,
Verschlossen du im glühenden Kosmos
Wie ein Patriarch inmitten Gottes.

Prunkend schienst du staubigem Wanderer,
Verklärt und befriedigt,
Ein heiliger Knecht der Erde;
Und der Fremde fühlte sich fremder noch.

Goldene Leuchter troffen vom süßen Abend,
Um die Leiter letzten Sonnenstrahls
Wirbelten geschäftig die rosa Engel,
Und die Nymphen, deine Töchter,
Hingen ihre silbernen Leiber um deine Lade.


II

Ein Veilchen fiel
Mir plötzlich wie ein blauer Stern zu Füßen:
Ich trug es in den goldnen Abend hin.

Wir beide mit unsern Augen
Leuchteten uns an und loderten gewaltig:
Wir beide hätten so gern geschrieen und geküsst:

Aber unsre Sprache war so schwach:
Und die Liebe so unsagbar traurig!
Wir welkten und starben auseinander.


III

In deinen Tiefen aber,
Aus feuchten Augen gleichen Geistes dunkelnd,
Warst du mir ebenbürtig, Wald!

O, dein Geschöpf zu sein,
Nichts als ein Ton der Erde,
Der Schmetterling ein bunter Tropfen Sonne,
Und schlanke Füchse
Mit starkem Blut aus nahen Büschen fühlen:
Hingabe sein und brüderlicher Friede!

In deinen tiefen Tieren warst du mir geheiligt.
Und ich ergab mich dir,
Ging groß in Trieb und Düften auf.

Iwan Goll, aus: Menschheitsdämmerung, Symphonie jüngster Dichtung, Herausgegeben von Kurt Pinthus, Ernst Rowohlt Verlag, Berlin 1920

Iwan Goll, auch Yvan Goll, geboren am 29. März 1891 in Saint-Dié, Frankreich, gestorben am 27. Februar 1950 in Paris, „hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.

„Iwan Goll hat kein Alter: seine Kindheit wurde von entbluteten Greisen aufgesogen. Den Jüngling meuchelte der Kriegsgott. Aber um ein Mensch zu werden, wie vieler Leben bedarf es. Einsam und gut nach der Weise der schweigenden Bäume und des stummen Gesteins: da wäre er dem irdischen am fernsten und der Kunst am nächsten“. (Iwan Goll über sich selbst)

„Das Besondere in Leben und Werk dieses Schriftstellers wird in seinen Gedichten, Dramen, Romanen und publizistischen Arbeiten deutlich: aus ihnen spricht die Tragik eines Daseins, das sich nicht erfüllt hat und nicht erfüllen konnte. Zwar gelang es Goll immer wieder, den Anschluss an die bewegenden künstlerischen Strömungen seiner Zeit zu finden, doch wurde er nie zu den ganz „Großen“ gezählt.“

aus: Ausgewählte Gedichte, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1982

Verheiratet war Iwan Goll mit der Dichterin Claire Goll, geboren als Klara Aischmann (1890 - 1977)

Das Foto zeigt den Dichter 1932

Samstag, 24. Februar 2024

Emil Alphons Rheinhardt, aus: Stunden und Schicksale

 



Zum Eingang

Sei mir freundlich, liebe Zeit!
Bleibe bunt, wie du gewesen.
Mach mich keines Wehs genesen,
Eh du es zum Bild geweiht.
Abendgold und seliges Blau
Lass mich nicht allein behalten.
Sollst ein gutes Wort gestalten
Einer lieben süßen Frau.
Was da ringt und was da zwingt,
Schauer und beglücktes Lachen -
Alles sollst du bleibend machen,
Bis mein Blut es trunken singt.
Der Minuten Angesicht,
Die verzerrten und verklärten,
Die verstoßenen und begehrten,
Mache dauernd im Gedicht.
Schreibe alles auf in mir.
Lass mich Grund sein deiner Flüsse.
Wolken, Klänge, Düfte, Küsse
Im Gebild´ bewahr´ ich dir.


