Sonntag, 31. Dezember 2017

Elisabeth Janstein: Kreislauf



Kreislauf

Alles ist nur Weg zu dir:
Winterfrühen voll Vertrauen,
Zärtliches an Plänen bauen,
Staunendes gefangen stehn
Vor dem Blaß der Orchideen.
Schau nach weißen Wolkenballen,
Die erhellt in Blicke fallen,
Losgelöstheit schlanker Hand,
Reinern Ländern zugewandt.
O Erfülltheit, strenges Wirken
Klar in herrschenden Bezirken,
Himmel tief und weit in mir -
Alles ist nur Weg zu dir . . .


Aus: Elisabeth Janstein Gebete um Wirklichkeit Gedichte
1919 Verlag Ed. Strache Wien Prag Leipzig


Elisabeth Janstein, geboren als Elisabeth Jenny Janeczek am 19. Oktober 1893 in Iglau, Österreich-Ungarn; starb am 31. Dezember 1944 in Winchcombe, Borough of Tewkesbury, England im Exil. Sie war eine böhmisch-österreichische Dichterin und Journalistin.
 

Das Foto zeigt einen herbstlich gestimmten Waldweg im Solling bei Fredelsloh.
           

Donnerstag, 28. Dezember 2017

Irene Forbes Mosse: Zugvögel / Auf der Düne / In die Luft gesungen / Aus: Der kleine Tod




Zugvögel

So laß mich mit Dir ziehn
Im stillen Sternenscheine,
O nur wir zwei alleine
Im menschenleeren Raum.

In fremden Städten gehn
Wir abends durch die Gassen,
Die Brunnen sind verlassen,
Wir gehen wie im Traum.

An dunkler Kirchentür,
Auf grauen Treppensteinen,
An Deiner Brust zu weinen . . .
Was gibst Du, Welt, dafür?

Wenn rings der Abend quillt
Hört man die Wasser rauschen,
Ich will dem Brunnen lauschen,
Der all mein Dürsten stillt.


Auf der Düne

Als Deine Linke
Unter dem Haupt mir lag,
Und Deine Rechte
Mich wiegte und herzte,
War es wohl sonnige Zeit . . .
Als ich, die Augen voll Tränen,
Immer ins Blaue starrte,
In die schüchtern grünenden Wipfel,
Sang mir's im Herzen:
Gesegnet, gesegnet
Seien die länger werdenden Tage!


In die Luft gesungen

Wie eine Rose, Blüte um Blüte,
Hin in den sterbenden Sommer verschenkt,
Blüht meine Seele, denn zaubernde Güte
Hat ihr auf's neue die Wurzeln getränkt.

Was ich auch wurde, ist alles Dein eigen,
Was mich beseligt und was mich betrübt,
Sehnen und Wähnen und schmerzliches Neigen . . .
Segen um Segen . . . wir haben geliebt!

Aus: Das Rosenthor Gedichte von
Irene Forbes Mosse
Insel Verlag Leipzig 1905

Irene Forbes-Mosse, geb. von Flemming, geboren am 5. August 1864 in Baden-Baden; gestorben am 26. Dezember 1946 in Villeneuve, Schweiz, Schriftstellerin. Sie schrieb Gedichte und Erzählungen und arbeitete als Übersetzerin. Im Dritten Reich wurden ihre Bücher verboten.

Der Dichter Karl Wolfskehl, wie sie nach 1931 im Exil, schreibt 1935 über ihre Erzählungen:

"(…) entzückt und bewegt mich der märchenhafte Reichtum, der aus so viel sicheren und originellen Einzelzügen, so viel farbigen Tupfen, Bildern und Bilderfolgen zusammenschmilzt, die, zart und stark zugleich, in sich selber bestehen, aus sich selber zu wachsen scheinen. Was Sie alles wissen, sehen und aufspüren! Das ist nicht mehr Beobachtung oder bloßes Wissen um Charaktere, Altersstufen, menschliche Bezüge, Toilettengeheimnisse und Gastronomie (…): es ist bei Ihnen immer, als erfaßten Sie die geheimnisvollen Fäden, das gesamte Astralgewebe, aus dem Situationen und Begebnisse erst ihren Sinn erhalten. Alles Halbtonige, das "Zwischen", der abschattende Hauch, den der Gang der Dinge rückläßt, das Unausweichliche eines Schicksalswegs und das süße Mitfühlen des Lieblich-Unzulänglichen alles Erdendaseins: das sind die Elemente, aus denen Ihre Figuren gehoben und gestaltet sind, daraus sie wachsen und welken. Dabei als Gefühlsstand eine warme, mitzitternde Klarheit, sie verbirgt sich und andern nicht die kleinste Falte, verbietet sich kein Lächeln und keine Ironie –– wer kann heut noch so wundervoll boshaft sein, so fein und selbstgewiß doch auch des andern, des Angeschauten Teil und Recht mit freundlichem Achselzucken wahrend, die armen, tölpischen Kinder, genannt Erwachsene, also auf ihr Getue und Getapse hin ansehen und rubrizieren! Eigentlich gilt Ihr stärkstes, Ihr ganz mitzitterndes Schauen und Erkennen ja doch jener unheimlichen, aus Frohlocken und Trübsinn gewobenen, noch halb jenseitigen Zwischenwelt kurz vor Tage."

