Sonntag, 31. Dezember 2023

Elisabeth Janstein: Ein junger Dichter spricht

 



Ein junger Dichter spricht:

Ich will euch nicht mehr „Poesie“
Und sanfte Schönheit geben.
Wild, wie ein Schrei, sei euch die Wahrheit meiner Bilder
Und immer grausamer, verbissener, wilder
Erschaff ich euch den wirren Taumel „Leben“.
Ihr soll die Qualen, Blut und Schweiß
Vor Augen haben.
Sollt nicht mehr das herrische Geschmeiß
Mit zugekniffenen Lidern spielen,
Sollt es schütternd fühlen.
Was Mensch sein und was leben heißt.
Das ungeheuere Rad, das kreist
Und wirbelnd durcheinander dreht,
Dass Schönheit, Schmutz in Eins verrinnen,
Wo alle Wahrheit auf dem Kopfe steht. -
O hört ihr nicht? Ich will euch hören machen!
Ich schreie euch die Wahrheit ins Gesicht,
Da klirrt und bricht.
Mit einem Male Leichtsinn, Lust und Lachen.
Ich hab es satt, euch Lügen aufzubaun,
Die euren feigen Sinne schmeicheln,
Zu loben und zu streicheln,
Wo Schmutz und Trug aus bunten Fetzen schaun.
Die Vogel-Strauß-Manier verfängt nicht mehr,
Die lang verhaltene Flamme schlägt,
Ein Sturmwind trägt
Euch bitteres Wissen aus dem Dunkel her.
Nun hütet eurer Seele Spiegel gut,
Dass ihn der Wahrheit Hammer nicht zerbricht.
Es taucht des neuen Morgens Licht
Die fahle Welt in Brand und Glut. . .

Elisabeth Janstein, aus der Zeitschrift  Ver!, herausgegeben von Karl F. Kocmata, Doppelheft 14 / 15, Mai 1918

Elisabeth Janstein, geboren als Elisabeth Jenny Janeczek am 19. Oktober 1893 in Iglau, Österreich-Ungarn; starb am 31. Dezember 1944 in Winchcombe, Borough of Tewkesbury, England im Exil. Sie war eine böhmisch-österreichische Dichterin und Journalistin.

Samstag, 30. Dezember 2023

Jesse Thoor: In einem Haus / In der Fremde / Auferstehungssonett

 



In einem Haus

In einem Haus, auf feinem Tannenreiser,
sitzen ein Bettelmann und ein Kaiser.

Beide summen und lachen und trinken
und reden laut und leise und winken.

Ein volles Jahr rollt über das Dach.
Ein volles Jahr rollt über das Dach.


In der Fremde

Ist es so auf Erden?

Bin in die Welt gegangen.
Habe mancherlei angefangen.
Aber die Leute lachten.

Auf dem Felde gegraben.
Einen Wagen gezogen.
Einen Zaun gerade gestellt.
Tür und Fenster gestrichen.
Warme Kleider genäht.
Hölzerne Truhe gezimmert.
Feine Stoffe gewoben.
Goldenes Ringlein geschmiedet.

Was soll nun werden?

Werde nach Hause wandern,
und barfuß ankommen.


Auferstehungssonett

Die Wolken ziehn am Horizont wie weiße Vögel schon gelassen hin.
Doch traumverwirrt noch schläft der Glockenblume blauer Schlag.
Es liegen staunend Dachs und Hund und Hamster auf den Knien.
Und wundersam von zarter Röte überhaucht erwacht der jüngste Tag.

Dies ist der milde Atem wohl, der tröstend in den Lüften schwebt.
Schon regt es sich in allen Zweigen und die Bäche raunen.
Von allen Gipfeln zittert es beglückt und drängt und bebt,
dem Sphärenjubel ähnlich und den Liedern himmlischer Posaunen.

Wer spricht hier noch, wie fern ich war im Strome wesenloser Dinge?
Nun blühe ich empor aus jedem Tropfen und aus jedem Blatt,
und trinke mich mit tausend Mündern an der frühen Klarheit satt.

Aus Zedernholz sind meine Flügel, die ich rauschend schwinge.
Aus Meerschaum ist mein Leib, und meine Füße sind Kristall.
Und Sonnenstaub ist alles, was ich schuf aus meinem tiefsten Fall.

Jesse Thoor, aus: Gedichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975

Jesse Thoor, geboren am 23. Januar 1905 als Peter Karl Höfler in Berlin; gestorben am 15. August 1952 in Lienz/Osttirol, deutsch-österreichischer Schriftsteller. Er begab sich früh auf Wanderschaft quer durch Europa. Sein Vagantenleben führte ihn nach Italien, Spanien, Ungarn und die Niederlande, wobei er zeitweise als Heizer in der Küstenschifffahrt arbeitete. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ging Thoor 1933 nach Österreich. Er lebte in Wien und arbeitete als Tischler, Bildhauer und Silberschmied. Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 floh er nach Brünn in der Tschechoslowakei. Hier nahm er sein Pseudonym „Jesse Thoor“ an. Im Dezember 1938 erhielt er, auf Anregung von Franz Werfel, durch Vermittlung der American Guild for German Cultural Freedom für sich und seine Frau Friederike Blumenfeld eine Einreiseerlaubnis nach Großbritannien. Allerdings war er zeitweise als „Feindlicher Ausländer“ in Devon und auf der Isle of Man interniert. Nach der Entlassung arbeitete Thoor in Heimarbeit für einen Londoner Goldschmied. (Wiki)

Das Bild ist von Félix Vallotton (1865 - 1925)

Freitag, 29. Dezember 2023

Gustav Sack: Abend

 



Abend

Und wieder ein Abend; ein Tag in das Nichts,
das grenzenlose Nichts gerollt -
in den bleiernen Wolken ein Sterben des Lichts
und über den Wäldern der Mond, gelb wie altfränkisches Gold.

Nun dunkelt es schnell; ein Wind macht sich auf
und rasselt im Schiefergedäche am Turm -
kopfüber purzelt der Tage Lauf
vor der Ewigkeit drohendem Sturm.

Gustav Sack, aus: Gesammelte Werke in zwei Bänden, herausgegeben von Paula Sack, Zweiter Band, S. Fischer Verlag, Berlin 1920

Gustav Sack, geboren am 28. Oktober 1885 in Schermbeck; „gefallen“ am 5. Dezember 1916 bei Finta Mare, Rumänien), Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker.


Das Bild ist von Félix Vallotton (1865 - 1925)

Donnerstag, 28. Dezember 2023

Emmy Hennings: Gefängnis

 



Gefängnis

I

Am Seil der Hoffnung ziehn wir uns zu Tode.
Beneidet auf Gefängnishöfen sind die Raben.
Oft zucken unsre nie geküssten Lippen.
Ohnmächtige Einsamkeit, du bist erhaben.
Da draußen liegt die Welt, da rauscht das Leben.
Da dürfen Menschen gehn, wohin sie wollen.
Einmal gehörten wir doch auch zu denen,
Und jetzt sind wir vergessen und verschollen.
Nachts träumen wir Wunder auf schmalen Pritschen,
Tags gehn wir einher gleich scheuen Tieren.
Wir lugen traurig durchs Eisengitter
Und haben nichts mehr zu verlieren
Als unser Leben, das Gott uns gab.
Der Tod nur liegt in unsrer Hand.
Die Freiheit kann uns niemand nehmen:
Zu gehen in das unbekannte Land.


II

Im Süden rauscht das Wasser Seide.
Wir wohnen in den schmalen Zellen.
durchs Gitter dringt in kleinen Wellen
Die Sehnsucht nach der fernen Heide.

Mein Taschentuch hat grünen Saum.
Ein gelbes Feld ist in der Mitte.
Und auf und ab sechs kleine Schritte. . .
Mein Taschentuch - mein grüner Baum.


III

Es war in der heiligen Weihenacht,
Ich lag in stiller Zelle.
In überirdischer Helle
Der Stern von Bethlehem hielt wacht.

„Vom Himmel hoch, da komm ich her“
Es läuten alle Glocken.
Im Sträflingskleid auf Socken:
„Ich bring euch gute neue Mär.“

Emmy Hennings, aus: Helle Nacht, Gedichte, verlegt bei Erich Reiss, Berlin 1922

Emmy Hennings, geboren am 17. Januar 1885 in Flensburg; gestorben am 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano, Dichterin, unter anderem Mitbegründerin des legendären Cabaret Voltaire 1916 in Zürich. 1914 war sie wegen Diebstahls und Verdachts auf Beihilfe zur Fahnenflucht für mehrere Monate in einem Münchner Gefängnis inhaftiert.