Frühlingsmittag im Park


. . . Und die Menschen gehen wie im Kreise,
So, als endete dies Gehen nie.
Sind nur Landschaft noch; die liebe, leise
Sonne bringt ein Bleibendes in sie.
Nie mehr schweigt die Amselmelodie.
Alles ist für immer schon gegeben.
Herzen, die sich jetzt zur Sonne heben,
Wachsen ganz und sinken nie.
Goldlack und Levkojen um die Teiche,
Wo das ewig junge Wasser grünt,
Grüßen lächelnd aus dem Liebesreiche
Mit Erinnerungen, lang gesühnt.
Alles Kommende ist längst vergangen.
Still geht das Gewesene im Blut.
Ewiger Frühlinge lichte Zweige langen
In die Himmel - und der Weltraum ruht.


Endlich langt die dunkle Erde. . .

Endlich langt die dunkle Erde,
Schwarze Wipfel, schwarze Gipfel,
Eine stille Traumgebärde
In das milde tiefe Blau.
Schläfernd spricht der Bach am Hange.
Windhauch seufzend ist erwacht.
Liebe Schönheit, noch wie lange?
Aber eh ich ganz erbange,
Segnet goldnes Licht die Nacht.


Wanderlied

Mir liegt ein Schatten im Mute,
Indes mein Fuß schon weiterzieht.
Und doch hab´ ich im Blute
Ein kleines, leises Wanderlied.
O Frauen ihr, o Wege,
O Stimme, die so lang schon rief!
Du Stimme, die doch träge
So manchen Wandertag verschlief!
Von allen Straßen greifen
Die Fernen in die Seele mir.
O Wald, o Wolkenstreifen!
In meinem Herzen reifen
Die weiten Straßen für und für.

Aus: Emil Alphons Rheinhardt: Stunden und Schicksale, Hugo Heller Leipzig und Wien 1913

Emil Alphons Rheinhardt, geboren 4. April 1889 in Wien, gestorben 25. Februar 1945 im KZ Dachau an Fleckfieber, war Lyriker des Wiener Expressionismus, Lektor und Schriftsteller.

Das Foto zeigt den Dichter um 1930

Sonntag, 18. Februar 2024

Joseph Kitir: Verkaufte Ideale

 



Verkaufte Ideale


Die einzige Lust in jenem armen Weibe,
Die Blumen ihres Gärtleins anzusehn;
Da kommt die Bürgersfrau – zum Zeitvertreibe
Bleibt an der Gartenwand sie sinnend stehn.

"Was sollst du nutzlos diese Blumen hüten?
Gib mir die Blumen, kauf dafür dir Brot!" –
Wie schwer es ihr auch wird, sie gibt die Blüten
Der Frau dahin, denn bitter drängt die Not.

Und ich gedachte manch verlornen Strebens –
Wie mancher gab schon mit enttäuschtem Sinn
Die Ideale für die Not des Lebens,
Das höchste Gut für niedrigsten Gewinn.

Joseph Kitir, Lyriker und Schriftsteller, Pseudonym Edwin Flug, geboren am 11. 2. 1867 in Aspang (Niederösterreich), gestorben am 23. 7. 1923 in Wien. Er war einige Zeit als Journalist in München tätig und lebte ab 1889 als freier Schriftsteller.

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Samstag, 17. Februar 2024

Christian Friedrich Wagner: Kannst du wissen? / Hedwig Lachmann: Christian Wagner

 



Zum Andenken an den Dichter und Kleinbauern Christian Friedrich Wagner, geboren am 5. August 1835 in Warmbronn; gestorben am 15. Februar 1918 ebenda

Kannst du wissen?

Kannst du wissen, ob von deinem Hauche
Nicht Atome sind am Rosenstrauche?
Ob die Wonnen, die dahingezogen,
Nicht als Röslein wieder angeflogen?
Ob dein einstig Kindesatemholen
Dich nicht grüßt im Duft der Nachtviolen?