Nun gib zurück, was von der Erde war,
Die dunklen Stunden und die hellen Stunden,
Die Rosen tiefverwurzelt in den Wunden,
Der Arbeit Krone auf gebleichtem Haar ...
Der Schönheit Hornruf, zauberndes Geläute,
Der Wahrheit Schauern, ihren Geisterschritt,
Die Glut der Seele, die gefangen litt ...
Das Unvergeßne ... und das Unbereute.

Wenn du ein grünes Blatt gegen die Sonne hältst, siehst du die zarten Äderchen, durch die doch des ganzen Baumes, des ganzen Waldes Lust und Leben geflossen ist. Und du denkst an die winzigen Pflanzen, die der Windausgesät hat,wie sie zwischen Farnen und Weidenröschen und dem wilden gelben Löwenmaul stehen, wo die Sonne brütet und die Hummeln in den Distelköpfen einduseln ... aber fern tönt der Axtschlag, wo die Riesen gefällt werden.

Oder du siehst sie, wie sie dann zu Wäldern wurden, in denen immer, ob Frühling oder Herbst, der Boden rostbraun ist vom Laub des Vorjahres. Oben säuseln die Kronen; es wird dunkel, wenn eine Wolke vorbeizieht, aber dann kommt die Sonne wieder, schräg und duftig, und die Stämme leuchten auf, silbern und fremd. Es müßten Hexen zwischen ihnen hergehen, schöne, unselige Hexen, mit schönen, schlimmen Blumen in den Armen, Nachtschatten und Hellebore und Fingerhut.

Und dann ist's wieder die lässige Rosenpracht grauer toskanischer Mauern, wo der Schatten der Oliven auf dem Pflaster zuckt und zittert, und der Überfluß niederträuft, und man dazwischen aufsteigt, der Schönheit so gewohnt wie der Luft, die man atmet. Darum, meine ich, schenkt das Wort reicher als das Bild. Denn das Bild zieht an sich, will uns nicht loslassen, will, daß wir in ihm wohnen bleiben; aber das Wort weist hinaus auf andere Wege und führt jeden dahin, wo es ihm gefällt.

Die große Buche mitten im Weg: ganz hohl; zwei Menschen könnten in ihr aufrecht stehen wie in einem Schilderhaus. Die Krone ist noch grün; aber das meiste an ihr ist hohler, verwitterter Stamm. Darum wird sie nur wenig Geld bringen. Und ist doch gezeichnet: diesen Winter muß sie fallen. So alt. Wie lange schon steht sie hier, ernsthaft, geduldig im lastenden
Schnee, im ersten zitternden Frühlingshauch erwachend, grüngolden, säuselnd im Sommer; und dann im Herbst, rostbraun, mit sinkenden Blättern. Man könnte sie wohl Alters sterben lassen; die Walderde gäbe ihrein mildes Gnadenbrot, der Wind streichelte leise den letzten Seufzer aus ihrem Wipfel.

Aus: Der kleine Tod, 1912, S. Fischer, Verlag, Berlin

Dienstag, 19. Dezember 2017

Felix Grafe: So gehst du abends. . . / Im roten Abend

Ein Bild der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch


So gehst du abends durch das Tor,
wenn schon vor Nacht die Sonne sinkt,
wenn schon im letzten Licht ertrinkt
der bunten Stimmen süßer Chor.

Und fühlst: dein Sinn wird wieder leicht,
den dir der Tag so schwer gemacht,
und merkst, aus dumpfem Traum erwacht,
wie sehr dein Herz den Blumen gleicht.

Dein Herz, das jedes Lied bewahrt
so zwischen Auf- und Niedergang,
ein Lied von jung und altem Klang,
wie deiner Liebsten Hände zart.

Das Dunkel sinkt, das Licht verging,
auch du gehst heim, ein armer Tor,
der Licht und Seligkeit verlor.
Dann sprich zu deiner Seele: Sing

die Lieder liebreich und verhaßt
von ungekanntem Glück und Schmerz -
horch, Herz!
Gott selbst ist heut bei dir zu Gast.



Im roten Abend ging mein später Schritt,
von ferne kreischten noch die Gassenhauer
zu meinem Ohr - erst an der weißen Mauer
des Parkes blieb ich stehn - und langsam glitt

mein Blick in dieses Abends süße Trauer,
verwundert, daß mein totes Herz es litt,
noch einmal aus verloschner Schönheit Schauer
dies auferstehn zu sehn - was ich erstritt

in schweren Nächten und dann doch verlor -
da schlug es zehn - der Wächter kam und rief -
ich lachte leis - war diese Nacht so tief,

daß ich mit leichtem Herzen durch das Tor
heimschreiten durfte, gleich als ob ich schlief?
und hell - und froh - und kindisch wie zuvor?


Felix Grafe, als Felix Löwy am 9. Juli 1888 in Humpolec, Böhmen geboren, am 18. Dezember 1942 in Wien gestorben, war Lyriker und Übersetzer.

Nach dem Ersten Weltkrieg lebte Grafe in Wien. Hier wurde ihm 1941 ein antifaschistisches Gedicht zum Verhängnis, das er für die illegale kommunistische Zeitschrift Hammer und Sichel verfasst hatte. Er wurde im Juli verhaftet und schließlich am 18. Dezember 1942 wegen Zersetzung der Wehrkraft und Vorbereitung zum Hochverrat im Landesgericht Wien in der Landesgerichtsstraße 11 hingerichtet.

Donnerstag, 14. Dezember 2017

Wassily Kandinsky: Poesie / Sehen








Am 13. 12. 1944 starb in Neuilly-sur-Seine, Frankreich der 1866 in Moskau geborene Maler Wassily Kandinsky.

