Montag, 27. Februar 2017

Ludwig Rubiner: Botschaft





Botschaft

Vielleicht kam sie zur Zeit, eine Botschaft vom Lächeln der Menschen, Sonnengang, und, ganz einfach, von Blumen.

Abstieg in die dunklen Buchstaben der fremden Worte, wie in abendliche Gänge hinaus zwischen südlichen Mauern, die zu einer runden Bucht führen mitten in hohen verlöschenden Wasserwolken.

Schauen wie durch den nächtlichen Traumweg eines Fernrohrs, hinein in den riesigen südleuchtend gewölbten Strahlenball unserer Erinnerungen.

Eine Sonne und ein Mond schweben umeinander, licht rötlicher Schaum in weißer Silberhitze über der neu aufscheinenden Erde.

Lächeln, das vor den brüllenden Schwungrädern der Fabrik nicht zittert, Freundinnen in den fliegenden Kleidern! Die sanften, so gestreichelten Locken inmitten blonder Getreidefelder, über die nur stiller Wind zuckt.

Die helle Haut der Freunde, ruhige Körper, die steil auf der schrägen Wiese stehen, während fern ein Wasserfall wölbend am sonnigen Ufer Perlenbögen über sie klirrt.

Die dichten Wiesen so sanft wie große Tieraugen, weit drüben vorm Wald staunt wie Hornton das rote Kleid einer Golfspielerin im Abendglück.

O Botschaft von Menschen! Ja, vielleicht gibt es Lächeln und schöne Körper, und Augen, die ruhig zarte tiefe Horizonte wie große Blumenkelche um sich austeilen.

Vielleicht, trotzdem ich aufblicke, ich sitze an meinem Tisch, und ich weiß von dem ungeheuren Zug der Menschen um mein Haus,

ich weiß die alten angstvollen Schädel und die kleinen schweigenden Kinder, die an einem schmerzenden Arm schnell mitgezerrt werden,

ich weiß den rasenden Zug, vorbei unter meinem Fenster, vor Furcht Schweigsamer, und nur ein Heulen zieht in die Nacht von den tausend eilenden Tritten auf dem harten Granit;

ich weiß die aus schwarzer Nacht einsam Grinsenden, mit Höllenfalten der Generäle im versteckten Gesicht, die aus vier Weltecken ihre Maschinengewehre auf mein Haus richten.

Aber ich weiß, ich weiß von den verstohlenen Händedrücken meiner Brüder im Dunkel des Menschengedränges,

von der Freundschaft, die wie Scheinwerfer aus nie greifbarem Dunkel in die Nacht hinauf blitzt und ein magisches Bild von Hoffnung und Seligkeit in die Wolken wirft,

ich weiß von der unsichtbaren, schwebenden Riesenstimme, unser Gesang, der wie eine Stahlkette meine Freunde umschlingt.

Ich weiß, wie ich hinunterspringe und wie es im roten Licht der Nacht gegen eine rohe Überzahl von Teufeln geht.
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O es ist gewiß, diese alle, die in der Straßenschlacht stehen, werden sterben. Aber das sinnlose heiße Auszischen unseres Lebens fliegt hinaus in die Welt, die Sterne tragen unsere Gesichte verschüttend durch die Nächte, wie Bienen, die vom Blütenstaub beschwert um den Erdball auf und nieder steigen.

Dichte Wiesen schwellen auf aus unseren Keimen, sanfter Hornton im Grün aus dem roten Kleid einer glücklichen Frau, Locken flattern um helle Glieder hoch, die straffe Haut ausgeruhter Leiber springt rosig über die Lichtung hin, wie auf sanften Stengeln blüht Lächeln uns an, das gelernt hat, nicht zu beben unterm fernen Maschinengestampf.

Unser Blut fliegt um die Welt wie die Mittagswolke, die die Keime der heißen Gärten trägt. In allen gewölbten Ländern der runden Erde wird ein schöner Mensch geboren. Einer nur, aber wie viel ist das schon!

Eine Botschaft kam, und der Weltball unserer Erinnerungen wie ein Mond aus dem Meer stieg auf.

Wir verströmen unser Leben, wir sprengen unsern Leib hinaus in die Katastrophen des dunklen Raums, aber unser Tod über Jahrtausende hin streut hie und da auf die Erde ein Lächeln der Menschen, einen Blick auf den Sonnengang, und, ganz einfach, Blumen.


Aus der Sammlung „Zurufe an die Freude“



Ludwig Rubiner 

In der Nacht zwischen dem 27. und 28. Februar 1920 starb der Dichter Ludwig Rubiner infolge einer sechswöchigen Lungenkrankheit in Berlin. Er war einer derjenigen, welche die Kriegsbegeisterung 1914 so vieler deutscher Dichter nicht teilte und der in diesem Jahr freiwillig mit seiner Frau ins Exil in die Schweiz ging.

Freitag, 24. Februar 2017

Hugo Ball: Waldgreis



Waldgreis

Geh hundert Meilen die Buchen lang
Den grauviolettenen Stämmegang
Wo das Jahrtausend die Kronen treibt
Und mit den Nägeln sich Runen schreibt –

Geh hundert Meilen im teppichten Schoß
Durchs schwer überkuppelte, blührote Moos,
Wo nur als wunderlich Lied noch tönt,
Was deinem glänzenden Auge fröhnt. –

Da kommst du an einen gelichteten Raum,
Es steht eine Hütte da, sichtbar kaum,
So herzen sie Geißblatt und Winden weiß, –
An ihrem Pförtchen lehnt zwergig ein Greis.