„... er fühlte die tiefe Zusammengehörigkeit zwischen Tier, Mensch und Pflanze, Stein und Stern. Und er liebte das alles. ... Er war dogmenlos fromm. ... Er war allerdings ein Landmann; er hat die Natur gekannt, aber das Hälmchen war ihm kein Anlaß, 'Duliöh!' zu schreien oder ein knallig angestrichenes Gemüt leuchten zu lassen. Er war ein in sich gekehrter Künstler und wohl wert, daß wir ihn alle läsen und verehrten.“ (1919)

Kurt Tucholsky

Seine Stellung zur Kriegslyrik war eindeutig, wie aus einem Brief an Hermann Hesse hervorgeht: Nachdem er schon mehrfach „um Kriegslieder angegangen worden“ sei, schreibt er weiter: „das Heldentum des Nitroglyzerins erkennen wir [Dichter] nicht an!“ Als der befreundete Dichter und Kriegsdienstverweigerer Gusto Gräser aus Deutschland ausgewiesen werden sollte, setzte er sich für ihn ein. Der spätere Dadaist Johannes Baader besuchte ihn 1916 in Warmbronn und hielt daraufhin begeisterte Vorträge über Wagner.

Er leidet sehr unter dem fortgesetzten Kämpfen und Töten und wünscht sich, Eremit zu werden. „Ich beklage, dass es in Deutschland keine Wälder mehr gibt, wie im Mittelalter, zur Zeit der Eremiten, in die hinein ich mich verkriechen könnte, um dort nur noch mit frommen Tieren zu leben.“

„Lieber ein barmherziger Heide als ein unbarmherziger Christ“


Christian Wagner

(Zum 75. Geburtstag des Dichters)

Die Erde gab ihm ihre reinen Früchte
Aus freier Hand. Auf offner Flur
Gedieh er wetterhart und bot die Stirne
Den Stürmen und dem Frieden der Natur.

Bei Pflug und Sense blichen seine Haare,
Und unter ein bescheidnes Hüttendach
Trat er am Abend,
Wo er das Brot auf blankem Tische brach.

Wie ein Eremit im Walde, seine Krumen
Mit Tieren teilend, die ihn stets umgeben,
Und mit Verstorbenen im Bunde,
Verkündet er das seelenhafte Weben,
Das lichtvoll, über einem dunklen Grunde,
Verkettet Menschenlose, Tiere, Blumen.

Hedwig Lachmann, geboren am 29. August 1865 in Stolp, Pommern; gestorben 21. Februar 1918 in Krumbach), Dichterin und Übersetzerin von unter anderem Edgar Allan Poe und Oscar Wilde. Ihrem zukünftigen Ehemann, dem Anarchisten Gustav Landauer begegnete Lachmann zum ersten Mal 1899 bei einer Lesung im Haus von Richard Dehmel. Richard Dehmels Kriegsbegeisterung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 führte jedoch dazu, dass Lachmann ihm die Freundschaft aufkündigte.

Im März 1903 ließ sich Gustav Landauer von seiner ersten Ehefrau scheiden, um Hedwig Lachmann im Mai 1903 zu heiraten. Am 21. Februar des Jahres 1918 starb Hedwig Lachmann an einer Lungenentzündung.

Die Illustration Christian Wagner nach einer Zeichnung von H. Schroedter ist aus der Zeitschrift Die Gartenlaube von 1895

Montag, 12. Februar 2024

Elisabeth Fuhrmann-Paulsen: Vermächtnis

 



Vermächtnis

Ich will Bäume pflanzen,
die sich breiten, die sich weit verzweigen,
dass auf ihren Ästen Vögel rasten.
Fäller sollen meine frohen Wälder meiden;

Und ich will auch freie Bäume pflanzen,
die allein stehn, sonnelichtumwoben.
Unter ihnen soll die Jugend tanzen,
Angesicht zu Angesicht gehoben.

Und ein Jüngling soll der Fiedler sein,
mit vor Sehnsucht blauen Augen,
und so edel sollen seine Hände sein,
dass sie nur zum Geigespielen taugen.