1913 erschien im Piper-Verlag (München) in einer Auflage von 345 Exemplaren sein als „musikalisches Album“ konzipiertes Buch „Klänge“. Darin sind 38 Prosagedichte, 12 farbige und 44 schwarz-weiße Holzschnitte abgedruckt. Es ist ein grenzgängerisches Werk zwischen Literatur und Malerei, die Texte waren in deutscher Sprache geschrieben.


Poesie

Die Blüten der Poesie sind überall verstreut.
Versuch’, sie zu einem immergrünen Kranz zu flechten.
Du bist gefesselt, trotzdem bleibst du frei.
Du bist allein, trotzdem bist du nicht einsam.


Sehen

Blaues, Blaues hob sich und fiel.
Spitzes, Dünnes pfiff und drängte sich ein, stach aber nicht durch
An allen Ecken hat’s gedröhnt
Dickbraunes blieb hängen scheinbar auf alle Ewigkeiten.
Scheinbar, Scheinbar.
Breiter sollst Du deine Arme ausbreiten.
Breiter, Breiter.
Und dein Gesicht sollst du mit rotem Tuch bedecken.
Und vielleicht ist es noch gar nicht verschoben: bloß du hast dich verschoben.
Weißer Sprung nach weißem Sprung.
Und nach diesem weißen Sprung wieder ein weißer Sprung.
Und in diesem weißen Sprung ein weißer Sprung. In jedem weißen Sprung ein weißer Sprung.
Das ist eben nicht gut, das du das Trübe nicht siehst: im Trüben sitzt es ja gerade.
Daher fängt auch alles an.......................................................................................
..................Es hat gekracht.....................................................................................


Kandinsky in „Das Geistige in der Kunst“: Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche (…). Sehr tiefgehend entwickelt das Blau das Element der Ruhe. Zum Schwarzen sinkend, bekommt es den Beiklang einer nicht menschlichen Trauer.


Dienstag, 5. Dezember 2017

Hubert Gsur: Abschied



Am 5. Dezember 1944 wurde der 1912 geborene Lyriker Hubert Gsur im Wiener Landesgericht I als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus hingerichtet. Das Gedicht „Abschied“ entstand nach der Urteilsverkündung, es ist sein letztes Werk Außer in der Anthologie „Dein Herz ist Deine Heimat“, 1955 von Rudolf Felmayer herausgegeben, gibt es von ihm keine Veröffentlichungen.

Abschied

Nun bin ich nur noch eine kleine Weile
Auf eurem Weg. Schon schweigt der erste Stern.
Und wie ich noch mit eurem Schatten eile,
Bin ich euch schon um tausend Träume fern.

Schon weiß ich nicht mehr zwischen euren Blicken
Mich sanft zu schaukeln in des Himmels Blau,
Schon steh ich unter schwereren Geschicken
Im Totenhof der dunklen Abendfrau.

Schon streifen eure Worte meine Wangen
Wie eines längst entführten Windes Traum,
Schon bin ich endgültig von euch gegangen,
Ich Überschatteter vom Schicksalsbaum.

Schon schlucken mich die Schluchten ernster Straßen
In einer fremden grauen Abendstadt;
Dort ist, den eure Worte gern vergaßen,
So stark, daß er mich bald bezwungen hat.

Und wie ich Sonnenlicht mit euch noch teile,
Winkt mir der Bote schon des dunklen Herrn.
Es schneit. . . und über eine kleine Weile
Bin ich verweht. . . stumm scheidet Stern von Stern.


Das Bild ist von der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch, mit freundlicher Genehmigung der Hedi Kupfer Stiftung Fredelsloh als Nachlassverwalterin- 

Samstag, 2. Dezember 2017

Ludwig Jacobowski: Trost der Nacht/Auf dem Lande




Trost der Nacht

Weiche Hände hat die Nacht,
Und sie reicht sie mir ins Bette;
Fürchtend, daß ich Tränen hätte,
Streicht sie meine Augen sacht.

Dann verläßt sie das Gemach;
Rauschen hör´ ich, sanft und seiden;
Und den Dornenzweig der Leiden 
 Zieht sie mit der Schleppe nach.


Dieses kleine Gedicht erinnert mich an das „Wiegenlied“ von Clemens Brentano:

Wiegenlied

Singet leise, leise, leise,
Singt ein flüsternd Wiegenlied,
Von dem Monde lernt die Weise,
Der so still am Himmel zieht.

Singt ein Lied so süß gelinde,
Wie die Quellen auf den Kieseln,
Wie die Bienen um die Linde
Summen, murmeln, flüstern, rieseln.


Auf dem Lande

Roter Mohn, noch frisch betaut,
Federnelken und Lupinen,
Hederich und Wegekraut,
Alles sonnengelb beschienen.

Nirgend Qualm und Schornsteinruß,
Düfte nur, die schmeicheln wollen,
Und ich selbst mit bloßem Fuß
Über Gras und feuchte Schollen.

Ach, ich armes Städtekind
Hab’ mit Steinen spielen müssen,
Die so ungefügig sind,
Dass die Finger sich Zerrissen.

Zwischen Mauern hochgetürmt,
Die die kleine Seele drücken,
Schlich mein Sehnen ungeschirmt,
Um im Lärm fast zu ersticken.

Dass ich fern dem Brausen bin,
Schenkt mir Lust, mich auszutollen,
Und so lauf’ ich nur so hin
Über kühle Wiesenschollen,

Über Mohn, der frischbetaut
Zwischen Nelken und Lupinen.
Wer noch nie ein Gras gekaut,
Geh’ und mach’ betrübte Mienen.