Der schaut so gar traumhaft und schaut nur und schweigt,
Sein Blick dir bis tief in die Seele reicht,
Und müde wirst du, unendlich müd’,
Und das Wunderlied schwellt und webt und verzieht.

Und der Alte, er winkt. Gern folgst du ihm nach,
Draußen die Nacht überringt schon den Tag.
Blau irrt am Fensterchen flimmernder Schein,
Und du hörst Märchen vom Menschelein.

Hugo Ball (*22. 2. 1886 ; † 14. 9. 1927), als Dada zum Dadaismus wurde, wandte er sich mit Emmy Hennings anderen Gefilden zu. . .

Dienstag, 21. Februar 2017

Hedwig Lachmann: Am Abend / Spaziergang



Am Abend

Weißt du denn – wenn auf Baum und Strauch
Das Astwerk zittert und sich sträubt,
Und wenn der leicht gewellte Rauch
An einer Wetterwand zerstäubt –

Ein scheuer Vogel ohne Laut
An dir vorbei die Flügel schlägt,
Und Wolke sich an Wolke baut –
Wohin dein wilder Wunsch dich trägt?

Weißt du denn, wenn nun alle Welt
Sich eng an Hof und Heimstatt schmiegt,
Und deine Sehnsucht dich befällt, –
Wo deine eigne Heimat liegt?


Spaziergang

Die Sonne steht schon tief. Wir scheiden bald.
Leis sprüht der Regen. Horch! Die Meise klagt.
Wie dunkel und verschwiegen ist der Wald!
Du hast das tiefste Wort mir nicht gesagt. –

Zwei helle Birken an der Waldeswand.
Ein Spinngewebe zwischen beiden, sieh!
Wie ist es zart von Stamm zu Stamm gespannt!
Was uns zu tiefst bewegt, wir sagen's nie. –

Fühlst du den Hauch? Ein Zittern auf dem Grund
Des Sees. Die glatte Oberfläche bebt.
Wie Schatten weht es auch um unsern Mund –
Wir haben wahrhaft nur im Traum gelebt. –

Hedwig Lachmann, (geboren 29. August 1865 in Stolp, Provinz Pommern; gestorben 21. Februar 1918 in Krumbach), Dichterin und Übersetzerin, aus: Gesammelte Gedichte - Eigenes und Nachdichtungen, herausgegeben von Gustav Landauer, Gustav Kiepenheuer Verlag, Potsdam 1919.

1889 in Berlin wurden erste Übersetzungen von ihr veröffentlicht (unter anderem Gedichte von Edgar Allan Poe). Im Jahre 1892 begegnete Hedwig Lachmann zum ersten Mal Richard Dehmel; es begann eine langjährige Freundschaft. Ihrem zukünftigen Ehemann Gustav Landauer begegnete Lachmann zum ersten Mal 1899 bei einer Lesung im Haus von Richard Dehmel. Richard Dehmels Kriegsbegeisterung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 führte dazu, dass Hedwig Lachmann ihm die Freundschaft aufkündigte. Im März 1903 ließ sich Gustav Landauer von seiner ersten Ehefrau scheiden, um Hedwig Lachmann im Mai 1903 zu heiraten. Am 21. Februar des Jahres 1918 starb Hedwig Lachmann an einer Lungenentzündung.

Gustav Landauer kritisierte als Pazifist den Eintritt Deutschlands in den Ersten Weltkrieg scharf. Während der Novemberrevolution 1918/19 und unmittelbar danach war er an einflussreicher Stelle an der Münchner Räterepublik im April 1919 beteiligt. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung wurde er von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten am 2. Mai 1919 in der Haft ermordet.

Das Bild "Waldlandschaft im Schrank" ist von der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch, mit freundlicher Genehmigung der Hedi Kupfer Stiftung Fredelsloh als Nachlassverwalterin. 

Edlef Köppen: Frieden und andere Gedichte

Dieses Bild der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch trägt den Titel "Kontrapunkte"

Edlef Köppen, geboren am 1. März 1893 in Genthin, war ein deutscher Schriftsteller und Rundfunkredakteur. Auch er trat, wie so viele seiner Generation, 1914 als Kriegsfreiwilliger in die Armee ein. Er diente als Artillerist und kam im Oktober 1918, von den Kriegserlebnisssen traumatisiert und desillusioniert, nach Hause. Die Erlebnisse verarbeitete er später in seinem großen Roman Heeresbericht. Köppen vertrat seitdem pazifistische Positionen.

Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, wurde Köppen als Leiter der Funk-Stunde Berlin abgesetzt. Sein Weltkriegsroman fiel der Bücherverbrennung 1933 in Deutschland zum Opfer. 1935 wurde der Roman verboten.

Edlef Köppen starb am 21. 2. 1939 in einem Lungensanatorium in Gießen an den Spätfolgen seiner Kriegsverletzung.