Schlank und fein und wenigen verwandt,
wenig blassen Musikantenhänden,
die mit jedem Bogenzug der Hand
ihre Meisterschaft vollenden.

Und es soll der liebste Geiger mein
in den Gärten vor dem Tore wohnen,
mitten unter breiten Lindenkronen,
bei der Blätter Melodein.

Wo von Früchten schwer sich
Zweige tief wie Trauereschen neigen,
und er soll an jedem Abend
aus dem offnen Fenster geigen.

Elisabeth Fuhrmann-Paulsen (1879 - 1951)

Das Bild „Mondscheingeiger“ ist von Hans Thoma (1839 - 1924)

Sonntag, 4. Februar 2024

Aus dem Antiquariat: Akzente 5. Jahrgang 1958 bis 1961 - Lothar Klünner, Pro Domo

 



Aus dem Antiquariat - Akzente 5. Jahrgang 1958 bis 1961

Akzente ist eine Literaturzeitschrift, die 1953 von Walter Höllerer und Hans Bender gegründet wurde. Sie erscheint seit dem Februar 1954 im Carl Hanser Verlag, München, bis 2014 alle zwei Monate, seither vierteljährlich, mit dem Untertitel Zeitschrift für Dichtung, später Zeitschrift für Literatur. Schwerpunkte sind Lyrik und kurze Prosa.

1974 wurde Akzente 1. Jahrgang 1954 bis 20. Jahrgang 1973 in einer siebenbändigen Dünndruckausgabe (mit einem Gesamtinhaltsverzeichnis von Karl Rudolf Pigge) bei Zweitausendeins neu aufgelegt. Ich erinnere mich daran, dass diese Ausgabe in aller Vollständigkeit im Bücherregal einer Wohngemeinschaft, in der ich lebte, zu finden war. Ich blätterte gerne darin, besonders in den frühen Jahrgängen, und ich weiß noch, dass ich in einem diese etwas unhandlichen und durch den kleinen Druck schwer leslichen Bände, nur als ein Beispiel, das erste Mal auf Übersetzungen von japanischen Haiku gestoßen bin.

Doch auch sonst luden diese Bände zum Querlesen ein, und es war immer wieder etwas zu finden für mich dabei. Wie auch jetzt wieder, wo ich den fünften Jahrgang in den Händen halte. Ich blättere darin und werde immer wieder fündig, mir begegnen Namen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die mir ohne dieses Kompendium ziemlich sicher kaum begegnet wären. Als ein Beispiel blieb ich bei diesem Werk hängen:

Pro Domo

Beuge dich, setz auf die Hand
locker den Regen des Herzens.
Tanze, ein Spektrum von Sonne und Laub
kühlt dir die trunkene Stirn.

Löse die Wünsche von Fron,
verpflichte die Kargheit des Leinens,
einzuhüllen den Zorn,
einzubehalten den Hauch.

Es fängt sich der Stern in den Knoten
eines einzigen farblosen Haars
jenseits von Goldgrund und Schlamm,
den Trutzgebärden des Blutes.

Folge nur diesem Duft.
Singbar wölbt sich dein Schritt
über den Herd in das Dunkel
einer geweissagten Brunst.

Dort ist die Mitte des Haders,
die Feier, die wahllos versehrt,
wie deine Hände entbanden
ein locker regnendes Herz.

Lothar Klünner

Geboren 1922 in Berlin, lebt dort als Schriftsteller, lautet die knappe Angabe zu diesem Autor. Wiki weiß wieder einmal mehr:

Lothar Klünner (* 3. April 1922 in Berlin; † 19. Oktober 2012 ebenda, alias Leo Kettler, Schriftsteller und Übersetzer literarischer Texte aus dem Französischen.

Lothar Klünner studierte Theologie, später Kunstgeschichte in Tübingen und Berlin. Schon in frühster Jugend schrieb er Gedichte. Seit 1946 übersetzte er v. a. René Char, Paul Éluard, Guillaume Apollinaire, Iwan Goll. Viele Übersetzungen entstehen in Zusammenarbeit mit dem Dichter Johannes Hübner.