Dienstag, 26. Dezember 2023

Adolph Donath: Unser Glück

 



Unser Glück

Es hat die Nacht die bleiche Hand erhoben
Und tausend Sterne hingesät.
Durch mondeshelle Lüfte weht
Zitternd die Sehnsucht von dort oben; -

Sie steigt hinab, von Licht und Traum umschlungen
Und drückt das Glück in unsre Hand.
Da hat sich von der Himmelswand
Ein weißes Sternchen losgerungen . . .

Adolph Donath, geboren am 9. 12. 1876 in Kremsier, Mähren, gestorben am 27. 12. 1937 in Prag war ein Schriftsteller, Lyriker und Kunstkritiker. Seit 1905 in Berlin, flüchtete er 1933 nach Prag, wo er im Dezember 1937 verstirbt.

Das Bild "Sternenhimmel Versuch" ist von Wenzel Hablik (1881 - 1934)

Hans Schiebelhuth: Schlafliedchen / Heinrich Lautensack: Der liebe Gott und das Kiind

 



Schlafliedchen

Im Goldgestäng deiner Wiege sitzen
Silberne Vögel,
Pfeifen:

Lullezu, der Ruhrufer,
Rollefort, die Holdtolle,
Schneileis, der Reihreif.

Alle Dächer blendet Mond,
Engel werfen sich Sternchen zu,
Blütenschlachten.

Klinglicht, singt der Wind,
Tragsanft, sagt der Bach,
Blauen Traum, rauscht der Baum.

Zehn gehn im Klee,
Sandmännchen sinds, kommen
Segen säen.

Wo sie gesät, da schießt um dein Bett
Baldachinbusch Schlummer bald,
Wunderwald Schlaf.

Glockenblumen pfadlang läuten
Hummeln herbei, Bläulinge,
Den weißen Zaunkönig zärtlich zu dir.

Hans Schiebelhuth


Der liebe Gott und das Kind

Über dem Weinen schlief es ein.
Nun träumts – nun lächelts unter Träumen.
Und ist ein Schweigen in allen Räumen
und hoch am Himmel Lichterschein.

Über dem Weinen schlief es ein.
Und über seinen kleinen Nöten
hats ganz vergessen, zu Gott zu beten.
. . . Und hoch am Himmel Lichterschein. . .

Über dem Weinen schlief es ein.
Nun träumts – nun lächelts unter Träumen.
Und Gott lässt Schweigen in allen Räumen
und hoch am Himmel Lichterschein.

Heinrich Lautensack

Hans Schiebelhuth, geboren am 11. Oktober 1895 in Darmstadt; gestorben am 14. Januar 1944 in East Hampton, New York, USA, expressionistischer Schriftsteller und Dichter.

Er schrieb für Zeitschriften wie Der Weg und Münchner Blätter für Dichtung und Graphik. Von Heft 4 bis 11 war Schiebelhuth Mitherausgeber der wichtigen hannoverschen Zeitschrift Der Zweemann (1919/1920). Er war als Mitglied des Henndorfer Kreises eng befreundet mit Carl Zuckmayer und hatte auch Verbindungen zu dem Kreis um den Dichter Stefan George. Mit Carlo Mierendorff, Theodor Haubach, Fritz Usinger arbeitete Schiebelhuth in Darmstadt an der Zeitschrift Das Tribunal. Hessische radikale Blätter mit, der Fortsetzung der Zeitschrift Die Dachstube; Das Tribunal erschien von 1919 bis 1921, herausgegeben von Carlo Mierendorff im Verlag Die Dachstube. Mit seiner kongenialen Übersetzung der Romane Schau heimwärts, Engel! und Vom Tod zum Morgen von Thomas Wolfe wurde Schiebelhuth so bekannt, dass darüber sein eigenständiges dichterisches Werk vielfach unbeachtet blieb.

Im Herbst 1923 heiratete er die reiche US-Amerikanerin Alice Trew Williams. Gemeinsam mit seiner Frau fuhr Schiebelhuth im Mai 1937 in die Vereinigten Staaten, um sich in einer New Yorker Fachklinik wegen seines schweren Herzleidens behandeln zu lassen. Er kehrte nicht nach Deutschland zurück, blieb jedoch in brieflicher Verbindung mit Fritz Usinger, Herbert Nette, Ernst Kreuder und anderen deutschen Freunden. Mit Carl Zuckmayer traf Schiebelhuth in jenen Jahren oft zusammen.

Schiebelhuth starb in seinem ländlichen Anwesen in East Hampton auf Long Island.
Schlaflied aus: Schalmei vom Schelmenried. 1933


Heinrich Lautensack, geboren am 15. Juli 1881 in Vilshofen; gestorben am 10. Januar 1919 in Eberswalde, aus der Sammlung Die Documente der Liebesraserei - Die gesammelten Gedichte, 1910

Unter dem Einfluss der Schwabinger Szene brach er 1901 sein Mathematikstudium ab und schloss sich dem Kabarett Die Elf Scharfrichter an. Hier lernte er Frank Wedekind kennen, der ihn zu eigenen lyrischen und dramatischen Versuchen ermunterte. 1907 ging er nach Berlin, wo er als freier Schriftsteller lebte. Er wirkte bei den Zeitschriften Die Aktion und Das neue Pathos mit, übersetzte aus dem Englischen und Französischen, bearbeitete Stücke anderer Autoren für die Bühne und nahm journalistische Gelegenheitsaufträge an. Der Tod des zeitlebens von ihm verehrten Frank Wedekind 1918 wurde zum Auslöser einer Geisteskrankheit. Bei Wedekinds Beerdigung auf dem Münchner Waldfriedhof fiel er den Trauernden auf, als er laut schreiend und gestikulierend Filmaufnahmen der Beerdigung machen ließ. Er starb ein Jahr später in der Nervenheilanstalt Eberswalde.


Das Bild ist von Albert Anker (1831 - 1910)

Montag, 25. Dezember 2023

Jakob Haringer: Besuch im Stall

 



Besuch im Stall

O Josef, nimm die Stall-Latern
Und leucht den Hirten heim!
Mein kleiner Jesu schlief wohl gern
Vor seiner argen Pein.
Die Herren haben Hunger jetzt
Nach Bier und Leberwurst,
Wir haben leider nichts im Haus
Für ihren großen Durst.
Drum Josef, nimm die Stall-Latern,
Das Wirtshaus ist nicht weit,
Und trink auf unsern kleinen Herrn,
Ich wart schon noch die Zeit.
Und sing das kleine Jesulein
Zur Ruh, zur süßen Ruh,
Man kann nicht immer glücklich sein,
Mein kleiner Engel du!

Jakob Haringer, Lyriker, geboren am 16. März 1898 in Dresden als Johann Franz Albert; gestorben am 3. April 1948 in Zürich. „Ein Sonntagskind, in einer Welt ohne Sonntage“, nannte Hermann Hesse den Dichter.

Das Foto zeigt die Maria mit dem Kinde von der Fredelsloher Krippe. Die Figuren sind, wie es sich für ein Töpferdorf gehört, aus Ton und im Mittelalterofen am Keramikum, dem Keramikmuseum in Fredelsloh, in den letzten Jahren getöpfert und gebrannt worden, unter der Ägide von Johannes und Janne Klett-Drechsel.

Samstag, 23. Dezember 2023

Toni Schwabe: Heilige Nacht

 



Heilige Nacht

Nimm du meine Fremdheit
In die Heimat auf.
Deine Tür ist Ruhe,
Schließt sich golden auf.

Bis zu deinen Knien
Ging mein müder Weg,
Deck mich wie ein Mantel,
Dass sich nichts mehr reg.

Aller Atem schweige,
Licht verlösch in Nacht,
Denn in deiner Liebe
Hab ich mich vollbracht.