Ludwig Jacobowski, geboren am 21. Januar 1868 in Strelno (Provinz Posen), gestorben am 2. Dezember 1900 in Berlin, war Lyriker, Schriftsteller und Publizist.

Über das literarische Schaffen hinaus liegt die Bedeutung von Ludwig Jacobowskis in seinem repräsentativen Wirken im Berlin der Jahrhundertwende. Die Verschmelzung jüdischer und abendländischer Kulturimpulse führten zu einem außergewöhnlich reichen Schaffen auf verschiedensten gesellschaftlichen Gebieten. Neben der reichhaltigen publizistischen Begleitung seiner Zeit ist hier auch sein volkspädagogisches Engagement zu nennen, besonders sein Versuch, mit „Zehnpfennig-Heften“ wertvolle Literatur für die breite Masse verfügbar zu machen. Seine Mitarbeit im 1890 gegründeten Verein zur Abwehr des Antisemitismus schlug sich auch in seinem Werk nieder.

Dienstag, 7. November 2017

Albin Zollinger: Stille des Herbstes



Stille des Herbstes

Im Herbste kommen der Wiese die Herbstzeitlosen
und mir die Lieder,
die lieben Kinder der Melancholie,
die dämmernden Lampen im Nebel blühn wieder,
sanft dunkelt das tiefe Zuhause gebrochener Lüfte,
die Landschaft am Lethe,
der Sommer verwelkt, und Verträumung
füllt Gärten des Himmels, balsamische Beete.

Wie einer, der heimkehrt, nachdenksam verweilt
sich das Jahr in den Räumen der Stunden,
in diesem Meer, dieser Stille von Schilf
voller Weite, in der sich die Wasser gefunden.
Strömt alles zurück? Kommt die Kindheit noch einmal mit
Abend, mit Ängsten, mit ahnenden Wonnen
von Regen des Nachts? Du bist da, trübes Herz,
an des Herbstes melodischem Bronnen!


Albin Zollinger, Schweizer Dichter, geboren am 24.01.1895 in Zürich; gestorben am 7.11.1941 ebendort.

Emil Rudolf Weiß:Frühsommerphilosophie / Dein Bild

Ein Bild der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch


Frühsommerphilosophie

Die roten Tulpenflammen sind verglüht;
Maiglocken wachen auf; der Flieder blüht;
Die Eiche, die so lange sich besann,
Steht nun in Laub; es steckt die Kerzen an,
Die grünen Kerzen, übertrieft von Saft,
Der alten Fichten innerliche Kraft.
Um jede Blüte ist ein Surretanz
Von Schwebewesen, ein lebend´ger Kranz
Von Schillerflügeln gelb, grün, blau von Glanz,
Und an den Stengeln kriecht im Drängelauf
Das Käfervolk bunt, tausendfüßig auf.

Die liebe Welt! Ob sie auch lange ruht,
Sie machts zuletzt doch immer wieder gut.
Mag sie nicht schelten.
Eh´ eine andre uns nicht voller mißt,
Glaub ich einstweil, daß sie die beste ist
Von allen Welten.

Aus: Emil Rudolf Weiss. Der Wanderer. Mit acht symbolischen Holzschnitten und Buchumschlag. 1895 bis 1900. Baden-Baden, Eigenverlag 1900.

Emil Rudolf Weiß, geboren am 12. Oktober 1875 in Lahr, Baden; gestorben am 7. November 1942 in Meersburg, war Typograf, Medailleur, Grafiker, Maler, Lehrer und Dichter.

Da er sein Augenmerk nicht nur auf alle gestalterischen Aspekte eines Buches richtete – das heißt neben Satz und Schrift auch auf Illustration, Einband- und Umschlaggestaltung –, sondern regelmäßig auch die poetischen Texte selbst beisteuerte, wurden seine Bücher echte Gesamtkunstwerke.

Seit 1910 als Professor an der Unterrichtsanstalt des Staatlichen Kunstgewerbemuseums in Berlin tätig, wurde er aufgrund einiger als entartet verunglimpften Gemälde 1933 von den Nationalsozialisten in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.


Dein Bild

Der Regen rauscht
schwer nieder,
mein Herz lauscht
auf Lieder.

Meine Augen gehen
von den frühen Blumen,
die im Glase stehen
vor deinem Bild,

in die Regenwelt,
stumm und kühl und wild,
die dein Bild im Herzen
einzig mir erhellt.

Maria Luise Weissmann: Abend im Frühherbst / Das frühe Fest

Maria Luise Weissmann,
                                

Am 7. 11. 1929 starb in München die Lyrikerin Maria Luise Weissmann an den Folgen einer schweren Angina.

Abend im Frühherbst

Weit ausgegossen liegt das breite Land.
Der Himmel taucht den Scheitel noch ins Licht,
Doch seitlich hebt gelassen eine Hand
Die dunkle Maske Nacht ihm ins Gesicht.

Viel fette Lämmer weiden auf der Flur,
In Gärten steht das Kraut in seiner Fülle,
Herbstwälder ziehn als eine goldne Spur,
Am Baum die Frucht glänzt prall in ihrer Hülle.

Es ist der letzte dieser kurzen Tage:
All Ding steht reif und rund und unbewegt
Schwebend in sich gebannt wie eine Waage,
Die Tod und Leben gleichgewichtig trägt.