Von 1948 bis 1949 war er Mitarbeiter an der Kulturzeitschrift Athena. Seine ersten Gedichten und Prosastücke wurden in der von K.O. Goetz herausgegebenen Kunst- und Literaturzeitschrift Meta veröffentlicht. Seit 1949 war er als freier Schriftsteller und Übersetzer in Berlin tätig. Lothar Klünner arbeitete 1949 bis 1950 an den ersten Berliner Nachkriegskabaretts der Badewanne in der Femina Bar mit (Badewanne, Rationsstrich und Quallenpeitsche). Bei einem Aufenthalt in Frankreich begegnete er 1951 René Char, mit dem er über Jahrzehnte freundschaftlich verbunden blieb. Seit 1955 verdiente er seinen Lebensunterhalt vor allem als Autor für den Rundfunk, vor allem für RIAS Berlin und SFB, für die er etwa 1000 kleine und große Rundfunksendungen produzierte. Nach einem ersten eigenen Gedichtband (Gläserne Ufer, 1957) folgte die Mitherausgeberschaft des Jahrbuchs Speichen (1968–1971), das in der Öffentlichkeit allerdings kaum wahrgenommen wurde. Nach dem Tod seines Freundes Johannes Hübner gab Klünner den Johannes Hübner-Gedenkband Im Spiegel und mehrere postume Ausgaben der Gedichte Hübners heraus. Die von Johannes Hübner begründete Jeanne-Mammen-Gesellschaft verdankt ihren Erfolg auch der Mitarbeit von Lothar Klünner.

Spätere Gedichtveröffentlichungen: Wagnis und Passion, Pfullingen: 1960; Windbrüche, Berlin: 1976; Gegenspur, Berlin: 1977; Befragte Lichtungen, Waldbrunn: 1985; Die Rattenleier. Schüttelreime, Berlin, Aphaia: 1989.

Lothar Klünner gehörte zu den wenigen deutschsprachigen Autoren, die sich bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs an der Literatur der internationalen Moderne, insbesondere der französischsprachigen Literatur orientierten und die Erfahrungen des Surrealismus verarbeitet haben. Als Nachdichter und Übersetzer hatte er großen Anteil an der Verbreitung der Texte des Surrealismus im deutschsprachigen Raum. Zum "literarischen Establishment" bewahrte Klünner Distanz.

Nach der Publikation der Sammlung Stumme Muse submarin (1997), die eine Auswahl von Liebesgedichten aus fünf Jahrzehnten Dichtung enthält, veröffentlichte er weitere Lyrikbände, so den Band Geerdet mit Gedichten aus den Jahren 2000 bis 2005.

Das alles klingt für mich interessant genug, um mich näher mit diesem Autor zu beschäftigen. So hat sich schon jetzt das Stöbern gelohnt, und dabei habe ich doch gerade erst damit begonnen, in diesem Band zu lesen. . .


Mittwoch, 31. Januar 2024

René Schickele: Ich wandere. . .

 


Ich wandere
Am schwarzen Wald entlang
Nach Haus.
Aus einem einzigen Stern am Himmel
Bläst der Wind
Immer den gleichen Funken,
Als fürchte er die Nacht im Wald
Und hüte für das Tal, das sie bedroht,
Dies Lichtlein in der Not.

Plötzlich gießt der Mond
Sein Füllhorn aus!
Der Hügel blüht als Weißdornhecke
An einem See,
Darinnen Dorf und Tal versunken.
Mein weißes Haus, die Arche,
Schwimmt darauf
In atemvoller Stille.
Nicht einmal die Hunde rühren sich,
Da ich den Hof betrete,
Im Traum nur hören sie mich kommen.
Süß beklommen,
Öffne ich die Tür und trete
In ein Geheimnis ein.