Toni Schwabe aus: Das Landhaus, Eine literarische Monatsschrift, herausgegeben von Toni Schwabe, Fünfter Jahrgang 1920

Schwabe, Toni, die am 31. März 1877 in Blankenburg (Thüringen) zur Welt kommt, Enkelin des leidenschaftlichen Schiller-Verehrers und zeitweiligen Weimarer Oberbürgermeisters Carl Leberecht Schwabe, lebt ab 1885 mit ihrer Familie in Jena. Hier besucht sie die Höhere Töchterschule, ist später Hospitantin an der Universität. Nach dem Abbruch einer kunstgewerblichen Ausbildung widmet sie sich der Schriftstellerei. 1902 erscheint ihr erster Roman „Die Hochzeit der Esther Franzenius“, in dem erstmals in der neueren deutschen Literatur die lesbische Liebe thematisiert wird. Dieses Debüt wird von Thomas Mann enthusiastisch besprochen. Weitere Prosaarbeiten folgen, aber auch mit Gedichten tritt Schwabe hervor, in denen sie dem gleichgeschlechtlichen Liebeserleben poetischen Ausdruck verleiht. 1916 gründet sie in Jena den Landhausverlag und gibt die Zeitschrift „Das Landhaus“ heraus, in der u. a. Autoren wie Hilde Domin, Kasimir Edschmid, Klabund, A. R. Meyer und Alfred Wolfenstein vertreten sind. Nach der Ausbombung in Berlin lebt die Dichterin ab 1944 wieder in Bad Blankenburg, wo sie mittellos und vereinsamt am 17. Oktober 1951 stirbt. (Aus dem Klappentext des 25. Heftes des VERSENSPORN, welches im Herbst 2016 erschien, bietet mit insgesamt 53 Gedichten aus den Jahren 1902 bis 1949 einen Querschnitt durch das lyrische Schaffen Schwabes. 10 der abgedruckten Gedichte sind bislang unveröffentlicht.)

Das Bild ist von Henryk Szczygliéski (1881 - 1941)

Freitag, 22. Dezember 2023

Hugo Zuckermann: Ein Lied vom Tode

 



Ein Lied vom Tode


Was ist der Tod?
Ein Abendrot,
In dem dein Glühen still verloht,
Oder wirklich die schwarze Wand,
Die uns wie ein Gefängnis umspannt?
Unseres Lebens Uferrand,
Ist es Anfang oder Ende?
Gewesenes und Werdendes reichten sich die Hände,
Bald ist's, als bände
Er Blumen, die er schnitt,
Als er über die Wiesen des Lebens ritt,
Zu bunten Gewinden.
Bald aber gleicht er dem Blinden,
Der alles niedertritt
Mit unbeholfenen Bauernsohlen;
Bald kommt er sich holen
Die schönste, wie zum Ringelreihn,
Oder er lädt tausend Gäste ein
In sein fernes Schloß.
Bald ist er Brautgenoß,
Bald verbuhlter Ehebrecher,
Bald ein frecher Kinderdieb.

Doch haben ihn lieb
Die Kleinen.
Nur die Großen weinen,
Weil sie sein Spiel nimmer verstehn,
Weil sie nimmer wollen geradeaus gehn;
Viele Wege locken in dunkle Alleen.

Wer Wunder will sehen,
Muß mit ihm gehen,
Dem Pfadefinder — —
Das wagen nur Kinder.

Aus: Hugo Zuckermann, Gedichte, R. Löwit Verlag Wien 1915

Hugo Zuckermann, geboren am 15. Mai 1881 in Eger, Österreich-Ungarn; gestorben am 23. Dezember 1914 ebendort. Zusammen mit Oskar Rosenfeld hatte er 1908 die Jüdische Bühne, das erste jüdische Theater in Wien, gegründet, das bis 1938 bestand. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg, er erlag seinen Verletzungen in seiner Geburtsstadt und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Eger begraben.

Friederike Ehrmann: Mädchen im Kriege

 



Mädchen im Kriege


Sie gehen langsam, wie in dunklen Schächten
Und tasten suchend nach dem Sonnenlicht.
Sie träumen so viel Grau´n in langen Nächten,
Dass jedes Morgens Glanz daran zerbricht.
Ihr Schreiten ist ein schweres, müdes Wanken,
Ihr junger Körper kennt nicht Spiel noch Tanz.
Um ihre ersten, scheuen Lenzgedanken
Wand´ Tod und Sorge einen Dornenkranz.
Sie wissen nichts, - sie ahnen nur und schauern -
Von ihres Weibtums Seligkeit und Leid,
Sie harren hinter siebenfachen Mauern
Vom Glück getrennt und von der Jugendzeit.

Friederike Ehrmann, aus der Zeitschrift Ver!, herausgegeben von Karl F. Kocmata, Doppelheft 14 / 15, Mai 1918

Friederike Ehrmann, Pseudonyme Fritzi Ehrmann, vielleicht auch El-Ha, El Hor (es gibt Hinweise darauf), geboren in Wien 1891, Schriftstellerin, Schauspielerin, Rezitatorin, zeitweilig in der anarchistischen Bewegung aktiv, gestorben nach dem 12. Mai 1939, vermutlich im Holocaust ermordet. Es gibt einen Gedichtband von ihr, Wege zur Sonne, herausgegeben im Verlag des Ver!, März 1918

El Hor bzw. El Ha war eine unter Pseudonym schreibende Autorin des Expressionismus, deren bürgerliche Identität bislang unbekannt ist. Sie publizierte in einem Zeitraum zwischen 1913 und 1923.

Das Bild ist von Edvard Munch (1863 - 1944)

Donnerstag, 21. Dezember 2023

Lili Grün: Weihnachtsvorbereitung einer Junggesellin

 



Weihnachtsvorbereitung einer Junggesellin

Am 24. Dezember
Will ich zeitig schlafen geh n.
Ich bin allein und arm und klein,
Es schenkt mir keiner was,
Es lädt mich niemand ein.
Soll ich verlassen
Im leeren Kaffeehaus sitzen
Bei schalem Kaffee
Und längst gelesenen Witzen?
Ich pumpe mir ´nen Kriminalroman
Und pünktlich sieben Uhr kriech ich ins Bett
Und fang zu lesen an.
Soll ich mir selbst ein Bäumchen kaufen
Mit allem drum und dran?
Was nützt es denn:
Ich denk an Dich und das vergang´ne Jahr,
Und wie es damals war,
Und fang zu weinen an. . .
Ach was, lass nur dies 34 nur zu Ende geh n:
Silvester, das ist klar,
Silvester will ich tanzen geh n,
Silvester soll die Welt mich seh n,
Silvester geh ich richtig aus
Und suche mir für 35
Von allen Männern
Den Allernettesten aus!

Lili Grün, aus: Prager Montagsblatt 1934

Lili Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern ging sie Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo sie 1931 zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der Künstlerszene ein literarisch-politisches Kabarett eröffnete. Zurück in Wien verarbeitete sie ihre Berlin-Erlebnisse in ihrem Roman "Alles ist Jazz", der erstmals 1933 unter dem Titel "Herz über Bord" im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Mit der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und am 1. Juni 1942 mit anderen Opfern, darunter die Dichterin Alma Johanna Koenig, im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.

Das Foto der Künstlerin aus: Der Tag vom 6. 12. 1936

Dienstag, 19. Dezember 2023

Josef Adolf Bondy: Heimkehr / Prag

 



Heimkehr

Wieder zog ich in die schmale
Graue, winkeltiefe Gasse,
Wo mich alle Leute kennen,
Deren Namen ich vergessen,
Und dieselben alten Hüte
Mich gevattermäßig grüßen.
Kehr' ich spät und immer später,
Mag ich draußen König werden
Und den Erdball umgestalten:
Sie sind immer noch dieselben,
Und ich wuchs auf ihrem Pflaster,
Und ich spielte ihre Spiele,
Und so bin ich ihresgleichen.
Und es ist, als wär' Verwirrung
Draußen aller Kampf gewesen,
Und ich wär' von langem Fieber
Diese Stunde erst genesen.
Und da stehn sie in den Toren
Mit den Frauen, mit den Kindern,
Um mir linde Luft und Sonne,
Mut auf neuem Weg zu wünschen.
Wenn ich Dankesworte streue
Wie Dukaten für die Güte,
Heben sie die alten Hüte
Und verneigen sich aufs neue.


Prag

Tauche auf in Abendschöne
Über Türmen, altes Prag,
Und mit goldnen Fenstern kröne
Der Hradschin den Werketag!

Von den Kirchen in die Gassen
Rinnt des Schweigens dunkle Flut,
Nur der Moldau Wogenmassen
Kochen wie empörtes Blut.