Frieden

Sitzen still im Zimmer  -
Ich und Du
Unsre Liebe redet. . .
Sonst herrscht tiefe Ruh.
Und wenn beide müde  -
Ich und Du,
Küssen Deine Lippen
Meine Augen zu.

Krieg!

Stummes Händedrücken.  -  Und im Morgenwehn
Heiße Abschiedstränen............................................
                                      ... Nimmerwiedersehn........
                                      ...
                                      ...
                                      ...
                                      ...
Bleigeschwärzte Wunden,  -  Und im Abendrot
Frischgekarrte Gräber.........................................
                                     ... Schweigen herrscht und Tod...

Diese beiden Gedichte wurden als eine Einheit zusammen geschrieben, noch während des Krieges. 

Träumen

Träumen:
Mein Gewehr ist versteint  -  wie deines, mein Bruder,
Wir zielen nicht mehr aufeinander.
Blumen wachsen auf Schaft und Lauf,
rote Blumen.
(oh, daß sie an Morden noch erinnern!)
Die Gräber, die uns in Bangen fraßen
heben sich. Und werden sanft und Ebene.
Wir sehen Licht  -  Land  -  Uns.
Wir fühlen: Mensch.
Und küssen uns.
Oh!!
Traum!!

Als Köppen das schrieb, hatte er sich längst vom bereitwilligen Kriegsfreiwilligen zum Pazifisten gewandelt.

An eins der sinnlosen Gemetzel des ersten Weltkrieges mit mehr als hunderttausend Toten in Nordfrankreich erinnert der Titel des folgenden Gedichtes.

Loretto (I)

Für Hermann Kasack

Einen Tag lang in Stille untergehen!
Einen Tag lang den Kopf in Blumen kühlen
und die Hände fallen lassen
und träumen: diesen schwarzsamtnen, singenden Traum:
Einen Tag lang nicht töten.

Das ist Glück

Das ist Glück:
Hand in Hand durch Dämmern schreiten
wenn die letzten Sonnenstrahlen durch die Blätter gleiten,
wenn die Nebel langsam sich erheben,
zarte, geisterhafte Schleier weben,
wenn die Nacht weich um die Erde wirbt  -
und der Lärm des Lebens ringsum stirbt.
. . . und dann hinein in diesen Zauber gehen
Hand in Hand  -  in seligem Verstehen. . .
Das ist Glück!

Das Leid

Über die Erde flog das Leid
mit schweren, schwarzen Schwingen,
in einem schweren, schwarzen Kleid,
das Tränen rings umhingen.

Über die Erde flog das Leid
mit grabeskaltem Hauchen.
  -  Und wo es hinflog, weit und breit,
mußt´ Glück in Nebel tauchen. . .

Und wo es hinflog: Trauerflor,
als ob kein Hoffen bliebe.
Und dennoch wuchs ein Trost empor,
und wuchs und wuchs:
Die Liebe!

„Und dann ringt ein Erkennen sich empor. . .
Ich war schon einmal geboren
Das ist lange her!
Damals  -  Als ich noch Seele war.“

Aus: Ich war schon einmal geboren


Seelilien

Einmal war ich eine Blume
  -  nur einmal war ich ein Traum
der in Mädchenherzen wohnte.
Da war ich glücklich!
Und nun bin ich ein Mensch,
lebe wie Menschen, leide, liebe,
sehe die Sonne in ihrem Gold
und den Tag,
und sehe das Silber der Sterne
und den Glanz des Mondes
und den Sammet der Nacht
. . .  und muß doch immer weinen. . .
was ich wohl später werde?


Montag, 20. Februar 2017

Walter Lindenbaum: Abgesang




Abgesang

So fließt der Strom der Zeit und nimmt die Bäche auf,
Die Tage, Wochen, Jahre, die alle in das große Wasser münden,
Die alle irgendwo im All entspringen und spurlos in der Flut verschwinden.
Das ist der Dinge und der Menschen Lauf.

So kreisen Zeiger auf den Uhren, der Räder monotoner Sang
Gräbt sich in unsre Herzen und mahnt an die Vergänglichkeit.
Drum hasten wir und haben keine Zeit.
Was nützt uns das? Die Zeit hat Zeit und geht gemächlich ihren Gang.

So folgt die Ebbe auf die Flut und junger Wein quillt aus den Reben,
Der Mensch verfolgt der Schwalbe Flug, er sieht das Feld mit reifen Ähren,
Betrachtet rätselhaftes Sterben und Gebären,
Daran zu ändern ist ihm nicht gegeben. So ist das Leben. . .




Walter Lindenbaum, geboren am 11. Dezember 1907 in Wien, war ein österreichischer Journalist und Autor jüdischen Glaubens. Als Sozialdemokrat und als schreibender Widerständler gegen den Nationalsozialismus wurden er und seine Familie verhaftet und  1943 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Im September 1944 wurde er nach Auschwitz überstellt und kam von dort mit einem Evakuierungstransport in das KZ Buchenwald, wo er am 20. Februar 1945 umkam. Seine Frau Rahel und seine Tochter Ruth wurden in Auschwitz-Birkenau ermordet.

Sein Gedicht „Das Lied von Theresienstadt“ endet so:

Du Stadt der Kinder und der Greise
Die einen unser Hoffnungskeim
Die anderen, sie entschlafen leise
und kehren zu den Vätern heim.