Das frühe Fest

Du bist die silberne Weide am Bach.
Schatten der Wolke Du schwimmend.
Du gehst über die mondenen Wege.
Die Städte-Straßen kennen Dich.
Tiere spürten Deiner Fährte all.

Nun suchen Waller, steile, Dich gebetvoll.
Da rot mein Fuß ging - Deine Ferne brannte! -
Liebend erkannten sich die Wandernden.

Maria Luise Weissmann, geboren am 20. August 1899 in Schweinfurt; gestorben am 7. November 1929 in München. 
Foto von Mary Hausner (1895–1941)

Samstag, 4. November 2017

Franz Janowitz: Der rastende Wanderer / Auf der Terrasse; Karl Kraus: Franz Janowitz

Ein Bild der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch


Der rastende Wanderer

Wie ruft des Landes hingestreckte Ruhe
mich in der tiefsten Seele an!
Verwurzelt scheinen meine schweren Schuhe
in dem ergrünten Wiesenplan.
Es landen Vögel leicht in Lindenkronen:
Ich biete ihrem Flug mein Haupt
und lasse sie — für sie bin ich belaubt —
zufrieden mir im Astwerk wohnen.
Ein Herz scheint uns Getrennte zu beleben.
O liebe Flur, wann kommt doch unser Glück,
da hochzeitlich wir ineinander schweben,
und Gott in uns und wir in ihn zurück?

Aus: Arkadia, Jahrbuch für Dichtkunst, Kurt Wolff, Berlin 1913


Auf der Terrasse

Drei kleine Lichter zeigen,
wo das Städtchen liegt.
Der Mond ist hell im Steigen,
im Baum die Grille singt.
Die Augen wollen sich neigen,
der Nachtwind Blüten bringt.
Im Innern beginnt es zu schweigen,
die Erde von dannen fliegt.

Aus der Sammlung Auf der Erde. Gedichte.

Franz Janowitz wurde am 28. Juli 1892 in Podiebrad geboren, am 4. November 1917 starb er nach einer Schussverletzung im Feldspital in in Unter-Breth

16 seiner Gedichte wählte Max Brod für sein Jahrbuch Arkadia aus, das im Kurt Wolff Verlag herauskam.

Zwei Jahre nach seinem Tode gab Karl Kraus im Kurt Wolff Verlag aus seinem Nachlass einen schmalen Band seiner Lyrik unter dem Titel „Auf der Erde“ heraus.


Meinem Franz Janowitz

(getötet am 4. November 1917)

Ein Landsknecht du? Vier Jahre deines Seins
hast du dein frühlinghaftes Herz getragen
durch Blut und Kot und alle Pein und Plagen
und wurdest der Millionen Opfer eins?

Und durftest, was du mußtest, uns nicht sagen
und fühltest Vogelsang des grünen Rains
und lebtest stumm am Rande dieses Scheins
und fromm genug, um ferner nicht zu fragen.

Und da dein reines Herz erstickt in Kot,
das Mitgefühl der Zeit mußt du entbehren.
Ein treuer Bursch nur stand bei deinem Tod.

Doch seine Tränen wird die Welt vermehren,
färbt einst nicht Blut mehr, färbt die Scham sie rot.
Bis dahin mag sie ihre Henker ehren!

Karl Kraus

Freitag, 3. November 2017

Carl Sternheim: Aus "Fanale"

Heinrich Vogeler (1872 - 1942): Sehnsucht


Aus: Fanale

1.

Scheideflammen


Um unsre Plätze ist ein heilig Schweigen,
Und unsre Flüsse hält ein großes Stocken,
Von unsern Bäumen tiefes Niederneigen,
Und in den Lüften zittern wirre Glocken.

Ich schreite einsam zu den weißen Steinen
Und lasse rote Flammen aufwärts schlagen,
"Du bist gegangen", soll es weithin sagen,
Und zu mir tritt ein grenzenloses Weinen.

2.

Heilige Stätte im Hain

Die Stätte, da du morgens sorgend fragtest
Um meinen Frieden und um meine Freuden,
Sie muß ein stummes Heiligtum bedeuten,

Ich will nicht wieder sie betreten.

Und erst wenn Jahre kamen, Jahre gingen,
Soll mir ein Enkelkind die Blumen grüßen,
Die still da überall Erinnerung sprießen

Und mir von ihnen Flüstergrüße bringen.

3.

Vorabend

Vorabend war's, der lange bang geahnte.
Wir mußten unsre letzten Gänge machen
Und schritten so in lieben sich verlieren.

Wir konnten einer noch den andern spüren,
Die Sonne gab ein letztes leises Lachen,
Das sich durch dunkle Zweige zu uns bahnte.

Dann standen wir an irgend einem Orte,
Und lehnten uns an Starkes, uns zu halten;
Wir wußten um den Abschied keine Worte.

Und hatten nur ein großes Händefalten.

4.

Es lag wohl auch in deinen schlanken Gliedern
Das Lied, das meine Seele trunken sang.

Wenn Abendläuten über Erde klang,
Mußt ich dir deinen Händedruck erwidern.

Dann dacht ich das: Wer solche Hände
Doch einmal weich um seinen Nacken fände.

5.

Wir spielten König einst und Bettlerin,
Ich sprach von meines Reiches Macht und Weite,
Und wie es täglich größer ward und mehr verstanden,
Du schrittest träumend zögernd mir zur Seite.

Ich aber schwieg und lächelte im Stillen,
Wie eigenlos ich war in deinen starken Banden,
Und wie das ganze ging nach Deinem Willen;
Wir spielten Bettler einst und Königin.