Und ein Heer von Schatten reitet
Über Brücken, hoch von Stein,
Und es teilt sich, und es gleitet
In die Winkelstadt hinein.

Friedhofstür geht auf. Die spitzen,
Alten Blöcke dicht gedrängt,
Kaum, daß sich in schmalen Ritzen
Moos durch grauen Marmor zwängt.

Tausend Köpfe ohne Regung,
Wie geduckt vor der Gefahr –
Doch auf einmal kommt Bewegung
In die ungeheure Schar.

Steine springen aus der Erde,
Schwere Steine aus der Gruft,
Schon zerreibt die wilde Herde
Fledermäuse in der Luft.

Plötzlich stürzt der Tanz der Steine,
Alle ragen kunterbunt ...
Stehen spät im Dämmerscheine
Noch wie taumelnd auf dem Grund.

Josef Adolf Bondy, aus: Deutsche Lyrik aus Österreich seit Grillparzer. Ausgewählt und eingeleitet von Camill Hoffmann, Meyer & Jessen, Berlin 1912

Josef Adolf Bondy, geboren am 23. 6. 1876 in Prag, gestorben am 20. 12. 1946 im Exil in London, Lyriker, Journalist und Theaterkritiker. Unter anderem gab er 1897 zusammen mit Alfred Guth 1897 die Sammlung „Moderne Dichtung" heraus.

Bondy studierte Philosophie und Literaturgeschichte in Berlin und Prag. 1900 wurde er an der Prager Universität promoviert. Von 1901 bis 1904 wirkte er als Redakteur der Zeitung Bohemia. Er gab die Zeitschrift Junge Dichter heraus, in der Rainer Maria Rilke seine erste Veröffentlichung hatte. Er zog nach Berlin und wirkte von 1904 bis 1933 als Journalist und Redakteur in Berlin, unter anderem als Korrespondent für die Neue Freie Presse, als Herausgeber der Neuen Revue und des Morgen im Jahre 1907. 1909 wirkte er als Redakteur von Nord und Süd und Feuilletonredakteur bei der Berliner Nationalzeitung.

1933 emigrierte Bondy aufgrund der Nationalsozialisten nach Genf, wo er Experte für Völkerbundfragen war. Bis 1938 schrieb er auch für die Neue Wiener Zeitung. Später emigrierte er weiter in das Vereinigte Königreich, wo er bei Fritz Demuth im Central European Joint Comittee tätig war. In London verfasste er weiter literaturwissenschaftliche Werke. Er schrieb für das vom britischen Informationsministerium herausgegebene und von Dietrich Mende geleitete Wochenblatt Die Zeitung. (Wiki)

Der Dichter Camill Hoffmann wurde am 31. Oktober 1878 in Kolín, Böhmen geboren; im Oktober 1944 wurde er im KZ Auschwitz ermordet.

Das Foto zeigt eine Postkarte Prag 1910

Montag, 18. Dezember 2023

Erich Mühsam: Wenn mich dereinst in fernen Ewigkeiten. . .

 



Wenn mich dereinst in fernen Ewigkeiten,
In einem andern, fremden, neuen Leben,
Wo ich von mir und Menschheit nichts mehr weiß,
Und nichts von fernen, längst vergangenen Zeiten, -
Wenn dann aus dunkler, schwerer Sehnsucht leis
Die Schatten dieses Daseins mich umschweben; -
Dann soll wie eine Ahnung diese Stunde
In meine Träume steigen, wo zur Nacht
Ich Ewigkeit erfuhr aus Gottes Munde, -
Wo ich gedichtet, was ich nie gedacht.

Erich Mühsam, (6. 4. 1878 - 10. 7. 1934), Dichter, Anarchist, Suchender mit kindlichem Herzen, Mitinitiator der Münchner Räterepublik, dafür von den Nazis gehasst und schließlich im KZ Oranienburg ermordet.

Aus: Wüste - Krater - Wolken, 1. Auflage 1914, 2. Buch: Der Krater, 1904 - 1908

Das Bild ist von Marianne von Werefkin (1860 – 1938)

Sonntag, 17. Dezember 2023

Felix Grafe: Nun will der Herbst mit welken Blättern. . .

 



Nun will der Herbst mit welken Blättern
mir meine blasse Stirne kränzen,
wenn Nebel durch die Äste klettern
in grauen, wunderlichen Tänzen.

Fühlst du, wie in den Hauch von Küssen
ein Schauer fremder Nächte gleitet?
Und wie ein Wiederwandernmüssen
dir neue Wege vorbereitet?

Aus: Felix Grafe, Dichtungen, ausgewählt und eingeleitet von Joseph Strelka, Bergland Verlag Wien, 1961

Felix Grafe, geboren 9. Juli 1888 in Humpolec, Österreich-Ungarn; gestorben 18. Dezember 1942 in Wien; eigentlich Felix Löwy, Lyriker und Übersetzer.

Seine ersten Gedichte erschienen 1908 in der Zeitschrift Die Fackel von Karl Kraus. Neben eigenen Dichtungen schuf Grafe Übersetzungen und Nachdichtungen aus dem Englischen und Französischen von William Shakespeare, Oscar Wilde oder Charles Baudelaire. Daneben begründete Felix Grafe die Zeitschrift Anbruch.

Nach dem Ersten Weltkrieg lebte Grafe, wie auch sein Bruder, in Wien. Hier wurde ihm 1941 ein antifaschistisches Gedicht zum Verhängnis, das er für die illegale kommunistische Zeitschrift Hammer und Sichel verfasst hatte. Er wurde im Juli verhaftet und schließlich am 18. Dezember 1942 wegen Zersetzung der Wehrkraft und Vorbereitung zum Hochverrat im Landesgericht Wien in der Landesgerichtsstraße 11 hingerichtet.

Wilhelm Runge: Lieder

 



Lieder

Deine Augen ruhen auf mir
kaum kann ich sie tragen
Frieden
schenke deinen Händen
sie erheben sich bei deinen Worten
demütig
ein betend Volk
Wein
bis du in allen Adern
trunken finden die Gedanken nicht
herzaus herzein
tasten alle hin an deiner Stimme
den verwirrten Weg
entlanggeführt.

* * *

Nicht mehr wandern darf ich durch dein Antlitz
plötzlich falle ich in deiner Augen
tiefe Schlucht
alle Berge schlagen über mir zusammen
mit den Wellen deines Haars
wirf des Lachens Rettungsring
ganz dünn
ist meine Stimme
und wird zerreißen
meinen Wurzeln schließt die Hand dein Felsen
und des Auges Rose liegt gebrochen
du bist blauer Himmel
ich die Wolke
die sich fest an deinen Nacken klammert
sich nicht halten kann
und tausendfingrig
regenschreckt erdhin
den Wiesengrund
und dort hinsinkt himmellosgelöst auf ihr weiches Knie

* * *

Garnicht aufstehn mögen meine Augen
denn der Weg, den sie einst gingen
steht jetzt voller Widersprüche
Haben sie sich kaum erhoben
schlägt sie schon ein neu Geschehen
wie mit Ruten nieder.
Darum weichen sie hin nach der Heimat
allen fremden Worten aus
werden tief wie je ein Brunnen
und Erinnerung zerreißt den Spiegel
Tage tauchen auf
ganz maidurchdrungen
Primeln läuten durch das Wiesengrün
und das Flattern bunter Pfauenaugen
Blumen finden nicht mehr ihren Duft
ganz versunken in dem Rausch der Farben
Zweige zwitschern
grünhin summt das Gras
eine Spinne spinnt feinwunderwas
und die Bäume
schäkern mit den Tauben.

* * *

Eis den Weg entlang
knisternde Seide
sehnsuchtsvogelflüchtig
wangenheiß
jagt das Blut pulslang bis in die Sterne
Scholl' um Scholle
treibend Eis
Tannenwälder duften hoch
die Worte fallen
leishin wie Zapfen
moosgedämpft
und tief waldinnen
Kinderlacht das Herz
im Krippenschoß
wenn durch der Adern Zweige
wieder loht die Weihnachtszeit.

