Mittwoch, 14. Dezember 2016

Conrad Ferdinand Meyer - Abendwolke

Andrea Rausch: Südseelandschaft blau


Conrad Ferdinand Meyer (1825 - 1898), mit diesem Namen sind für mich Schul-Lesebucherinnerungen verbunden. Mit dem meisten Zeugs, das uns als Lyrik in der Realschule angeboten wurde, konnte ich nichts anfangen. Es war einfach nur langweilig und oft nationalistisch oder moralinsauer, und musste zudem auch noch auswendig gelernt werden. Einer der weinigen Lichtblicke in diesem pathetischen Zeilenwust, den unser Deutschlehrer uns als vorbildliche Lyrik anbot, war ein kurzes Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer: "Der römische Brunnen"  -  "Auf steigt der Strahl, und fallend gießt / er voll der Marmorschale rund. . . ". Das gefiel mir in seiner Einfachheit und Schlichtheit. Lange Zeit für mich das vollendete Gedicht (aus Schulbüchern. . . ) neben Goethes "Ein Gleiches". 

Erst später durfte ich einen Kosmos an deutschsprachigen Dichterinnen und Dichtern entdecken, und vieles finden, das lebendig und ergreifend zugleich war. Und das alles stand nicht in unseren Lesebüchern, sondern musste sich mühsam zusammen gesucht werden. 

Mir geblieben ist jedoch eine gewisse Liebe zu Conrad Ferdinand Meyer. Besonders lieb gewonnen hab ich sein Gedicht "Abendwolke":

                                      Abendwolke

So stille ruht im Hafen
Das stille Wasser dort,
Die Ruder sind entschlafen,
Die Schifflein sind im Port.

Nur oben in dem Äther
Der lauen Maiennacht,
Da segelt noch ein später
Friedfertiger Ferge sacht.

Die Barke still und dunkel
Fährt hin in Dämmerschein
Und leisem Sterngefunkel
Am Himmel und hinein.

Samstag, 10. Dezember 2016

Paul Kornfeld - Aus: "Himmel und Hölle"

Das Bild ist von der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch


Keine Stunde, die uns naht,
Ist mir fremd
Denn Hand in Hand
Durchschwebten wir Äonen!
Einst in andern, längstvergangnen Tagen –
Haben wir einmal als Kinder
Voller Eintracht miteinander Ball gespielt!

Warst du Castor / War ich Pollux /
Warst du Teich und ich der Nebel /
Warst du Stein und ich der Bach /

Ach, von jenen hellen Tagen
Blieb ein Hauch,
Ach, von jenen hellen Tagen
Blieb Gesang in meiner Brust!

Keine Stunde, die uns naht,
Ist mir fremd,
Denn ins Unbegrenzte hin
Sind wir Freund!

Dann wieder einst in andern Tagen
Bist du Wind und ich die Blüte,
Bist du Strahl und ich das Blatt,
Dann wieder einst in blauen Tagen
Werden wir in süßer Eintracht
Als Schwalbenpaar von hier nach Japan ziehen -
Aus Ewigkeiten in die Ewigkeiten
Wandern die Gefühle,
Und da du bist,
Fasst, ewig zu sein, mich unendliche Lust.

Aus „Himmel und Hölle“, Tragödie in fünf Akten und einem Epilog. Fischer, Berlin 1919

Gefunden in: „Das Landhaus - eine literarische Monatsschrift“, Herausgeberin Toni Schwabe, Jena, März 1919

Paul Kornfeld wurde am 11. Dezember 1889 in Prag geboren, er wurde am 25. April 1942 im Vernichtungslager Lodz ermordet.

Bruno Ertler - Aus: Eva Lilith




Mit jedem Schritt vergingen
wir tiefer im wogenden Feld,
im Leben von tausend Dingen,
die sich in unserem Schweigen
im stummen Abendreigen
verliebter Falter fingen –
mit jedem Schritte gingen
wir weiter aus der Welt.

Und haben sie verloren;
auf Traumwegen Hand in Hand
nicht Lieb' und Treue geschworen,
nicht morgen noch gestern berufen – –
Die Schritte bauten uns Stufen,
entführten uns allen Toren –
Wir gingen der Welt verloren
und fanden eigenes Land. –


Vorübergehen

Alles ist ein Vorübergehen –
Grüßen – tastendes Händereichen –
und wenn wir uns in die Augen sehen,
so ist es ein Fragen, ein Abwehr-Flehen,
halbes Begreifen – halbes Entweichen.