Samstag, 18. Februar 2017

Hans Schiebelhuth: Berceuse und andere Träume

Das Bild ist von der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch


Berceuse

Meine seidne Schwester, Südwind will dich umminnen,
Schwester von Gold, schlummre, singende Seele,
Schwester von Bernstein, Sommernacht süß über Himmeln,
Sterne knospen
Im Blau schwebt Mond, der löwenhafte Hüter deines Schlafs.

Träume! Wenn böse Nachtboten kommen,
Vögel der Finsternis,
Will durchs Dunkel denkend ich dir Leuchter schenken,
Sternlicht tragende, und die unsichtbare
Kette, dran die gute Mondampel hängt.

Inmitten des Weltdoms sitzt strahlend im Gnadenstuhl
Aufrecht Gottvater mit gütigen Greisenhänden,
Sankt Lucas, der eine Brille trägt, liest ihm die Schrift.
Auf weißem Eselchen zieht die Madonn
Weithin durchs Ölfeld.

Aber wenn des Morgens Lichtruf hürnen erschallt,
Wollen bronzne Wälder wie Gong tiefer ertönen,
Lenz blutet Mohn um die Raine, Wind wiegt weißes Gewölk,
Goldne Schwalben spielen,
– Dann bist du vom Schlummer blaß, kleine Jilája.


Für Lefherte

Ich habe für dich gedämpfte Hymnen erdacht, Worte
Wirr, nie noch gesagt, nie noch gewagt; nun wachend
Warte ich, bis du aus meinen Augen die Anklage,
Bis du von meinen Lippen das entzückende Lied nimmst.

Seit du gingst, kam vieler Herbst überheid. Blumen
Schickten sich an zu sterben. Bald wird der Bach
Still sein. Aber wer stark ist wie ich,
Den tötet kein Tod. Sehnsucht erhält ihn ewig.

Bleiblütig bin ich über der Welt. Einsam
Über verwaister Stadt, Grambart und bekümmerter Hände.
Dennoch in Hoffnung, daß ein Marienwind
Kommt, die verstörte Stirn der Straße zu glätten.

Du aber wohnst im Grün verschütteter Sommertage. Deinen
Fenstern lacht Lenz. Sorglose Springbrunnen
Silbern Kronen auf über bunten Beeten.
Möwen, Möwen kommen, Grüße vom Meer.

Und wenn die Nachtfrau naht mit der Sternschleppe, ruhst du
Mondgestreichelt bei den seltnen Zeichen opaliger Himmel.
In deinen Traum reden Riedvögel, redet das zärtliche Reh.
Süßer, singender Regen rauscht auf dein Dach.

Nachbluht zerfallner Zeit fiebert um dich. Wesen
Leichtfertiger Menschen rühr wie Handharfe dein kindlich Herz.
Vor deiner Tür beginnt der ewige Weinberg der Freude.
Goldner Wind weht stets in deiner Stadt.

Aber einmal wirst du auch in den heiligen Säulenwäldern
Weinen, daß Gott herabkomme und die Steine erlöst,
Dankbar sein, wenn seine Hand dir immer unsichtbar
Beßre Sternbilder aufbaut über dem Horizont.


Verschenkt Herz

Du bist nicht Gast. Du wohnst in mir.
Hast nicht nur Rast. Hast Bleibe hier.
Hier steht deine Wiege. Hier zäunt dein Geheg.
Hier steilt dir Stiege. Hier mündet dein Weg.

Hier hält dich Helle. Hier hüllt dich Nacht.
Im Brunn quickt Quelle. Speicher füllt Fracht.
Geh aus. Geh ein. Sei unverhofft.
Dein Haus dir offen. Komm gern. Komm oft.


Notturne

Du hörst das Herz der Stadt ganz leise pochen
Durch der Paläste Marmorbrust. Der Wind,
Ein Atemzug, streift die Alleen. Ganz leise.
Der tausend Brunnen Schlummerrede rauscht.

Die Flüsse rinnen silbern in das Dunkel,
Die Zeit. Und aus Zypressen trägt der Traum
Verworrnes Wort der eingeschlafnen Sänger.
Der Grillen Laut vermischt sich ganz der Nacht.

Du hast ins Astwerk einer großen Pinie
Dein Saitenspiel gehängt. Du möchtest ruhn.
Stark duftet Lorbeer aus den schwarzen Gärten.
Die schweren Lider hat die Sphinx gesenkt.


Traum

Mit goldnen Bienen war dein Kleid bestickt. Ich sann,
Wieviele Süße sie an deine Glieder trügen,
Wieviel Musik ihr sickerndes Gesumm.
Du schwiegst. Es war ein Singen in den Simsen,
Als klängen alle Gläser noch einmal
So hell, wie wir sie einst in Lust geleert.
Ich war bei dir und in erregtem Stammeln
Ein Mund voll Gott, und dieses würgte mich:
Ich war bei dir und hatte nach dir Heimweh,
Dies Heimweh, das der ausgeweinte Himmel
Ins Fenster hing, das aus dem Duft der blassen,
Der überblühten Blust die Flucht befiehlt.