Wilhelm Runge, aus: Der Sturm, Nummer 21 - 22, 1 Februar 1916

Wilhelm Runge, geboren am 13.6.1894 Rützen/Schlesien, am 22.3.1918 bei Arras „gefallen“. In Schlesien aufgewachsen, ging Wilhelm Runge 1914 als Kriegsfreiwilliger an die Front. Vor Ypern wurde er im Nov. 1914 verwundet, 1915 kam er nach Berlin u. studierte Medizin. Dort schloss er sich dem »Sturm«- Kreis um Herwarth Walden an. Besonders eng befreundete er sich mit Georg Muche, damals Lehrer an der Kunstschule des »Sturm«, und dessen Braut Sophie van Leer. Im »Sturm« erschien fast seine gesamte Lyrik. Anlässlich seines frühen Todes schrieben Franz Richard Behrens, Kurt Heynicke u. Walter Mehring poetische Nachrufe; Muche widmete ihm ein Ölgemälde zum Gedächtnis. Das einzige Buch, der Gedichtband Das Denken träumt (Berlin 1918), wurde von Wilhelm Runge noch im Feld korrigiert, aber erst nach seinem Tod veröffentlicht.

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Freitag, 15. Dezember 2023

Selma Merbaum: Ich bin der Regen / Ich bin die Nacht

 



Ich bin der Regen

Ich bin der Regen, und ich geh’
barfuß einher von Land zu Land.
In meinen Haaren spielt der Wind
mit seiner schlanken, braunen Hand.

Mein dünnes Kleid aus Spinngeweb’
ist grauer als das graue Weh.
Ich bin allein. Nur hie und da
spiel’ ich mit einem kranken Reh.

Ich halte Schnüre in der Hand,
und es sind auf ihnen aufgereiht
alle die Tränen, welche je
ein blasser Mädchenmund geweint.

Sie alle habe ich geraubt
bei schlanken Mädchen, spät bei Nacht,
wenn mit der Sehnsucht Hand in Hand
sie bang auf langem Weg gewacht.

Ich bin der Regen, und ich geh’
barfuß einher von Land zu Land.
In meinen Haaren spielt der Wind
mit seiner schlanken, braunen Hand.


Ich bin die Nacht

Ich bin die Nacht. Meine Schleier sind
viel weicher als der weiße Tod.
Ich nehme jedes heiße Weh
mit in mein kühles, schwarzes Boot.

Mein Geliebter ist der lange Weg.
Wir sind vermählt auf immerdar.
Ich liebe ihn, und ihn bedeckt
mein seidenweiches, schwarzes Haar.

Mein Kuss ist süß wie Fliederduft -
der Wanderer weiß es genau...
Wenn er in meine Arme sinkt,
vergisst er jede heiße Frau.

Meine Hände sind so schmal und weiß,
dass sie ein jedes Fieber kühlen,
und jede Stirn, die sie berührt,
muss leise lächeln, wider Willen.

Ich bin die Nacht. Meine Schleier sind
viel weicher als der weiße Tod.
Ich nehme jedes heiße Weh
mit in mein kühles, schwarzes Boot.

Selma Merbaum (in anderer Schreibweise Selma Meerbaum-Eisinger), deutschsprachige Dichterin aus der Bukowina, 5. 2. 1924 geboren, starb 16. 12. 1942 als verfolgte Jüdin im Zwangsarbeitslager Michalowika in der Ukraine.

Aufmerksam auf diese Dichterin bin ich von der Schriftstellerin Marion Tauschwitz gemacht worden, die auch eine lesenswerte Biografie über die Dichterin geschrieben hat“ „Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben - Biografie und Gedichte. Mit einem Vorwort von Iris Berben“ zu Klampen! Verlag 2011. In diesem Buch sind auch sämtliche Gedichte von Selma Merbaum enthalten.


Victor Wittner: Rückblick

 



Rückblick


Was ist das Leben denn gewesen?
. . . Die Türen auf- und zugemacht,
die Kleider an- und abgestreift,
bei Tag geträumt, gewacht bei Nacht,
und viele Straßen Tag und Nacht
die Einsamkeit mit sich geschleift,
von ihrer Krankheit oft genesen,
zu ihrer Weisheit nie gereift.
In Zeitungen die Zeit gelesen,
im Wahnsinn ihren Sinn bedacht,
hineingeweint in seine Seele
und oft aus überenger Kehle
die ganze Angst herausgelacht!
Im Bad gesäumt, geträumt, geseift,
gesehnt und einer Frau gedacht,
die man beim Tanze süß gestreift. . .
und ganz erstaunt das fremde Wesen
im Spiegel prüfend überwacht,
das unser Ich, doch unser nie gewesen.

Victor Wittner, geboren am 1. 3. 1896 in Herta, Rumänien, gestorben am 27. 10. 1949 in Wien, Schriftsteller und Lyriker.

Wittner arbeitete ab 1928 als Redakteur und von Januar 1930 bis Mai 1933 als Chefredakteur der in Berlin herausgegebenen Kulturzeitschrift „Der Querschnitt. Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte“. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 ging er zurück nach Wien, wo er aus Armut häufig die Wohnung wechseln musste. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 floh er nach Prag und dann in die Schweiz. Er wurde zunächst interniert und lebte dann in Flüchtlingsunterkünften in Zürich. Er erhielt in der Schweiz erst 1945 eine Arbeitserlaubnis. Ab 1947 hielt er sich zeitweise auch wieder in Wien auf.

Das Bild ist von Edvard Munch (1863 - 1944)

Donnerstag, 14. Dezember 2023

Wassily Kandinsky: Lied

 



Lied

Es sitzt ein Mann
Im engen Kreis,
Im engen Kreis
Der Schmäle.
Er ist vergnügt.
Er hat kein Ohr,
Und fehlen ihm die Augen.
Des roten Schalls
Des Sonnenballs
Er findet keine Spuren.
Was ist gestürzt,
Das steht doch auf.
Und was nicht sprach,
Das singt kein Lied.
Es wird der Mann,
Der hat kein Ohr,
Dem fehlen auch die Augen
Des roten Schalls
Des Sonnenballs
Empfinden keine Spuren.

Am 13. 12. 1944 starb in Neuilly-sur-Seine, Frankreich der 1866 in Moskau geborene Maler Wassily Kandinsky.

1913 erschien im Piper-Verlag (München) in einer Auflage von 345 Exemplaren sein als „musikalisches Album“ konzipiertes Buch „Klänge“. Darin sind 38 Prosagedichte, 12 farbige und 44 schwarz-weiße Holzschnitte abgedruckt. Es ist ein grenzgängerisches Werk zwischen Literatur und Malerei, die Texte waren in deutscher Sprache geschrieben.

Die Illustration ist aus diesem Werk.



Mittwoch, 13. Dezember 2023

Artur Fencl: Lebenslied / Rast auf halben Weg

 



Lebenslied

Du ewiger Wandel im bunten Kleid,
Zeit, Raum, Leben, Tod und Ewigkeit!
Ich pflücke die Goldfrucht vom Lebensbaum
und träume den uralten Menschheitstraum:
von der Freiheit wie Frühsonnengold so rot,
von schäumender Freude, von harter Not.
Der Tag war mir düster, die Nacht war mir hell,
an des Tages Tafeln bin ich Rebell,
ein Verbrecher an den Gesetzen der Zeit
und ein Gläubiger an die Ewigkeit.
An die Ewigkeit, die der Freiheit gehört
und Tafeln aller Tage zerstört.


Rast auf halben Weg

Der Weg vor mir:
ein dunkles Tor,
eine offene Tür
und die Nacht davor.
Was hinter mir liegt?
Das, was ich besiegt.

Artur Fencl

"Der Tod gleicht alles aus. Artur Fencl ist, sechsundzwanzigjährig, vor einigen Wochen gestorben. Er war ein Dichter und ein Original in des Wortes gutem Sinne. Im Kampf des Lebens kamen wir auseinander, nachdem wir Beide durch sein Verschulden kurz nach Kriegsausbruch drei Monate erfolgloser Untersuchungshaft unter dem Verdacht der Geheimbündelei im Wiener Landesgericht verbrachten. Nun ist er, der Sprecher der Geächteten, die man bei Tag nicht grüßt, der Tuberkulose erlegen. Im Alter von neunzehn Jahren gab er einen Novellenband: „Wege, die wir gehen müssen“, heraus. Deutlicher zeigte sich sein eigenartiges Können in dem 1914 erschienen Gedichtband „Sumpfblüten“, der freilich auch ungekaute Verse enthält, aber ein Ruf aus der Tiefe des Großstadtlebens war und bleibt. In den Gedichten vorangehenden Einleitungsworten spricht Artur Fencl Dinge, die ans Herz greifen. Dass seine frühe Jugend - Fencls Vater soll ein hoher Offizier gewesen sein - in goldene Flut von Wohlhabenheit und Güte getaucht war und dass die Gedichte Erlebnisse behandeln, die er im Bruch gemacht hat. Fencl, der wirklich Perlen im Morast zu finden wusste, hatte einen Großstadtroman in Arbeit. Welches Schicksal dieses Manuskript nun finden mag? Fencl war Anarchist und dichterischer Anwalt jener Frauen, die der Bürger Tags verachtet. Einige seiner letzten Geichte seien hierher gesetzt.