Carl Sternheim, geboren am 1. April 1878 in Leipzig; gestorben am 3. November 1942 in Brüssel im Exil.

Dienstag, 31. Oktober 2017

Herwarth Walden: Zum „Tanz der Wehfreude“

Robert Delaunay (1885 - 1941): Herwarth Walden



Zum „Tanz der Wehfreude“

Tango von Herwarth Walden

Und alle Freude weint durch alle wehen Nächte
Und alle Wehen singen durch die frohen Tage
Und alle Tage sinken in die letzte Nacht
Und alle sind wir wegesmüde  -  lieber Tod.
Nun strömen alle hellen Wasser in das Schweigen
Nun fallen alle hellen Sterne in die Tiefen
Nun steigen alle Nebel in die hellen Sonnen
Nun stehen alle unsre Welten  -  unsre Welten
Noch müde schwingen Pendel sanfte Schläge
Nun stehen Herzen alle Herzen




Aus: Der Sturm, Juni 1923




Herwarth Walden (eigentlich Georg Lewin; geboren am 16. September 1878 in Berlin; gestorben am 31. Oktober 1941 bei Saratow) war ein deutscher Schriftsteller, Verleger, Galerist, Musiker und Komponist. Walden war einer der wichtigsten Förderer der deutschen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts (Expressionismus, Futurismus, Dadaismus, Neue Sachlichkeit). Er gründete 1910 die Zeitschrift Der Sturm, die bis 1932 bestand. Lasker-Schüler verdankte Lewin sein Pseudonym „Herwarth Walden“, inspiriert durch Henry Thoreaus Roman Walden; or, Life in the Woods (1854).

Egon Schiele: Weißer Schwan / Ein Selbstbild / Nasser Abend

Selbstportrait 1910


Weißer Schwan

Über den moorriechenden
Schwarzumrandeten Parksee
              Gleitet im
Regenbogenfarbenschaum
Der hohe, ruhige, runde
               Schwan.


Ein Selbstbild

Ich bin für mich und die, denen
Die durstige Trunksucht nach
Freisein bei mir alles schenkt,
und auch für alle, weil alle
ich auch Liebe, – Liebe

Ich bin von vornehmsten
Der Vornehmste
Und von Rückgebern
Der Rückgebigste

Ich bin Mensch, ich liebe
Den Tod und Liebe
Das Leben.

Aus: Briefe und Prosa von Egon Schiele (Richard Lányi, Wien 1921), herausgegeben von Arthur Roessler.

Nasser Abend

Ich habe lauschen gewollt des kühl-
atmenden Abends, der schwarzen
Wetterbäume, ich sage der schwarzen
Wetterbäume, dann
Mücken, der klagenden,
               der groben Bauernschritte,
               der fernhallenden Glocken.
               Die Regattenbäume hören,
               die Wettlaufalleen sehn,
und Mücken, sangen wie Drähte im
Windwinterland, - aber der große
schwarze Mann brach ihre Saiten-
                                            klänge. 

Die Aufgestellte Stadt war kalt im
         Wasser vor mir.


Aus: Die Aktion, Jg. 4 (1914), Nr. 15 (11. April)

Dienstag, 17. Oktober 2017

Paul Scheerbart - Die Welt ist laut. . ../ Ruhmeslied / Wanderlied

Bild "Sphinxkatze" von Adrian Hauffe


Die Welt ist laut...

Die Welt ist laut,
Und ich bin still!
Erloschen sind die Flammen.

Ich kann nicht mehr,
So wie ich will!
Den Rausch muß ich verdammen.

Die Welt ist laut,
Ich möcht so viel!
Doch bring ich's nicht zusammen.


Ruhmeslied

Meine Welt ist nicht von Pappe!
Dieses sag ich dir im Traum!
Trägst du eine Narrenkappe,
Trag sie unterm Lorbeerbaum!


Wanderlied

Wie weit der Weg!
Im tiefen Tale glänzt
Der Tau der letzten Sommernacht.
Wie weit der Weg!
Im hohen Weltall glüht
Der großen Sonnen Glück so heiß.
Wie weit der Weg!
In tollen Köpfen kreist
Die Schöpferkraft des ganzen Alls.
O still! Zum Ziel!
Es wird zu viel!


Paul Scheerbart, geboren am 8. Januar 1863 in Danzig, gestorben am 15. Oktober 1915 in Berlin, auch unter seinen Pseudonymen Kuno Küfer und Bruno Küfer bekannt, war Schriftsteller und Zeichner.

Scheerbarts skurrile Gedichtsammlung Katerpoesie erschien 1909 als eines der ersten Bücher im neu gegründeten Rowohltverlag

Donnerstag, 31. August 2017

Julius Havemann: In der Nacht



In der Nacht

Oft in der Nacht,
wenn der Mond auf mein Kissen scheint,
lehnt es sich sacht
mir ans Ohr und weint.
Und ich kann mich nicht rühren und kann nicht fragen:
Was kommst du mir klagen?

Oft in der Nacht
lieg’ ich in Stummheit und dunklem Bluten
tief verwacht
in meines Herzens roten Fluten
und ist in den Weiten nicht eine Hand,
die mich zöge an ein festes Land.

Oft in der Nacht
starr’ ich hinauf in das ewige Schweigen
und sehe die Macht
der Götter entthront ins Dunkel steigen;
und aus Nichts beginn’ ich in Lieben und Lügen
die Welt zu fügen.