Der Mond ward feindlich. Blank vor Eifersucht.
Wie einer Frau, die abends Staat abtut, entglitt
Gewölk, das ihn zuvor verbarg. Er drohte,
Da lösten sich die vielverflochtnen Finger fremd.
Ich neigte tief mich, letzten Kuß und Träne trinken.
Ich schmückte deine Stirn mit einem Stern. Entlassen
Dann, ja entlastet, gingst du in die Nacht.

Ich blieb. O, daß ich blieb. Nun stumpft sich meine Stunde,
Wenn ich im Dunkelraum den Hänfling pfeifen lehre...
Ich send ihn früh dir nach als einen Gruß.


Für eine Freundin

Du bist der dunkle Wind, der über meine Stirn geht,
Der Sturm kündet, streifend am Strand,
Der das Meer bleiern macht, wenn nur noch weiße
Möwen kreischend flattern um zischender Wogen Brandung.

Du bist der dunkle Wind, der über meine Stirn geht,
Gewaltigen Seesturms Bote, der aufbricht am Strand,
Der, zorniger Kamm, das rauhe Dünengras furcht,
Du stille schmeichelnde Hand...

Hans Schiebelhuth (* 11. Oktober 1895 in Darmstadt; † 14. Januar 1944 in East Hampton, New York, USA) war ein expressionistischer deutscher Schriftsteller und Dichter. Die Gedichte sind aus seinem Band "Wegstern" von 1921

Donnerstag, 16. Februar 2017

Rudolf Fuchs: Variationen nach Heinrich Heine / Die weiße Rose



Variationen nach Heinrich Heine

I.

Ich hatte einst ein schönes Vaterland.
Hier war der Raum
und war die Zeit mir herzlich zugewandt.
Es war kein Traum.

An fünfzig Jahre hab ich da gelebt.
Man glaubt es kaum,
wie weit das Leben reicht, wie tief es strebt!
Es war kein Traum.

II.

Wo wird einst des Wandermüden
letzte Ruhestätte sein?
In den Staaten? In dem Süden?
England? Böhmen? . . . Wieder mein?

Werd´ ich wo in einer Wüste
eingescharrt von fremder Hand?
Oder ruh´ ich an der Küste
eines Meeres in dem Sand?

Komm´s, wie´s kommt! Mich wird umgeben
froher Werktag, dort wie hier;
nach dem letzten Kampfe schweben
Friedenssterne über mir.


Aus: Gedichte aus Reigate, London 1941, Privatdruck
Rudolf Fuchs (* 5. März 1890 in Poděbrady, Mittelböhmen, Österreich-Ungarn; † 17. Februar 1942 in London) war deutsch-tschechoslowakischer Dichter und Übersetzer. Sein erster Gedichtband erschien 1913 in Heidelberg, bis zu seinem Tod im Exil in London, wo er bei einem Bombenangriff starb, sollten noch zwei weitere folgen. Sein letzter war "Gedichte aus Reigate", dessen erstes Gedicht die "Variationen nach Heinrich Heine" waren. Dass er ausgerechnet am Todestag des von ihm verehrten Dichters selber starb, und auch im Exil, wenn auch nicht in Paris, sondern in London, ist vielleicht eine Ironie der Geschichte. . .

Die weiße Rose

Als erste erwacht die weiße Rose.
Ich lehne am Fenster, von Schlaf nicht gestillt.
Der Himmel erschauert in grauer Hypnose.
Der Garten liegt da  -  ein begonnenes Bild.

Noch lang hat der Vogel im Busch nicht gezwitschert,
ans naß-schwarze  Grün sich kein Umriß getraut,
als mich schon dein schimmernder Gruß hat erschüttert,
da ich vor dem Tag hinuntergeschaut.

Ich sah in der Zeitung ein Schlachtfeld in Flammen,
herübergefunkt durch den Ätherraum. . .
Schlag über mich, liebreiche Rose, zusammen,
begrab mich im Schlaf. Und sei mir ein Traum.

1940

Mittwoch, 15. Februar 2017

Jura Soyfer: Lied von der Erde



Lied von der Erde

Denn nahe, viel näher, als ihr es begreift,
Hab ich die Erde gesehn.
Ich sah sie von goldenen Saaten umreift,
Vom Schatten des Bombenflugzeugs gestreift
Und erfüllt von Maschinengedröhn.
Ich sah sie von Radiosendern bespickt;
Die warfen Wellen von Lüge und Haß.
Ich sah sie verlaust, verarmt – und beglückt
Mit Reichtum ohne Maß.

Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde,
Voll Leben und voll Tod ist diese Erde,
In Armut und in Reichtum grenzenlos.
Gesegnet und verdammt ist diese Erde,
Von Schönheit hell umflammt ist diese Erde,
Und ihre Zukunft ist herrlich und groß.

Denn nahe, viel näher, als ihr es begreift,
Steht diese Zukunft bevor.
Ich sah, wie sie zwischen den Saaten schon reift,
Die Schatten vom Antlitz der Erde schon streift
Und greift zu den Sternen empor.
Ich weiß, daß von Sender zu Sender bald fliegt
Die Nachricht vom Tag, da die Erde genas.
Dann schwelgt diese Erde, erlöst und beglückt,
In Reichtum ohne Maß.

Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde,
Voll Leben und voll Tod ist diese Erde,
In Armut und in Reichtum grenzenlos.
Gesegnet und verdammt ist diese Erde,
Von Schönheit hell umflammt ist diese Erde,
Und ihre Zukunft ist herrlich und groß!


Aus: "Der Weltuntergang", sein erstes Stück, das im Frühsommer 1936 uraufgeführt wurde. 
Jura Soyfer wurde am 8. Dezember 1912 in Charkow, Ukraine geboren und starb am 16. Februar 1939 im KZ Buchenwald an Typhus. Er ist einer der bedeutendsten politischen Schriftstellern Österreichs in den 1930er Jahren. 

Otto zur Linde: Nach Mitternacht





Nach Mitternacht



Des Dichters einsame Lampe glüht
Noch spät nach Mitternacht –
Die Welt liegt längst in Kissen müd,
Wenn er am Schreibtisch wacht.



Der Tag schloss seine Tore zu,
Die Nacht ist aufgetan.
Nun alles Laute sank zur Ruh,
Hebt Leises lieblich an.



Verborgnes Spinnrad summt und singt –
Des Dichters Seele lauscht,
Was aus dem Innen zu ihm dringt,
Was aus dem Unten rauscht.



Und seines Zimmers Wände rolln
Weit auseinander; fern
Ist nah nun; aus dem Wundervolln
Ergießt sich Strom und Stern.



Des Dichters Welt ist voll umstellt
Von Bildern wahr und groß.
Geheimstes ist nun ganz erhellt
Und jede Hülle bloß.



Was ihn aus Augen angeschaut
Am Tag so rätselblind,
Das ist ihm offen anvertraut
Und schuldlos wie ein Kind.



Die überirdsche Blume blüht,
Die Herzen trunken macht.
Des Dichters einsame Lampe glüht
Noch spät mach Mitternacht.



Otto zur Linde, geboren am 26. 4. 1873 in Essen, gestorben am 16. 2. 1938 in Berlin, war ein seltsam vergrübelter Dichter. Zusammen mit Rudolf Pannwitz, einem anderen, ähnlich ausgerichteten deutschen Schriftsteller und Philosophen, gab er 1904 bis 1911 eine Zeitschrift mit dem bezeichnenden Namen "Charon" heraus. Er lebte zurückgezogen in Berlin, 1925 stellte er das Schreiben ein. In seinen letzten Jahren seines Lebens erblindete er mehr und mehr und versank in Melancholie und Depression.

Vieles seines späteren Schaffens erinnert mich an den Tao Te King von Laotse. So schrieb er viele Gedichte, ungereimt und philosophischen Inhalts, die ähnlich auch in chinesischen taoistischen Werken hätten stehen können:

Das ist die neue Frömmigkeit,

Die nicht mehr vorwegnimmt
Weder ein Ziel noch einen Abschluß.

Seele ist sich.
Wenn du dich „wiedererkennst“,
Hilfst du der Welt.

Aber wenn du nicht „vorwegnimmst“,
Nimmt deine Rachsucht
Auch nicht mehr hinterweg.

So befriede ich mich
Meiner Einsamkeit
Und warte auf der Welt „Antwort“.

Otto zur Linde





„Ich habe das Herz eines Toren, so wirr und dunkel.
Die Weltmenschen sind hell, ach so hell;
nur ich bin wie trübe.
Die Weltmenschen sind klug, ach so klug;
nur ich bin wie verschlossen in mir,
unruhig, ach, als wie das Meer,
wirbelnd, ach, ohn Unterlaß.
Alle Menschen haben ihre Zwecke;
nur ich bin müßig wie ein Bettler.
Ich allein bin anders als die Menschen:
Doch ich halte es wert,
Nahrung zu suchen bei der Mutter.



Aus: Laotse  -  Tao Te King, 20. Abschnitt, Übersetzung von Richard Wilhelm


Sonntag, 12. Februar 2017

Josefa Metz: Dichterliebe / Mein Lieben




Dichterliebe

Die Novelle, in der Du geschildert hast
Wie unsre Liebe gescheitert,
(Ein Meisterwerk der Erfindungskunst)
Hat mich unendlich erheitert.

Ich lachte oft laut, trotzdem darin
Ströme vergossener Tränen,
Kläglicher Jammer, endloses Leid,
Wirklich hochtragische Szenen.

Und als ich las, wie Dir ohne mich
Qualvoll die Tage verflossen,
Hätt' ich aus Mitleid mit Dir beinah
Die bittersten Tränen vergossen. -

Daß über unsre Liebe Du
Verbreitest so rührende Mythen  -
Mein Gott, das ist dichterische Lizenz,
Und ich kann es Dir nicht verbieten.

Ich kann nur, wenn ich Dein Meisterwerk
Im Stillen mir betrachte,
So recht empfinden, wie grenzenlos,
Wie unsäglich ich Dich verachte.

Und ich fühle eine brennende Scham
Darüber, daß einst wir uns fanden,
Und daß ich es bin, die Dir dazu
Mit der Seele Modell gestanden.