Nun ist Fencl auf halbem Weg durchs dunkle Tor zur Rast gegangen. Die Erde sei ihm leicht!"

Karl F. Kocmata. aus der Zeitschrift Ver!, herausgegeben von ihm, Doppelheft 16 / 17, Juni 1918

Karl Franz Kocmata, (16. Januar 1890, Wien – 29. November 1941, Wien), Pseudonym Karl Hans Heiding, war ein österreichischer Schriftsteller, Dichter, Zeitschriftenherausgeber und später Anarchist. Er war mit Erich Mühsam befreundet.

Das Bild ist von Henryk Szczyglinski (1881 - 1944)

Montag, 11. Dezember 2023

Max Herrmann-Neiße: Nun, da es Abend. . .

 



Nun, da es Abend, lasst uns wieder reden
Von unsern Träumen und von unsern Liedern
Und dem, was einst auf schillernden Gefiedern
In seinen Himmel führte einen jeden.

Und gib mir deinen Trank und lass mich spenden
In leuchtendem Krystall aus meinem Schreine
Der tiefsten, süßen Schwermut dunkle Weine,
Auf dass die Wonnen sich im Rausch vollenden.

So lass uns auf zum weiten Saale steigen,
Der schwindelnd hoch in Wolken ragt vermessen,
Wo sich die Seelen taumelnd selbst vergessen, -
Und dann verstummen und für ewig schweigen ...

Max Herrmann-Neiße, aus: Das Buch Franziskus, Verlag A. R. Meyer, Berlin-Wilmersdorf, Juni 1911

Max Herrmann-Neiße, geboren am 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; gestorben am 8. April 1941 in London, Deutscher Dichter, von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, in dem er 1941, wurzellos, starb.

Die Illustration ist von Giovanni Segantini (1858 - 1899)

Sonntag, 10. Dezember 2023

Hans Kaltneker: Aufblick

 



Aufblick

In irgend einem fernen Forste schlagen
sie für den Winter Holz — horch, Scheit um Scheit!
Nicht "uns'ren" Winter. Deinen — meinen. Weit
ist's, wo du einkehrst, nie werd' ich's erfragen.

Du hast ein Heim, du lebst in stiller Zeit,
du fandest Hände, die dich gütig tragen. —
Ich werde dich den leeren Wänden sagen,
ich bin dem Dunkel und dem Frost bereit.

Gut war der Sommer! Gut ist alles Leben!
Ich ahne deine Hände aus dem Blau
- zwei große, stille Falter - niederschweben -

nie ward'st du alle Welt, geliebte Frau!
Es blieb nur Du - - ! Noch ein paar Sommertage
halt aus, mein Herz! Sei selig, — weine, — trage - - !

Hans Kaltneker (eigentlich Hans Kaltnecker von Wallkampf), geboren am 2. Februar 1895 in Temesvár, Königreich Ungarn, Österreich-Ungarn; gestorben am 29. September 1919

in Gutenstein (Niederösterreich), Dramatiker, Lyriker und Erzähler. Er war einer der Hauptvertreter des österreichischen Expressionismus, er verstarb früh an Tuberkulose. Felix Salten nannte ihn „eine Flamme, die leuchtend und hoch aufloderte, und plötzlich erlosch, vom ewigen Dunkel verschlungen.“

Das Bild ist von Carl Friedrich Wilhelm Trauschhold (1815 - 1877)

Bruno Ertler: Ewigkeiten

 



Ewigkeiten

So beginnen Ewigkeiten – –

Wenn von herbstdurchbebten Bäumen
still die Blätter nieder gleiten,
wenn in blauen Sehnsuchtsweiten
eines Vogels Lied verweht – –
Wenn ich tief in deinen Augen
deine reine Seele grüße
und wir dann im Sonnensinken
wortlos betend heimwärts schreiten – –

So beginnen Ewigkeiten. –


Aus: Eva Lilith - Gedichte von Bruno Ertler, Wiener Literarische Anstalt Wien Berlin 1919

Bruno Ertler, Geboren am 29.01.1889 in Pernitz (Niederösterreich); gestorben am 10.12.1927 in Graz. Er studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Graz. Dort arbeitete er auch als Journalist, Redakteur und Schriftsteller. Ertler litt an einem unheilbaren Leberleiden, dem er schließlich erlag.

Samstag, 9. Dezember 2023

Ottokar Winniky: Die Blätter des wilden Weins werden rot. . . / Schon dämmern die Hügellehnen. . . / Tod als milder Gast

 



Die Blätter des wilden Weins werden rot.

Hinter der Gartenmauer beginnt die Weite.
Wenn ein Ästchen hier bricht,
zuck´ ich zusammen: Wer bog´s zur Seite?
War es der Tod?
Aber dort draußen hört man ihn nicht.

Hinter der Gartenmauer beginnt die Weite.


* * *

Schon dämmern die Hügellehnen.
Das Dorf versinkt. Lass mich allein,
dort unten auf dunklen Kähnen
liegt bald ein grüner Mondenschein.
Dort ist ein Gehn von jenen,
die nicht mehr sind und die ein Stein,
ein flutgehöhlter, dauert,
der ängstlich niederkauert.
Ich will der Liebe Spielmann sein
dem Meer, das draußen lauert.


Tod als milder Gast

Du schweigst: das war wie Flockenfall,
Dein Schweigen deckte kühl und leis
Der späten Lampe müden Kreis.

Du sprachst: das war wie Glockenhall
Hinter den Hügeln eines Traums,

Dann -- deiner Geste sanft Geheiß:
Ein Dämmern fernsten Ufersaums.

Ottokar Winnicky, geboren am 13. 6. 1872 in Usti nad Labem (heute Tschechien) gestorben am 13. 7. 1943 in Libušina, aus: Das bunte Schild, Neue Gedichte, Hugo Heller und Cie, Wien und Leipzig, 1910

Das Bild ist von Elihu Vedder (1836 - 1923)

Freitag, 8. Dezember 2023

Friedrich Glauser: Schwarze Mauern

 



Schwarze Mauern

Richte schwarze Mauern um dich;
sie werden dir Schutz geben.
Sogar die gelben Strahlen des Mondes
werden zersplittern an ihrer rußigen Farbe.
Mit blutenden Händen werden die Menschen bemalen
den schattenden Hintergrund.
Wie viele Töne singender Herzen verstummen,
wenn die Mauern wachsen
und verfinstern den gelben Abendhimmel.
Nur das Wimmern der Tiere dringt noch zu dir,
das Zischen der Sense durch saftiges Gras.
Richte schwarze Mauern auf um dich
und lass summen die kreisenden Mückenschwärme.

Friedrich Glauser, aus: Pfützen schreien laut ihr Licht, Gesammelte Gedichte, Nimbus Verlag, Wädenswil 2008

Friedrich Glauser, geboren am 4. 2. 1896 in Wien, gestorben am 8. 12. 1938 in Nervi bei Genua. Sein Leben war geprägt von Drogenabhängigkeit und Internierungen in psychiatrischen Anstalten. Trotzdem erlangte er mit seinen Erzählungen und Feuilletons, vor allem jedoch mit seinen fünf Wachtmeister-Studer-Romanen, literarischen Ruhm.

1917 debütierte Glauser als Dichter, als er 21-jährig zusammen mit Hugo Ball und Tristan Tzara bei den legendären Dada-Soiréen im Cabaret Voltaire auftrat.

Emmi Hennings über den Dichter: «Ich lernte ihn […] in der ‹Galerie Dada›, im Sprünglihaus an der Bahnhofstrasse kennen. Dort saß ich grad mal an der Kasse, als Glauser kam, der sich die Sturmausstellung ansehen wollte. [….] Und dann sah er sich die Sturmbilder an, und fand allmählich Gefallen, öfter zu kommen. […] Glauser hat dann auch mehrmals in der Galerie gelesen, eigene Sachen und Nachdichtungen.»