Im dunkeln Zimmer,
Im dunkeln Bett,
Die Augen geschlossen,
Im dreifachen Sarg,
Sehe ich den Weißdornhügel,
Von seinem Licht umflossen,
Und, wie es sich von ihm löst,
Mein Haus, die Arche,
Auf dem breiten Tale schwimmend,
Das wiederum ein See ist
Wie vor Tausenden von Jahren.

René Schickele, aus: Himmlische Landschaft, Fischer Berlin, 1933

René Schickele, geboren am 4. August 1883 in Oberehnheim im Elsass; gestorben am 31. Januar 1940 in Vence, Alpes-Maritimes, deutsch-französischer Schriftsteller, Essayist, Übersetzer und Pazifist. Gegen den preußisch-deutschen Militarismus warb Schickele für Völkerverständigung und Sozialismus als Herausgeber der Weißen Blätter. Das nötigte ihn 1915 zur Flucht ins Schweizer Exil.

Dienstag, 30. Januar 2024

Ernst Goll: Abendfriede

 



Abendfriede


Und eine große Weihe ist in mir,
Der Abend kam auf mondverklärten Wegen,
So reich gesegnet gehe ich von dir,
Wie ein Versöhnter kehrt vom Abendsegen.

Wie ruhn sie tief im dämmerstillen Hafen,
Die bunten Wünsche, die der Tag erfand,
Ich bin so still. Nun werd ich selig schlafen,
Und meine Träume gehn ins Sehnsuchtsland.

Ernst Goll, geboren am 14. März 1887 in Windischgraz; gestorben am 13. Juli 1912 in Graz, aus: Im bitteren Menschenland, nachgelassene Gedichte, Herausgeber Franz Schütz, Egon Fleischl & Co, Berlin 1912

Nach seiner achtjährigen Gymnasialzeit in Marburg an der Drau (heute Maribor) kam er im Herbst 1905 nach Graz. An der Universität Graz studierte er zunächst drei Semester Jura, wechselte danach zu Germanistik und Romanistik über, schloss das Studium aber nicht ab. Nach privaten Konflikten stürzte er sich im Sommer 1912 aus dem zweiten Stock der Grazer Universität in den Tod.

Das Bild „moonlight and light“ (1909) ist von Léon Spillaert (1881 - 1946)

Donnerstag, 11. Januar 2024

Ernst Weiß: Gesang des Friedens

 



Gesang des Friedens

Dass wir einziehen in das Du der rauschenden Bäume,
Dahingehen in der Allee der wartenden Pflanzen.

Hoffnung, dass der Böse sich mit Schlaf wäscht über Nacht,
Dass der Kranke sich bis zur Seele kleidet in ein Hemd von Schlaf über Nacht.

Hoffnung, dass der Wucherer verzichtet auf Gewinn und in Reinheit ruht,
Und dass zu einer Stunde Gott nach seinem Gefallen zwischen uns lebt,

Gott lebt nach seinem Gefallen zwischen uns, die Erde trägt und wie Steine
Die Luft über uns spielt auf unserem Frieden wie der Schatten der Platane auf dem gefallenem Laub.

Ernst Weiß, aus: Die Botschaft, Neue Gedichte aus Österreich, gesammelt und eingeleitet von E. A. Reinhardt, Verlag Ed. Strache, Wien, Prag, Leipzig, 1920

Ernst Weiß, geboren am 28. August 1882 in Brünn, Österreich-Ungarn; gestorben am 15. Juni 1940 in Paris, Arzt, Schriftstelle und literarischer Übersetzer. Aus einer jüdischen Familie stammend, war der Sohn des Tuchhändlers Gustav Weiß und dessen Ehefrau Berta Weinberg. Am 24. November 1886 starb der Vater. Trotz finanzieller Probleme und mehrfacher Schulwechsel (unter anderem besuchte er Gymnasien in Leitmeritz und Arnau) bestand Weiß 1902 erfolgreich die Matura (Abitur). Anschließend begann er an den Universitäten Prag und Wien Medizin zu studieren. Dieses Studium beendete er 1908 mit der Promotion in Brünn und arbeitete danach als Chirurg in Bern bei Emil Theodor Kocher und in Berlin bei August Bier.