Julius Havemann, geboren am 1. Oktober 1866 in Lübeck; gestorben am 30. August 1932 in Klempau).

1929 erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich nicht wieder erholte. 1930 setzte sich Thomas Mann, dessen Werk Havemann 1909 in der konservativen Zeitschrift Eckart ausführlich besprochen und gewürdigt hatte, für ihn ein.

Samstag, 26. August 2017

Franz Werfel: Wie nach dem Regen

Andrea Rausch "Nach dem Regen"




Wie nach dem Regen

Ich bin wie nach dem Regen
Der Stadtpark vor dem Haus.
Der Wind hat ausgekeucht,
Doch Bäum' und Beete sind noch feucht
Und wiegen mir und hegen
Die schönsten Tropfen Regentaus. -

Ich bin so ganz voll Feuchtigkeit,
Voll nassem Grün und Regenglück,
Weil ich dich heut' gesehn.
Darum möcht' ich auch nah und weit
Und wohl ein gutes Gartenstück
In mir spazieren gehn.


Franz Werfel, geboren am September 1890 in Prag, Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker, ging 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich ins Exil, zuerst nach Frankreich, dann in die USA. 1941 erhielt er die amerikanische Staastsbürgerschaft. Er starb am 26. August 1945 in Beverly Hills, Kalifornien.

Montag, 21. August 2017

Leo Greiner: Leben

Andrea Rausch: Waldlandschaft im Schrank


Leben

Und immer fremder sind mir Tag und Räume ...

Was weht um mich? Man sagt: ein Menschenwort.
Was rauscht um mich? Man sagt: die dunkeln Bäume,
Die rauschen noch seit deiner Kindheit fort.
Und Gärten stehn im abendlichen Land,
Ihr Schatten grüßt mich kühl und altbekannt.

Ich aber wandre dunkel fort, im Innern
Ein uralt Schattenbild, das leise weint.
Die nenn' ich Mutter, diesen nenn' ich Freund
Und lächle tief und kann mich nicht erinnern.





Am 21. August 1928 starb der österreichische Lyriker und Übersetzer Leo Greiner in Berlin. Er wurde am 1. April 1876 in Brünn geboren. Bekannt wurde er unter anderem durch seine Werke über den Dichter Nikolaus Lenau.

Freitag, 18. August 2017

Johannes Theodor Baargeld: Du folgst jetzt all den Wegen / Du blickst befremdet auf die alten Spuren

Das Bild ist von der im Februar verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch



(Du folgst jetzt all den Wegen)


Du folgst jetzt all den Wegen,
Die durch dich ziehn.
Sie scheinen Dir gelegen
Mit eignen Mühn.
Du glaubst dem fernsten Winken
Ob es Dir galt?
Die fernen Zinnen sinken,
Doch Du warst kalt.
Schon lang sind Deine Höhen
Im Dunst gelöst.
Es ist bald wie ein Stehen,
Nun Deinen Weg Du weitergehst.

1923

(Du blickst befremdet auf die alten Spuren)


Du blickst befremdet auf die alten Spuren
wo Du des immer Neuen Grund
gewähnt, und dich erschreckt der Fund,
und wieder blickst du auf den jungen Schnee der Fluren.

Doch du begreifst nicht, daß vor Jahresstund
du dich am selben Wegkreuz maßest,
und daß du schier ein Jahr vergaßest
und wie so stark sein könne ein zerbrochner Bund.

                             1924
                                               
Johann Theodor Baargeld, der Künstlername von Alfred Ferdinand Gruenwald, Grafiker, Maler, Dadaist, Dichter und leidenschaftlicher Bergsteiger, geboren am 9. 10. 1892 in Stettin; verunglückte tödlich am 18. 8. 1927 am Mont Blanc.

Die beiden Gedichte gehören zu den vier sogenannten ›Engadiner Gedichten‹, die sich im Hüttenbuch der ›Carl von Salis-Hütte‹ im Oberengadin finden ließen. Baargeld, der sich als Bergsteiger Jesaias nannte, unternahm in den zwanziger Jahren von hier aus zahlreiche Bergtouren und trug sich insgesamt viermal mit einem Gedicht ins Hüttenbuch ein.

Zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht. Zuerst publiziert 1985 in: Walter Vitt (Hrsg.), Bagage de Baargeld, Starnberg

Samstag, 29. Juli 2017

Lessie Sachs: Ich möchte leise sein

Foto: Frederike Herrlich


Ich möchte leise sein

Ich richte meine Sehnsucht an ein unbekanntes Ziel.
Und manchmal ist der Klang von einem Lied,
Das sanft vorüberstreicht, und dann entflieht,
Mir schon zuviel.

Ich möchte leise sein; da war ein Ziel, das mir entfiel.
Man sehnt sich ... Doch die süsse Stille sieht
Mich zärtlich an, die nun mich einbezieht,
In Traum und Spiel.

Aus: Lessie Sachs Collection 2, Leo Baeck Institute New York

Lessie Sachs, geboren am 5. September 1897 in Breslau, gestorben Anfang 1942 in New York City/ USA, Dichterin und Malerin.

Donnerstag, 27. Juli 2017

Lessie Sachs: Déja – vu

Andrea Rausch: Durch den Schrank der geheime Durchgang


Déja – vu

Man ist vielleicht in gänzlich fremden Kreisen,
Vielleicht ist man zur tiefen Nacht allein;
Vielleicht geht man in den gewohnten Gleisen,
Das ist ganz gleich; es ist nicht zu beweisen. . .
Doch es ist da; sehr sonderbar:
Hier wiederholt sich, was schon einmal war.