Mein Lieben

Mein Lieben war kein wildes Ansich-Drücken,
Kein sturmbewegtes, tolles Weltbeglücken.
Kein herrisch Fordern und kein trotzig Wagen,
Kein starkes Bannen und in Fesseln schlagen. -

Ein Hand in Hand, ein See!' in Seele schmiegen,
Ein Kampf, entbehrend, glückliches Besiegen. - -
Und was mir blieb von meines Glückes Stunde?
Ein stilles Herz mit still-verborg'ner Wunde.

Weites Wiesenland, von Wald umsäumt,
Bunt durchwoben, golden übersonnt;
Eine blasse Hügelkette träumt
Müde hingedehnt am Horizont.

Und die Stunde: Voll erblühter Tag
Zwischen Morgenlicht und Mittagsglut,
Tief und still, nur leis wie Uhrenschlag
Pocht der Specht nach Nahrung für die Brut.

Tief und still, versunken Lärm und Leid.
Nur wir zwei zu träumerischer Rast
Hingebettet in die Einsamkeit,
Reich umkränzt von buntem Sommerglast. -

Bliebe doch im weiten Weltenraum
Diese Stunde uns für immer stehn! ...
Ach, sie wird, ein schöner, stiller Traum,
Unaufhaltsam in den Abend gehn. -





Josefa Metz, geboren am 19. 10. 1871 in Minden, war Dichterin und Schriftstellerin. Aufgrund ihrer Herkunft, ihr Vater war ein jüdischer Rechtsanwalt, wurde sie 1935 beim Reichsverband Deutscher Schriftsteller nicht aufgenommen und konnte nur noch innerhalb des Kulturbundes Deutscher Juden veröffentlichen. 1941 wurde sie in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie am 13. 2. 1943 aufgrund der unmenschlichen Bedingungen dort verstarb.




Samstag, 11. Februar 2017

Hugo Ball: Legende

 

Legende

Vor einem hellen Marienbild
Spielte ein Bettler die Geige.
Die Vögel sangen im Herbstgefild,
Der Tag ging schon zur Neige.

Er spielte der Reben süße Last,
Die hingen ihm bis zur Stirne,
Er spielte den reifen Apfelast
Und der Berge schneeige Firne.

Er spielte der blauen Seen Licht,
Die leuchteten ihm aus den Augen.
Er sang zu der Geige und immer noch nicht
Wollte das Lied ihm taugen.

Da sang er den Mond und die Sterne dazu
Die konnte er alle verschenken
Und weinte des Waldes einsame Ruh,
Die tät seine Geige tränken.

Er spielte und sang und merkte kaum
Wie Maria sich leise bewegte
Und ihm beim Spiel ihrer Hände Schaum
Auf die wehenden Locken legte.

Er drehte beim Spiele sich hin und her,
Das tönende Holz unterm Kinne.
Er wollte, daß seine süße Mär
In alle vier Winde zerrinne.

Da stieg die Madonna vom Sockel herab
Und folgte ihm auf seine Wege.
Die gingen bergauf und gingen bergab
Durch Gestrüpp und Dornengehege.

Er spielte noch, als schon der Hahn gekräht
Und manche Saite zersprungen.
Auf Dreien spielt er die Trinität
Auf zweien die Engelszungen.

Zuletzt war es nur noch das heimliche Lied
Vom eingeborenen Sohne.
Maria deckte den Mantel auf ihn
Darin schläft er zum ewigen Lohne.


Hugo Ball (*22. 2. 1886 ; † 14. 9. 1927), als Dada zum Dadaismus wurde, wandte er sich mit Emmy Hennings anderen Gefilden zu. . .

Die Maria auf dem Foto ist im Mittelalterofen des Keramikums im Töpferdorf Fredelsloh entstanden.


Dienstag, 7. Februar 2017

Alfons Paquet: Frag Adam

Ölbild: Andrea Rausch, Fredelsloh


Alfons Paquet, geboren am 26. Januar 1881 in Wiesbaden; gestorben am 8. Februar 1944 in Frankfurt am Main war Journalist, (Reise-)Schriftsteller, Konservativer, überzeugter Pazifist und seit 1933 Quäker. Er wurde 1935 von den Nationalsozialisten als „Kommunist“ verhaftet, kam aber frei und konnte sich ein einkommen als Journalist und Reiseschriftsteller sichern. Er verzichtete auf Emigration, obwohl viele seiner Bücher verboten und verbrannt wurden. Am 8. 2. 1944 starb er während eines Bombenangriffes an einem Herzinfarkt im Keller seines Wohnhauses.




Frag Adam

Befohlen wird uns. Das fühlen wir. Aber von wem?
Gespielt wird mit uns. Das fühlen wir. Aber von wem?
Bunt sind die Fahnen, grausig die Waffen, herrlich
Die Tage der Geschichte. Aber gut ist auch die Stille,
Die der Biene gehört zur Bereitung des Honigs. Die Blumen
Gedeihen im Tau der Frühe und sehnen sich schon am Mittag
Im Licht des Mondes zurück. Die ernsten Tannen freilich
Setzen Ring an Ring und schaffen ihr Harz, das macht sie
Stark und geschmeidig und voll Rauschen im Wind
Und den ganzen Wald, wenn auch die Axt blitzt,
Völlig zum Dach des pfadsuchenden Gehers,
Dem Wild auch und dem Jäger, der ja nicht immer kommt.