1911 kehrte Weiß nach Wien zurück und fand eine Anstellung im Wiedner Spital. Aus dieser Zeit stammt auch sein Briefwechsel mit Martin Buber. Nach einer Erkrankung an Lungentuberkulose hatte er in den Jahren 1912 und 1913 eine Anstellung als Schiffsarzt beim österreichischen Lloyd und kam mit dem Dampfer Austria nach Indien, Japan und in die Karibik.

Im Juni 1913 machte Weiß die Bekanntschaft von Franz Kafka. Dieser bestätigte ihn in seiner schriftstellerischen Tätigkeit, und Weiß debütierte noch im selben Jahr mit seinem Roman Die Galeere.

Kurz nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 verließ er Berlin für immer und kehrte nach Prag zurück. Dort pflegte er seine Mutter bis zu deren Tod im Januar 1934. Vier Wochen später emigrierte Weiß nach Paris. Da er dort als Arzt keine Arbeitserlaubnis bekam, begann er für verschiedene Emigrantenzeitschriften zu schreiben, u. a. Für Die Sammlung, Das Neue Tage-Buch und Maß und Wert. Da er mit diesen Arbeiten seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten konnte, unterstützten ihn die Schriftsteller Thomas Mann und Stefan Zweig.

Ernst Weiß letzter Roman Der Augenzeuge wurde 1939 geschrieben. In Form einer fiktiven ärztlichen Autobiographie wird von der „Heilung“ des hysterischen Kriegsblinden A. H. nach der militärischen Niederlage in einem Lazarett des deutschen Heeres Ende 1918 berichtet. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wird der Arzt, weil Augenzeuge, in ein KZ verbracht: Sein Wissen um die Krankheit des A. H. könnte den Nazis gefährlich werden. Um den Preis der Dokumentenübergabe wird „der Augenzeuge“ freigelassen und aus Deutschland ausgewiesen. Nun will er nicht mehr nur Augenzeuge sein, sondern praktisch-organisiert kämpfen und entschließt sich, im spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner gegen den mit Nazideutschland politisch verbündeten Franquismus zu kämpfen.

Als Weiß am 14. Juni 1940 den Einmarsch der deutschen Truppen in Paris von seinem Hotel aus miterleben musste, schnitt er sich in der Badewanne seines Hotelzimmers die Pulsadern auf, nachdem er Gift genommen hatte. Im Alter von 57 Jahren starb Ernst Weiß am 15. Juni 1940 im nahegelegenen Krankenhaus. (Wiki)

Das Foto zeigt ein Fensterbild in der Alten Schule Fredelsloh

Samstag, 6. Januar 2024

Max Pulver: Douarnenez

 



Douarnenez

Hier lockt das Meer mit silberblauer Seide;
Im roten Stein verlieren sich die Buchten:
Goldgelbe Locke - reifendes Getreide
Und Schwaden schwanken Grases füllt die Schluchten.
Die Ulmen stehn mit sanftumrissnen Rändern
Am Klippenhange zwischen leichten Dächern,
Die gelle Straße knüpft in ihren Bändern
Ans Tal den Berg mit seinen Kieferfächern.
Auf breitem Sande läuft verlorne Brandung
In Wellen aus, die sich zu Schaum zerhasten:
Weit draußen sucht ein braunes Boot die Landung
Und schüttelt sich abgerefften Masten.
Ein zornig Scheltwort schaffender Matrosen
Fliegt bis zu uns durch stetes Windestosen.

Max Pulver, aus: Vom jüngsten Tag, Ein Almanach neuer Dichtung, Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1916

Max Pulver, geboren am 6. Dezember 1889 in Bern; gestorben am 13. Juni 1952 in Zürich war ein Schweizer Psychologe, Graphologe, Lyriker, Dramatiker und Erzähler.

Das Foto (Postkarte) zeigt Douarenez 1916