Wann es geschah, ist niemals zu ergründen. . .
Doch diese Gegenwart ist tief vertraut.
Was will uns die Erinnerung verkünden?
Will sich ein Traum der Wirklichkeit verbünden?
Das längst Vergang´ne hat uns angeschaut.
Gefühl und Geist sind wach; man weiß, man weiß:
Dies war bereits. - Vielleicht gehn wir im Kreis? -

Wir sehen wie durch viele Nebelstreifen,
Und dennoch zaubrisch klar und sehr prägnant.
Wir sind ganz tastend, ohne zu begreifen. . .
Indessen die Gedanken suchend schweifen:
Dies war schon mal? Doch wann? - bleibt unbekannt.
Doch wann. . . doch wo? Ach, ganz verlorne Müh. . .
Man hat das Phänomen des déja-vu.

Aus: Lessie Sachs Collection 1, Leo Baeck Institute New York

Lessie Sachs, geboren am 5. September 1897 in Breslau, gestorben Anfang 1942 in New York City/ USA, Dichterin und Malerin.

Dienstag, 25. Juli 2017

Karoline von Günderrode: Einstens lebt ich süßes Leben. . .

Das Bild ist von der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch


Einstens lebt ich süßes Leben ...

Einstens lebt ich süßes Leben,
denn mir war, als sei ich plötzlich
nur ein duftiges Gewölke.
Über mir war nichts zu schauen
als ein tiefes blaues Meer
und ich schiffte auf den Wogen
dieses Meeres leicht umher.
Lustig in des Himmels Lüften
gaukelt ich den ganzen Tag,
lagerte dann froh und gaukelnd
hin mich um den Rand der Erde,
als sie sich der Sonne Armen
dampfend und voll Glut entriss,
sich zu baden in nächtlicher Kühle,
sich zu erlaben im Abendwind.
Da umarmte mich die Sonne,
von des Scheidens Weh ergriffen,
und die schönen hellen Strahlen
liebten all und küssten mich.
Farbige Lichter
stiegen hernieder,
hüpfend und spielend,
wiegend auf Lüften
duftige Glieder.
Ihre Gewande
Purpur und Golden
und wie des Feuers
tiefere Gluten.
Aber sie wurden
blässer und blässer,
bleicher die Wangen,
sterbend die Augen.
Plötzlich verschwanden
mir die Gespielen,
und als ich trauernd
nach ihnen blickte,
sah ich den großen
eilenden Schatten,
der sie verfolgte,
sie zu erhaschen.
Tief noch im Westen
sah ich den goldnen
Saum der Gewänder.
Da erhub ich kleine Schwingen,
flatterte bald hie bald dort hin,
freute mich des leichten Lebens,
ruhend in dem klaren Äther.
Sah jetzt in dem heilig tiefen
unnennbaren Raum der Himmel
wunderseltsame Gebilde
und Gestalten sich bewegen.
Ewige Götter
saßen auf Thronen
glänzender Sterne,
schauten einander
selig und lächelnd.
Tönende Schilde,
klingende Speere
huben gewaltige,
streitende Helden;
Vor ihnen flohen
gewaltige Tiere,
andre umwanden
in breiten Ringen
Erde und Himmel,
selbst sich verfolgend
ewig im Kreise.
Blühend voll Anmut
unter den Rohen
stand eine Jungfrau,
alle beherrschend.
Liebliche Kinder
spielten inmitten
giftiger Schlangen. –
Hin zu den Kindern
wollt ich nun flattern,
mit ihnen spielen
und auch der Jungfrau
Sohle dann küssen.
Und es hielt ein tiefes Sehnen
in mir selber mich gefangen.
Und mir war, als hab ich einstens
mich von einem süßen Leibe
losgerissen, und nun blute
erst die Wunde alter Schmerzen.
Und ich wandte mich zur Erde,
wie sie süß im trunknen Schlafe
sich im Arm des Himmels wiegte.
Leis erklungen nun die Sterne,
nicht die schöne Braut zu wecken,
und des Himmels Lüfte spielten
leise um die zarte Brust.
Da ward mir, als sei ich entsprungen
dem innersten Leben der Mutter
und habe getaumelt
in den Räumen des Äthers,
ein irrendes Kind.
Ich musste weinen,
rinnend in Tränen
sank ich hinab zu dem Schoße der Mutter.
Farbige Kelche
duftender Blumen
fassten die Tränen,
und ich durchdrang sie,
alle die Kelche,
rieselte abwärts
hin durch die Blumen,
tiefer und tiefer,
bis zu dem Schoße
hin, der verhüllten
Quelle des Lebens.


Karoline von Günderrode, geboren am 11. Februar 1780 in Karlsruhe, starb am 26. Juli 1806 in Winkel (Rheingau) von eigener Hand. Sie war eine Dichterin und eine der eigentständigsten und schillersten Personen der deutschen Romantik.

„O, welche schwere Verdammnis, die angeschaffenen Flügel nicht bewegen zu können!“

Doch schau hinab, in deiner Seele Gründen
Was du hier suchest wirst du dorten finden,
Des Weltalls sehn'nder Spiegel bist du nur.
Auch dort sind Mitternächte die einst tagen,
Auch dort sind Kräfte, die vom Schlaf erwachen
Auch dort ist eine Werkstatt der Natur.

Aus: Tian, Gedichte und Phantasien, „Des Wanderers Niederfahrt“