Doch ist uns das bange Wunder geschehen,
daß wir tiefer Gemeinschaft heilige Zeichen
erschauernd plötzlich an uns verstehen –
dann mögen wir wohl wie im Traume gehen
und nächtlich blühenden Bäumen gleichen.

Denn über Wort und Gebärde weit
ist solcher Stunde Versunkenheit –
wie Lieder, die aus der Ferne wehen
und fernhin gehen nach goldenen Reichen. –


Gesegnete Stunde

Wenn in die Wipfel vor dem Haus
die ersten grauen Schleier sinken
und über blauer Berge Rand
die ersten Silbersterne blinken,

dann wünschte ich, du wärst bei mir:
und über deine lieben Haare
streift' ich dir leise hin und wär'
dir seltsam nah'. Und all das Wahre,
das Gute, was ich für dich hab',
ließ' des Begehrens Brennen schwinden
und meine Liebe würde still
den Weg zu deinem Herzen finden. –

Alle Gedichte aus: Eva Lilith - Gedichte von Bruno Ertler, Wiener Literarische Anstalt Wien Berlin 1919

Bruno Ertler, Geboren am 29.01.1889 in Pernitz (Niederösterreich); gestorben am 10.12.1927 in Graz. Er studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Graz. Dort arbeitete er auch als Journalist, Redakteur und Schriftsteller. Ertler litt an einem unheilbaren Leberleiden, dem er schließlich erlag.

Das Bild ist eine Farbstiftzeichnung der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch, mit freundlicher Genehmigung der Hedi Kupfer Stiftung Fredelsloh als Nachlassverwalterin. 

Freitag, 9. Dezember 2016

Hugo Hinz - Verse / Die Frau




Verse

I

Mit Weh im Herzen durch die fremden Straßen laufen
und ein Glockenläuten lang
nur stillhalten:
Das ist mein Leid
seit so vielen Tagen.

II

Der Sommer kam,
und größere Fülle ward dir, Natur.
Nun reifte langsam die Frucht
der Gebärung entgegen
und wandte sich quillend zum Licht. –
Wir träumten kaum erst unter Blütenbäumen
vom Leichten des Daseins,
da überkam uns schon
schwerdunkle Fülle des Grabes.

Hugo Hinz, geboren 1894 in Berlin, gefallen am 7. Dezember 1914 im Osten.

Hinz war in der Kriegsanthologie „1914-1916“ von Franz Pfemfert vertreten, allerdings mit den unbearbeiteten "Versen I-II" (seine letzten, die er vom Schlachtfeld an den Herausgeber geschickt hatte). In der AKTION waren zuvor vom Jan-März 1914 kurze Prosastücke (Vom reinen Gefühl, Auf eine Siegniederlage) erschienen und das Gedicht „Die Frau“.


Die Frau

Als sie mit endlichem Entschluss
das Fenster aufriss
und ihren Leib auf die Straße warf,
geschah dies so,
daß niemand es sah.
Das Schreien verhielt sie
im Bewußtsein der Tat.
Nur das erschreckte Gewein eines Kindes
Erfüllte ihr Ohr in dem Augenblick,
der zwischen Sturz und Sterben ihr blieb.
Und sie glaubte,
zuletzt erschauernd,
es weine um sie.

Aus: Die Aktion. Jg. 4, Nr. 1, 3. Januar 1914,

Das Bild "Kontrapunkte" ist von der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch, mit freundlicher Genehmigung der Hdei Kupfer Stiftung Fredelsloh als Nachlassverwalterin.

Donnerstag, 8. Dezember 2016

Jura Soyfer - Uralte Silvesterlegende

Gefunden im Skulpturenpark Gröpelingen, Bremen

Jura Soyfer wurde am 8. Dezember 1912 in Charkow, Ukraine geboren und starb am 16. Februar 1939 im KZ Buchenwald an Typhus. Er ist einer der bedeutendsten politischen Schriftstellern Österreichs in den 1930er Jahren. 