Das Foto zeigt Friedrich Glauser in der Psychiatrischen Klinik Münsingen, in der 1918 das erste Mal, insgesamt etwa sechs Jahre einsaß. «Es ist mir, auch wenn es mir ganz schlecht gegangen ist, immer gewesen, als hätte ich etwas zu sagen, etwas, was außer mir keiner imstande wäre, auf diese Art zu sagen.»

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Eugen Domansky: Nocturno

 



Nocturno

Der Abend sinkt herab.
Die Seele, die tagsüber hastend und jagend
Dem Lauf der Ereignisse folgt,
Sinkt in dämmernde Ruh.
Die Kanten verschmelzen,
Eintöniges, wohltuendes Dunkel herrscht ringsum überall.
Aus dem Kampfe gezogen,
Vom Widerstande befreit
Klingen wieder die Saiten des entspannten Gemüts.
Zartfühlender wird die Seele
Und schluchzt manchmal
Ganz unbewusst
Im Traum.

Eugen Domansky, Lebensdaten nicht bekannt, aus der Zeitschrift Ver!, Herausgeber Karl F. Kocmata, Doppelheft 28/29 Dezember 1918 / Januar 1919

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Gustav Sack: Die Zeit

 



Die Zeit

Noch kommt mit der Unsterblichkeit gepaart
die Zukunft ewig strömend zu dir her
und schafft auf ihrem unbewegten Meer
in dir den Wellenschaum der Gegenwart;

sie prallt in unergründlich schneller Fahrt
aufgischend an an deiner Seele Wehr
und bricht durch dich in einem Sturze, der
schon als Vergangenheit sich offenbart.

Bis eines Tages sich der Schaum zerstreut
und deiner Seele Balkenwerk zerfällt -
und Strom ist nicht mehr Strom, still steht die Zeit:

fort strömt die Zeit und trägt die tote Welt
auf ungeteilter Flut zur Ewigkeit,
wo sie mit ihrer Last als Wort zerschellt.

Gustav Sack, aus: Gesammelte Werke in zwei Bänden, herausgegeben von Paula Sack, Zweiter Band, S. Fischer Verlag, Berlin 1920

Gustav Sack, geboren am 28. Oktober 1885 in Schermbeck; „gefallen“ am 5. Dezember 1916 bei Finta Mare, Rumänien), Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker.

Die Illustration ist von Cristoforo de Predis (1440 - 1486)

Dienstag, 5. Dezember 2023

Gustav Sack: Der Traum

 



Der Traum

Er kam von Nirgendwo, er nahm mir leise
der Dinge Metermaß und Stundenglas
und gab mir, was ich lange schon vergaß,
zurück in wundersam verzerrter Weise:

Was einst ich stammelnd schrieb zu deinem Preise,
wird jetzt ein Jauchzen ohne Ziel und Maß -
ob deine Nacktheit, die ich nie besaß,
tanzt um mich weiße, fieberwilde Kreise!

Sie tanzt - ! du rast, du bist ganz tolle Glut,
umwogt von deines Haars wildgoldnen Strähnen
umkreist mich deine liebesgierge Wut

gleich einem Roß mit strumzerzausten Mähnen - -
oh schönen Traumes heiße Bilderflut,
aus der ich aufwach unter bitteren Tränen!

Gustav Sack, aus: Gesammelte Werke in zwei Bänden, herausgegeben von Paula Sack, Zweiter Band, S. Fischer Verlag, Berlin 1920

Gustav Sack, geboren am 28. Oktober 1885 in Schermbeck; „gefallen“ am 5. Dezember 1916 bei Finta Mare, Rumänien), Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker.

Sonntag, 3. Dezember 2023

Fritz Löhner-Beda: Sonett auf das Revier im KZ Buchenwald

 



Sonett auf das Revier im KZ Buchenwald


Da liegen sie in ihren weißen Betten,
Ein leises Atmen geistert durch den Raum,
In scheuen Augen glänzt ein schwerer Traum,
Was träumen sie? Von Brot und Zigaretten!

Von fernher klirren nur des Tages Ketten,
Des Lagers Schrei ebbt an des Hauses Saum.
Durchs Fenster blinzelt ein verschneiter Baum.
Zeitweilig schlägt der Tod die Kastagnetten.

Der Mann in Weiß, der seine Kranken pflegt,
Geht durch den Saal mit freundlichen Gebärden.
Unsichtbar ist die Bürde, die er trägt.

Ward solches Schicksal je gelebt auf Erden?
Da liegen Fiebernde, vom Schmerz zersägt,
Und zittern angstgepeitscht, gesund zu werden!

(Winter 1940)

Fritz Löhner-Beda, am 24 Juni 1883 als Fritz Löwy in Wildenschwert geboren. Er studiert Jura und promoviert 1905 an der Universität Wien zum Dr. jur. Vor dem Ersten Weltkrieg schreibt er Satiren, 1920 erscheint der Lyrikband „Ecce ego“. Als Librettist von Franz Lehárs Operette "Land des Lächelns" erlangt er 1928 Weltruhm.

Ende März 1938, nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich, wird er sofort verhaftet und am 1. April mit dem sogenannten "Prominententransport", dem ersten Transport von Österreichern, ins KZ Dachau eingeliefert. Im September 1938 wird er nach Buchenwald überstellt, arbeitet in der Strumpfstopferei und ab September 1939 im Gärtnerei-Kommando. Vergeblich hofft er, Franz Lehár werde sich für seine Freilassung einsetzen. Im Lager beteiligt er sich an Kleinkunst-Aufführungen für Mithäftlinge. 1938 dichtet er den Text des "Buchenwald-Liedes", den Hermann Leopoldi vertont. Im Oktober 1942 wird Fritz Löhner-Beda in das KZ Auschwitz-Monowitz deportiert. Beim Morgenappell wird er durch Schläge eines SS-Mannes so schwer verletzt, daß er am 4. Dezember 1942 stirbt.

Lilli Haller: Dein Name

 



Dein Name

Ich bin durch die einsame Nacht gegangen,
Als alles schlief.
Da erwachte die Erle, da erwachte die Eule,
Als ich deinen Namen rief.
Deinen Namen,
Den niemand kannte
Als ich allein.
Aber es hörten ihn alle, alle,
Und an Fenstern und Laden,
Auf Treppen und Stufen
Fragt jeder, ob jemand um Hilfe gerufen.
Und ich habe deinen Namen doch nur geflüstert
In der grenzenlos einsamen Nacht.

Lilli Haller, geboren am 3. Dezember 1874 als Elisabeth Gertrud Haller in Kandergrund; gestorben am 20. April 1935 in Zollikon, Schweizer Schriftstellerin.

Das Bild ist von Léon Spillaert (1881 - 1946)

Freitag, 1. Dezember 2023

Ludwig Jakobowski: Ich aber weiß. . .

 


Ich aber weiß. . .

. . . Ich aber weiß, ich seh dich manche Nacht,
In meine Träume klingt dein holdes Lachen,
Und meine Lippen murmeln oft im Wachen
Verlor'ne Wünsche, die an dich gedacht.

Und unaufhörlich legt sich Zeit zu Zeit ...
Verweht wie deine sind dann meine Spuren,
Bis zu den Mauern jener stillen Fluren,
Wo schweigsam Hügel sich an Hügel reiht.

Dann wird der Sturmwind um die Gräber weh'n,
Der wird mit seinen regenfeuchten Schwingen
Von Menschenglück und junger Liebe singen ...

Wir aber ruh'n und werden's nicht versteh'n.

aus: Leuchtende Tage. Neue Gedichte von Ludwig Jacobowski, Dritte Auflage Berlin 1908

Ludwig Jacobowski, geboren am 21. Januar 1868 in Strelno (Provinz Posen), gestorben am 2. Dezember 1900 in Berlin, war Lyriker, Schriftsteller und Publizist.

Über das literarische Schaffen hinaus liegt die Bedeutung von Ludwig Jacobowskis in seinem repräsentativen Wirken im Berlin der Jahrhundertwende. Die Verschmelzung jüdischer und abendländischer Kulturimpulse führten zu einem außergewöhnlich reichen Schaffen auf verschiedensten gesellschaftlichen Gebieten. Neben der reichhaltigen publizistischen Begleitung seiner Zeit ist hier auch sein volkspädagogisches Engagement zu nennen, besonders sein Versuch, mit „Zehnpfennig-Heften“ wertvolle Literatur für die breite Masse verfügbar zu machen. Seine Mitarbeit im 1890 gegründeten Verein zur Abwehr des Antisemitismus schlug sich auch in seinem Werk nieder.