Geh weit in fremdes Land bis die Gletscher hinter dir sind,
Wo die gewaltige Gobi träg ihre Dünen wälzt
Und ihr Sand wie Wasser nochmals am Fels sich bricht,
An roten Mauern um den salzrandigen See.
Es bietet sich die Forelle dem Griff
Der Reiterhände. Feuer lodert aus Dung.
Adler speisen an deinem Herd.
Steig ein und schwebe, am donnernden Bolzen hängend,
In den Wolkensaal, der leer steht zum Fest.
Der Gestalten, die in der Ferne zögern in Glanzgewändern.
Das ist nur Estrich da oben, alabastern und glatt wie Schnee,
Wenn auch gewichtslos, so daß eine Feder abwärts wehend
Die Schicht durchschlüge.
Die Sonne steht goldenheiß triumphierend im blauen Nichts,
Drin der Erdball sich dreht. Sein Helles, Belcitetes sinkt
Klaglos ins Dunkle. Dem Dunklen aber scheinen Sterne,
Die dem Blick der Sonne nicht sichtbar sind.
Weißt du, ob du je schon gestorben bist?
Weißt du sicheren Trost?
Ists nicht das erstemal, daß du stirbst?
Also hebe den Becher mit blassem Wein,
Den gläsernen, schönen Becher, und faß ein Herz,
Frag Adam, der in dir ist, frage den alten Mann
Von Millionen Jahren. Den alten Dunklen frage,
Der in dir haust und saust und braust,
Den Erstgeborenen, Tiefverlorenen,
Dem die Augen funkeln.
Frag ihn, das selbstgerechte Luder, das dem Bruder,
Dem Heimgekehrten, nicht verzeiht
Und ihn verklagt und ihn bespeit
Und an das Kreuz ihn schlägt
Und auf das Grab sein Siegel legt.
Frag ihn, der tausendmal gestorben ist,
In Lust verlodert und in Haß vermodert,
Ein Grab, das stärker als der Auferstandne ist.
Frag ihn: was sagt Christ und Gegenchrist?

Wer einmal sterbend war und die Ölung empfing und genas,
Bleibt kein Lebender wie die andern.
Auch zu den Toten ging er noch nicht.
Er bleibt im Schatten, eigentümlich dem Zwischenland,
Schon ausgesprochen dem andern Reich. Dennoch gehört
Auch das Seltsame, was ihm geschieht,
Jenem Reiche noch nicht an.
Sondern diesem. Er ist umwittert und außer Verbindung hier.
Außer Verbindung dort. Er lebt im Perlmutter
Der ungewohnten Dinge. Ist denn kein andres Jenseits,
Als das in uns? Nein. In ein andres
Haben wir keine Voraussicht. Keine.
Weder die Wüste, noch auch der Wolkensaal
Sind für dich oder nicht für dich. Am Ende erst
Ahnst du Allgegenwart. Ahnst du, was alles Einem geschieht.

Herr, Allgrausamer  -  Herr, Allgütiger, so erbarme
Dich des Gefangenen auf seinem Schemel in kahler Zelle.
Des Verstoßenen gedenke in seiner Einzelhaft. Gedenke derer,
Die mit Entsetzen lauschen dem schleifenden Schritt im Gang
Und dem Kettenklirren in der Nachbarzelle.
Herr, höre nachts im Schweigen aller Wälder,
Aller Städte, aller Eisenbahnstrecken, überm Meer noch,
Was da aufsteigt aus den Klöstern, aus dem kahlen Stein
Düsterer Kirchen, das ewige Gebet, die unablässige Brandung
Und die schreienden, murmelnden, schluchzenden
Einzelstimmen in ihr, den Ferngesang.
Herr, der Brennenden nimm dich an in der Hölle,
Der Schuldigen, die verurteilt sind mit kurzer Frist.
Ihnen schenkst du freilich Gewaltiges: den Fluch der Bilder,
Dem Verbrecher den Kelch mit dem vergossenen Blut,
Die Sättigung am gemordeten Leib,
Die Schreckenslust am sprühenden Blick
Des Pfers. Das weicht lange nicht. Das steht.
Herr, gedenke der Reichen, die mehr als andre zittern
In ihren großen Hotels, daß ein Erdbeben alles
Auf seine Riesenschultern nehme und schüttle.
Auch der Unschuldigen erbarme dich, die ohne Bilder
Und ohne Ängste schlafen. Ihrer vor allem. Rühre sie nicht an. 

Befohlen wird uns. Du, horche auch du ein wenig.
Gespielt wird mit uns. Du, laß uns den Blick
Gebannt auf das kleine sausende Spiel
Und den ermatteten Sprung der Kugel,
Und nach dem Schweigen, das Dumpfes sammelt,
Die elektrische Lust des neuen Anfangs.
Durch die Tür der Träume
Tritt ein in die Zwillingswelt unsrer Stuben,
Wo das Bett steht, wo das Wasser läuft, wo der Kräuter-Ofen,
Der alte, glüht und raucht. Dort scheide denn
Arznei und Asche.

(1936)

Aus: „An den Wind geschrieben, Lyrik der Freiheit 1933 – 1945“, gesammelt, ausgewählt und eingeleitet von Manfred Schlösser unter Mitarbeit von Hans-Rolf Ropertz; Schriftenreihe Agora, Darmstadt 1960