Uralte Silvesterlegende

Die Menschheit sah: Ihr altes Jahr
War schäbig und war dreckig.
Die Menschheit sah: Vom Blute war,
Vom Schweiße war es fleckig.
Die Abbau trifft im Januar,
Die fanden es zu kurz. Und bang
Schwor ihr die Arbeitslosen schar,
Es sei zu lang! Es sei zu lang!

Die Menschheit sah, daß ihr Gewand
Mehr keinem wollte passen,
Weshalb sie es für gut befand,
Ein neues sich nähn zu lassen.
Die Nacht war kalt. Die Menschheit stand
Halb hoffnungsglühend und halb nackt.
Es flog des Meisters flinke Hand
Im Uhrentakt, im Uhrentakt.

Die Uhr schlug zwölf. Der Meister rief,
Zur Erde tief sich bückend:
Das Jahr – ich spreche objektiv –
Steht Ihnen ganz entzückend!
Die Menschheit lachte, trank und schlief.
Und schlief die Nacht ganz wunderbar.
In ihren Träumen froh sie lief
Im neuen Jahr! Im neuen Jahr! ...

Die Menschheit fühlte sich sehr krank,
Als Frühfrost wach sie rüttelte,
Und als sie von der Stadtparkbank
Ein Mann, der's durfte, knüttelte.
Sie sagte ihm gleich frei und frank,
Daß sie kein Bettelweib doch sei!
Ob er nicht sah: Ihr Jahr sei blank
Und frisch und neu! Ganz frisch und neu!

Der Mann verzog zum Spott den Mund.
Die Menschheit aber blickte
Aufs neue Jahr. Erhob sich und –
Das Jahr, das neue, drückte!
Es drückte Hals und Schultern wund!
Es hing herab, ein Lumpenschurz!
Es war zu lang oder im Grund
Vielleicht zu kurz? Vielleicht zu kurz?

Es trug sich schwer! Ein freier Schritt
In ihm hieß Weh und Wimmern!
Durch seinen Stoff von schlechtem Schnitt
Sah bloß man Flecke schimmern!
Ja, brauner Schimmer Blutes glitt
Durch sein Gewebe, dünn und glatt.
Es krachte dumpf wie Dynamit
Des Jahres Naht, des Jahres Naht ...

Ein neues Jahr? Nein, das war's nicht.
Die Menschheit war verblendet:
Man hatte ihr bei Sternenlicht
Den alten Rock gewendet!
Den alten Rock, der würgt und sticht,
Sie wenden ihn ohne Ende.

Die Menschheit aber sah es nicht.
Sie schleicht mit gläubigem Gesicht
Zur nächsten Jahreswende.

Montag, 5. Dezember 2016

Gustav Sack - Bekenntnis, Bagatelle, Das Zauberlied

Das Bild ist von der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch (Zauberland?)


„Aber die Sonne beginnt schon senkrecht aus dem Himmel zu fallen, und der Schnee will schon wieder rot werden, die Enziane schließen ihre Blätter, und wir haben noch einen weiten Weg.“ (Aus dem Prosastück „Die Dirne“)

Am 5. Dezember 1916 starb der in Schermbeck (Niederrhein) geborene Lyriker und Schriftsteller Gustav Sack erst 31jährig an der Front in Finta Mare in Rumänien.

Bei Kriegsausbruch 1914 weilte Sack in der Schweiz und verweigerte zunächst den Kriegsdienst, kehrte dann aber im September 1914 nach Deutschland zurück und wurde eingezogen. Was hätten wir alles noch von ihm lesen können, wenn er in der Schweiz geblieben wäre?


Bekenntnis

Das sind mir Worte nur und Klänge,
künstliches Reflexionsgedränge,
das hat nicht Herz, nicht Poesie,
das läßt mich kalt, ich weiß nicht, wie.