Vier Dichterinnen, vier Schicksale: Ite Liebenthal, Marianne Dora Rein, Margarete Eloesser, Gertrud Epstein

 



Was ich von dir nicht weiß und nicht erriet
aus Worten und Gebärden - die noch keiner
gedeutet hat wie ich! - weil ich vermied,
an dir zu rätseln und dich so viel reiner

begriff in deinem Abgeschlossensein,
brach über mich in einem Traum herein:
da sah ich, wie du bist, wenn du dich gibst.
Und deine sanfte Hoheit, wenn du liebst,

war still und spendend über mich geneigt.
Die Schale war ich, die empfängt und schweigt. -
Nun kenn ich dich! Was du mir nie gegeben,
nie geben wirst, ist doch in meinem Leben!

Und ist, - ich stahl nicht, hab es nicht erschlichen! -
als hätte ich's geraubt und wär entwichen,
und straft mich schwer, wie Heiliges ergrimmt,
das freche Hand von seiner Stätte nimmt.

Und ward mir doch gereicht und offenbart,
als meine Seele dalag unbewahrt
und ungewarnt, - und hilflos, tagvergessen
hinnahm, was ihrem Los nicht zugemessen.

Ite Liebenthal, aus: Gedichte, Erich Lichtenstein Verlag, Jena 1921

Ite Liebenthal, Lyrikerin, geboren am 15. Januar 1886 in Berlin. Auch als ihre Schwester Erna und ihr Bruder Werner nach der Machtergreifung der Nazis emigrierten, blieb Liebenthal in Berlin. Zuletzt wohnte sie als Untermieterin in der Hektorstraße 3 in Berlin-Halensee. Am 27. November 1941 wurde sie zusammen mit 1052 anderen deutschen Juden vom Bahnhof Grunewald aus nach Riga deportiert.

Auch die Dichterin Marianne Rein wird am 27. November 1941 zusammen mit ihrer Mutter mit dem ersten aus Würzburg abgehenden Transport zusammen mit weiteren 200 Personen, darunter 40 Kindern und Jugendlichen, deportiert.

Die Deportierten wurden, so eine Überlebende, in den eiskalten Wirtschaftsgebäuden des Jungfernhofes bei Riga untergebracht. Von dort gingen ab Februar 1942 Transporte ab, zuletzt am 26. März 1942 ein Transport mit ca. 1700 Menschen. Alle Abtransportierten wurden am gleichen Tag in einem Wald bei Riga erschossen.

Der Dulder

Alle Worte haben mich verlassen.
Alle Seufzer werden stumm in meinem Munde.
Ach, ich leide.
Wüssten es die andern, wie ich leide,
weiser würden sie an meinen Schmerzen.
Doch ich schweige.

Marianne Dora Rein

Auch die Dichterinnen Margarete Eloesser und Gertrud Epstein wurden nach Riga deportiert.

Das Ziel des Deportationszuges, der am 25. Januar 1942 den Bahnhof Berlin-Grunewald verließ, hieß nicht Theresienstadt, sondern Riga. Die Fahrt dauerte zwei bis drei Tage. Historiker haben das Schick sal der Deportierten nach der Ankunft des Zuges auf dem Rangierbahnhof Skirotawa, etwa acht Kilometer nordöstlich von Riga, rekonstruiert. Nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft wurden die Deportierten zunächst ins Ghetto gebracht. Was danach mit ihnen geschah, liegt nach wie vor im Dunklen.

Trüber Tag

Grau ist der Himmel und so nah;
Leise Klage tropft der Regen –
Als ich aus dem Fenster sah,
Sprüht’s durchschaudernd mir entgegen –
Als ich still das Fenster schloß,
Fühlt ich dumpf mich und gefangen –
Und in meine Augen schoß
Jenes Nass, dem ich entgangen –
Und mit Augen – tränenblind –
Seh‘ ich durch getrübte Scheiben
Regenschleier, die vom Wind
Umgewirbelt ziellos treiben.

Margarethe Eloesser, aus: Vossische Zeitung, 1. August 1926


November

Ein Novembertag ist’s, grau in grau,
Und die ersten Flocken fallen –
Leise, leise tropft der weiße Tau,
Zögernd – feuchte Nebel wallen –
Schnell verschlungen ist der weiße Glanz,
Traurig starrt die nackte Erde –
Und mit fröstelnder Gebärde
Hüllt sie sich in Nebelschleier ganz.

Margarethe Eloesser, aus: Vossische Zeitung 14. November 1929


Verona


Am dunklen Bahnhof quillt die helle Stadt,
die um dich rauscht wie altes Seidenkleid.
Der Himmel ist ein blaues Jenseits;
weit umrundet Römerstein dich jäh; und glatt
und steil umkerkern dich die ew‘gen Stufen. –
Doch daß du nicht erstarrst in Rom und Stein,
steh’n Tische auf der Straßen Gegenwart,
und bieten dir den weichen, roten Wein,
Musik und Eis. Doch schon fällt hart
und dunkel dir ein Danteschatten drauf,
von dem hinweg dich lachend rufen
nach ihrem Markt des Südens pralle Früchte. –
In Blumen träumt ein graues Liebesgrab.
Und alles glüht noch himmlischer erhöht,
wenn von der Adria ein Windhauch weht,
dem sie das blaue Wort „Venedig“ gab.

Gertrud Epstein, aus: Vossische Zeitung, 12. August 1928

„Eine besondere Anlage besitze ich in künstlerischer Hinsicht. Es sind lyrische Gedichte von mir in der Vossischen Zeitung und anderen Zeitschriften veröffentlicht, auch Märchenstücke für Kinder wurden von mir verfasst und mit gutem Erfolg aufgeführt. Diese Tätigkeit werde ich auch in Montevideo fortsetzen.“

Diese Auskunft über das eigene literarische Schaffen enthält der Lebenslauf, den Margarete Eloesser am 24. Juni 1939 in der Hoffnung niederschrieb, ihrer 1937 nach Uruguay emigrierten Tochter Elisabeth nachfolgen zu können. Doch Am 23. Oktober 1941 unterbindet das Reichssicherheitshauptamt die Auswanderung von Juden durch ein allgemeines Ausreiseverbot. Bereits kurz vor diesem Verbot werden am 18. Oktober 1941 die ersten Juden aus Berlin deportiert. Drei Monate später befindet sich Margarete Eloesser unter den 1000 Berliner Juden, die am 25. Januar 1942 mit dem „10. Osttransport“ vom Bahnhof Grunewald aus nach Riga deportiert werden. Dort wurde sie kurz nach ihrer Ankunft ermordet.

Als „schüchterne, dunkle, junge Frau“ beschreibt die Vossische Zeitung Gertrud Epstein 1928, als ihre Erzählung „Hiob“ im Rahmen der „Morgenfeier der Jugend“ in der Funkstunde übertragen wurde. Die Erzählung ist bereits 15 Jahre vorher erschienen, Gertrud Epstein 43 Jahre alt. Es ist ihr einziger bekannter Auftritt in der Öffentlichkeit. Weitere Buchveröffentlichungen nach „Hiob“ sind bisher nicht nachweisbar, auch kein Bild von ihr, Einzelheiten über ihr Leben nur sehr spärlich überliefert. Dass sie vom Judentum zum Christentum konvertiert sei, meldet das „literarische Echo“ in seiner Besprechung von Hiob 1913. Dass sie Kindergärtnerin ist, kann man dem Fragebogen zu ihren Vermögensverhältnissen entnehmen, den sie ein paar Tage vor ihrer Deportation am 2. Januar 1942 ausfüllen musste.

Was bleibt sind zwei Bücher mit Erzählungen, etwas mehr als 20 Texte und Gedichte in der Vossischen Zeitung und Andeutungen darüber, dass es mehr Texte geben muss, irgendwo in alten Zeitungen verborgen.

Das Bild „Le damnés“ (1945) ist von dem Maler Felix Nussbaum, geboren am 11. Dezember 1904 in Osnabrück, ermordet nach dem 20. September im KZ Auschwitz – Birkenau.