Gewiß; denn dem Poet,
wie ihr ihn liebt und ihn versteht,
sprang noch die Welt nicht jäh entzwei
in Ding und Dinges Konterfei,
dem ist noch nicht die Welt verdorrt
zum hohlen Klang und dürren Wort,
der sieht noch nicht in jedem Ding
sich selbst, der in die Dinge ging,
der findet sich nicht ewig wieder,
der pinselt seine warmen Lieder
herzhaftig nach der Wirklichkeit,
nach Grund und Sinn und Raum und Zeit,
als ob das alles Dinge wären,
die plastisch aus dem Chaos gären
und ohne Zweifel so bestehn,
wie er sie eben stets gesehn.
Mir aber klirrend eins, zwei, drei
sprang diese schöne Welt entzwei
und ließ mir, nicht viel mehr als nichts,
den Wiederschein nur jenes Lichts,
das rätselhaft die Nacht durchfährt
und dann für immer wieder in sie kehrt,
zwecklos, sinnlos und gänzlich einerlei,
was es in Wahrheit wohl gewesen sei.
Darum ich denn die Poesie,
wie ihr sie pflegt, verlach', ich weiß nicht, wie.


Bagatelle

In eine neue Bude zog ich ein!
Ein schiefer Tisch, ein krummer Stuhl,
eines wackligen Bettes Unzuchtpfuhl –
in diese Bude zog ich ein.
Garküchen unter mir und Kegelbahnen,
mir gegenüber 'ne verdreckte Wand
und über mir ein kleines blaues Band
mit feinen weißen Wolkenfahnen.
Was soll ich hier? Was will, was kann ich hier?
Doch so war's immer schon:
Armut und Dreck und wie zum Hohn
leuchtet ein Fetzen Himmel mir.


Das Zauberlied

Wohin du gehst, du wirst mir nie entgehen,
denn meiner Sehnsucht feine Witterung
wird schneller, als du glaubst, den kühlen Sprung
in das verführerische Land verstehen,

in dessen ewig glatten Schattenseen
du dich vor mir geborgen wähntest – jung
und mittagheiß wird die Erinnerung
an deine Liebe brausend dich umwehen,

und wenn du aufwachst, siehst du mich, der dich
mit blanken Armen an das Ufer zieht
und dir mit einem Kuß, dem wehen Stich

der glühen Lanze gleich, das Zauberlied
einhaucht: uns schwanden längst schon Raum und Zeit,
was flüchtest du dich in die Ewigkeit?


Sonntag, 20. November 2016

Kinder der Ewigkeit - Eine Hommage an Kurt Schwitters

"Wenn mir einer sagte, Ein Freund hätte gesagt, Daß ein anderer Freund gesagt hätte, Ich hätte zu einem dritten Freunde gesagt, Daß ein vierter Freund gesagt hätte, Ein fünfter Freund hätte gesagt, Daß ein sechster Freund gesagt hätte, Ich sollte gesagt haben, Was ich nicht gesagt habe, So sage er hier getrost an alle Freunde, Ich hätte gesagt, Ich hätte nichts gesagt."

"Man kann auch mit Müllabfällen schreien, und das tat ich, indem ich sie zusammenleimte und -nagelte. Ich nannte es Merz, es war aber mein Gebet über den siegreichen Ausgang des Krieges, denn noch einmal hatte der Frieden wieder gesiegt. Kaputt war sowieso alles, und es galt aus den Scherben Neues zu bauen. Das aber ist Merz."

                                                                                                            Kurt Schwitters

Dann wäre Merz auch wieder eine Art Dingefinderkunst, und so schließen sich die Kreise. Am 6. Oktober 1967 trugen Hippes in San Francisco ihre Bewegung zu Grabe, in einem Sarg voll mit Blumen. Danach verstreuten sich die Hippies in alle Welt. Als das Salz der Erde. 

Am 6. Oktober 2016 verfertigte sich unter meinen staunenden Augen und Ohren ein Video: Kinder der Ewigkeit.

"Unsterblichkeit ist nicht jedermanns Sache" (Kurt Schwitters)

Doch vielleicht ist die Collage die Kunstform der allgegenwärtigen Ewigkeit. . .

Eine Hommage an Kurt Schwitters (es ist immer Merz), Hugo Ball, Marcel Duchamp, George Méliès, Fernand Leger, Alan Ginsberg, Timothy Leary, The Fugs, Ash Ra Tempel, Tomorrow Never Nows John Lennon und die Kirchenglocken vom Töpferdorf Fredelsloh.

Es sind Bilder der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch in diesem Video verwendet worden. Ich danke der Künstlerin für ihre Freigiebigkeit.

Wenn Collage eine Kunstform ist, dann ist das hier Kunst. Merz ist es sowieso. Es grüßt der Dingefinder.



Dienstag, 12. Juli 2016

Novalis - Monolog





Novalis  -  Monolog

Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen  -  sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und furchtbares Geheimnis,  -  daß wenn einer bloß spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen. Daraus entsteht auch der Haß, den so manche ernsthafte Leute gegen die Sprache haben. Sie merken ihren Mutwillen, merken aber nicht, daß das verächtliche Schwatzen die unendlich ernsthafte Seite der Sprache ist. Wenn man den Leutennur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit einer mathematischen Formel sei.  -  Sie machen eine Welt für sich aus  -  sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll  -  eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der Dinge. Nur durch ihre Freiheit sind sie Glieder der Natur, und nur in ihren freien Bewegungen äußert sich die Weltseele und macht sie zu einem zarten Maßstab und Grundriß der Dinge. So ist es auch mit der Sprache  -  wer ein feines Gefühl ihrer Applikatur, ihres Taktes, ihres musikalischen Geistes hat, wer in sich das zarte Wirken ihrer inneren Natur vernimmt, und danach seine Zunge oder seine Hand bewegt, der wird ein Prophet sein, dagegen wer es wohl weiß, aber nicht Ohr und Sinn genug für sie hat, Wahrheiten wie diese zu schreiben, aber von der Sprache selbst zum besten gehalten und von den Menschen, wie Kassandra von den Trojanern, verspottet werden wird. Wenn ich damit das Wesen und Amt der Poesie auf das deutlichste angegeben zu glauben habe, so weiß ich doch, daß es kein Mensch verstehen kann, und ich ganz was Albernes gesagt habe, weil ich es habe sagen wollen, und so keine Poesie zustande kommt. Wie, wenn ich aber reden müßte? und dieser Sprachtrieb zu sprechen das Kennzeichen der Eingebung der Sprache, der Wirksamkeit der Sprache in mir wäre? und mein Wille nur auch alles wollte, was ich müßte, so könnte das ja am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein und ein Geheimnis der Sprache verständlich machen? Und wär ich ein berufener Schriftsteller, denn ein Schriftsteller ist wohl nur ein Sprachbegeisterter? –

(1798)

Mittwoch, 20. April 2016

10. 5. 2016: Lesung "Die verbrannten Dichterinnen und Dichter" in Fredelsloh



Dienstag, 10. 5. 2016  -  Lesung mit Musik  "Die verbrannten Dichterinnen und Dichter" im Café Klett in Fredelsloh

Beginn 19:30, Eintritt ist frei, eine Spende wäre nett

Anlässlich des Jahrestages der Bücherverbrennung werde ich aus Werken von verbrannten Dichterinnen und Dichtern lesen. Unter anderem Jura Soyfer, Gertrud Kolmar, Klabund, Kurt Tucholsky, HaHuBaley

                                      Jura Soyfer: Menschwerdung

Menschen sind wir einst vielleicht gewesen
Oder werden's eines Tages sein,
Wenn wir gründlich von all dem genesen.
Aber sind wir heute Menschen? Nein!
Wir sind der Name auf dem Reisepaß,
Wir sind das stumme Bild im Spiegelglas,
Wir sind das Echo eines Phrasenschwalls
Und Widerhall des toten Widerhalls. 

Längst ist alle Menschlichkeit zertreten,
Wahren wir doch nicht den leeren Schein!
Wir, in unsern tief entmenschten Städten,
Sollen uns noch Menschen nennen? Nein!
Wir sind der Straßenstaub der großen Stadt,
Wir sind die Nummer im Katasterblatt,
Wir sind die Schlange vor dem Stempelamt
Und unsre eignen Schatten allesamt.


Soll der Mensch in uns sich einst befreien,
Gibt's dafür ein Mittel nur allein:
Stündlich fragen, ob wir Menschen seien?
Stündlich uns die Antwort geben: Nein!
Wir sind das schlecht entworfne Skizzenbild
Des Menschen, den es erst zu zeichnen gilt.
Ein armer Vorklang nur zum großen Lied.
Ihr nennt uns Menschen? Wartet noch damit!

(1936)

Hier geht´s zum Café Klett:

Sonntag, 21. Februar 2016

Friedrich Hölderlin - Die Eichbäume

Naturdenkmal "Dicke Eiche" bei Fredelsloh


                                                               Die Eichbäume


                                Aus den Gärten komm ich zu euch, ihr Söhne des Berges!
                                Aus den Gärten, da lebt die Natur geduldig und häuslich,
                                Pflegend und wieder gepflegt mit dem fleißigen Menschen zusammen.
                                Aber ihr, ihr Herrlichen! steht, wie ein Volk von Titanen
                                In der zahmeren Welt und gehört nur euch und dem Himmel,
                                Der euch nährt` und erzog, und der Erde, die euch geboren.
                                Keiner von euch ist noch in die Schule der Menschen gegangen,
                                Und ihr drängt euch fröhlich und frei, aus der kräftigen Wurzel,
                                Unter einander herauf und ergreift, wie der Adler die Beute,
                                Mit gewaltigem Arme den Raum, und gegen die Wolken
                                Ist euch heiter und groß die sonnige Krone gerichtet.
                                Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels
                                Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.
                                Könnt ich die Knechtschaft nur erdulden, ich neidete nimmer
                                Diesen Wald und schmiegte mich gern ans gesellige Leben.
                                Fesselte nur nicht mehr ans gesellige Leben das Herz mich,
                                Das von Liebe nicht läßt, wie gern würd ich unter euch wohnen.



                      (Friedrich Hölderlin, 1796/8)

Mittwoch, 3. Februar 2016

Klabund - Ein Philosoph




             Ein Philosoph


Ein Philosoph schlug einen Kreis.
Wer weiß,
Was er damit bedachte.
Und siehe da  -  wie hingeschnellt
Hat sich ein zweiter zugesellt,
Da war es eine Achte.
So geht´s den Philosophen meist,
Daß sie zwei nackte Nullen dreist
Zu einer Acht erheben.
Doch sehn sie das Exempel ein?
Nein.
Wo bliebe sonst ihr Leben?

                                           Klabund (1890 – 1928)



Erschienen in der Satire-Zeitschrift „Das Stachelschwein“ 3 / 1927.

„Das Stachelschwein“ erschien von 1924 bis 1929 in Frankfurt am Main, Gründer war der Kabarettist und Zeichner Hans Reimann. In der letzten Lebensphase des „Stachelschwein“s organisierte er auch Autorenabende in Berlin. Die zeitgenössische Presse berichtete: „Hans Reimanns piekende Monatsschrift hatte in die Kunstkammer Wasservogel eingeladen. Bei einem Tee und anderen leiblichen Genüssenstellten sich die Hauptmitarbeiter vor. Um es gleich zu sagen: der Nachmittag war entzückend   . . .   Karl Schnog hatte die Conférence dieses bissigen Kabaretts übernommen und plauderte witzig drauflos. Max Herrmann-Neiße sprach ironisch-bittere und dennoch gefühlsstarke, von Musik getragene Gedichte aus einer Kleinstadt und endete bei einem hymnischen, das Herz fast sprengenden Liebeslied. Politisch-sarkastisch und Aktualitäten glossierend, kam Erich Weinert. Den Vogel schoß der Chef ab. Schüchtern trat er mit einem Electrola-Apparat aufs Podium, und zu untextierten Platten sprach er seine Texte, inhaltlich unsere Zeit spiegelnd und musikalisch auf die Klänge aus dem Koffer eingestellt. . . „

(Zitiert aus: „Bis fünf nach zwölfe kleine Maus  -  Streifzug durch siebzehn satirische Zeitschriften der Weimarer Republik“, herausgegeben von W. U. Schütte, Buchverlag Der Morgen Berlin 1986)





Freitag, 1. Januar 2016

Friedrich Hebbel - Ich und Du




          Ich und Du

Wir träumten voneinander
Und sind davon erwacht.
Wir leben, um uns zu lieben,
Und sinken zurück in die Nacht.

Du tratst aus meinem Traume,
Aus deinem trat ich hervor,
Wir sterben, wenn sich Eines
Im andern ganz verlor.

Auf einer Lilie zittern
Zwei Tropfen, rein und rund,
Zerfließen in Eins und rollen
Hinab in des Kelches Grund.

                           Friedrich Hebbel, 1813 - 1863