Freitag, 31. März 2023

Hanns von Gumppenberg: Der Gefangene (Nach Rainer Maria Rilke)

 



Der Gefangene

Nachtbild aus einem italienischen Hotel


Meine Hand hat nur noch eine
Gebärde, mir der sie verscheucht –
Über meine Beine
Kommt, was hüpft und kreucht.

Ich höre das hastige Ticken
Der Uhr – mein Herz hält Schritt..
Vor ersten Tagesblicken
Vergeht, was dunkel ich litt!

Tickt' es doch noch schneller!
Kommt da wieder ein Tier?
Wird es nicht schon heller?
Aber was wissen wir ...

Nach Rainer Maria Rilke

Aus: Hanns von Gumppenberg, Das Teutsche Dichterross in allen Gangarten vorgeritten. Verl. der Deutsch-Französischen Rundschau, München 1901.

Hanns von Gumppenberg, geboren am 4. Dezember 1866 in Landshut; gestorben 29. März 1928 in München, Dichter, Übersetzer, Kabarettist und Theaterkritiker. Er benutzte die Pseudonyme Jodok und Professor Immanuel Tiefbohrer.

Portrait von Rainer Maria Rilke: Leonid Pasternak (1862 - 1945)

Donnerstag, 30. März 2023

Christian Morgenstern: Die Weide am Bache

 



Die Weide am Bache


Weißt Du noch, Phanta,
Wie wir jüngst
Eine Nyade,
Eine der tausend Göttinnen der Nacht,
Bei ihrem Abendwerk
Belauschten?

Einer Weide
Half sie, sorglich
Wie eine Mutter,
In´s Nachthemd,
Das sie zuvor
Aus den Nebel-Linnen des Bachs
Kunstvoll gefertigt.
Ungeschickt
Streckte der Baum die Arme aus,
Hineinzukriechen
In´s Schlafgewand.
Da warf es die Nymphe
Lächelnd ihm über den Kopf,
Zog es herab,
Strich es ihm glatt an den Leib,
Knöpfte an Hals und Händen
Es ordentlich zu
Und eilte weiter.

Die Weide aber,
In ihrem Nachtkleid
Sah ganz stolz
Empor zu Luna.
Und Luna lächelte,
Und der Bach murmelte,
Und wir beide,
Wir fanden wieder einmal
Die Welt sehr lustig.

Christian Morgenstern, geboren am 6. 5. 1871 in München, gestorben am 31. 3. 1914 in Untermais, Tirol, aus: In Phanta´s Schloss, Berlin Schuster und Löfffler, 1891, seinem ersten veröffentlichten Gedichtband.

Das Bild ist von Nikolai Astrup (1880 - 1928)

Mittwoch, 29. März 2023

Susanne Kerckhoff: Vor deiner Tür / Nächtliche Fahrt / Volkslied

 



Vor deiner Tür

Ich bin ein Halm am Wege dir,
Auf deinem Pfad ein Stein
Und bin ein Lied vor deiner Tür
Und bin zu jeder Zeit bei dir
Und will nicht anders sein.

Und du wirst immer weiter ziehn,
Für mich hältst du nicht an.
Ich seh dein Bild im Morgen blühn,
Dein Sehnen wie den Mond dort glühn
Und hab nicht teil daran.

Es welkt der Halm vom Wege dir,
Ein Regen höhlt den Stein.
Das Lied verstummt vor deiner Tür,
Es lebt von dir und stirbt an dir
Und singt es dir und singt es mir:
Es will nicht anders sein.


Nächtliche Fahrt

Schreiten die Wolken, jagen die Kiefern dahin,
stürzt mir das Jahr, daß ich näher den Toten bin.

Will ich zu dir, weiß, du bleibst immer mir nicht,
wollt' ich, mein Herz fasste in Stein dein Gesicht,

hielt' deine Hand, hielt' deine Augen so warm,
wie jetzt der Mond nimmt diesen Wald in den Arm.

Fliehender Wald, zittern die Wurzeln im Grund.
Kann nichts mehr sehn, fließt es mir salzig zum Mund.

Klage der raubenden Zeit! Raubt mir ja beinah' den Sinn,
weil ich, vergehend an ihr, tief im Lebendigen bin.


Volkslied

War es im Walde,
waren die Wege verschneit,
gingen die Kinder,
gingen im Walde zu weit.

Über die Heide
sangen sie, lachten sie gern,
hörten vom Berge
Stimmchen wie Silber so fern.

Schön sind die Tannen,
duftig das funkelnde Eis.
Furcht auf den Wangen
glüht wie ein Öfchen so heiß.

Daß ich dich liebe –
bin wie die Kinder im Wald.
Sie sind erfroren.
Folg ihnen bald.

(1950)


Susanne Kerckhoff, geboren als Susanne Harich (* 5. Februar 1918 in Berlin; † 15. März 1950 ebenda), Schriftstellerin, Journalistin und Lyrikerin. Sie wuchs bürgerlich-liberal in Berlin auf. Es gab Begegnungen und Briefwechsel mit Carl Sternheim, Carl Schmitt, Erich Kästner, Klabund, Kurt Hiller, Gottfried Benn. Als Schülerin schloss sie sich der allerdings 1933 verbotenen Sozialistischen Arbeiterjugend an. Ab 1935 veröffentlichte sie und wurde 1937 in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen.

Im Alter von 19 Jahren heiratete sie 1937 den Buchhändler Hermann Kerckhoff. Ihre Kinder wurden 1937 (Hermann), 1938 (Dina) und 1945 (Christian) geboren. Von 1941 bis 1943 studierte sie Philosophie an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin.

Im Mai 1945 wurde die Kerckhoffsche Buchhandlung am Alexanderplatz in Berlin zerstört. Kerckhoff erlebte das Kriegsende mit ihren Kindern im Emsland, wo sie als Dolmetscherin arbeitete und Mitglied der SPD wurde. Ein Jahr später trennte sie sich von ihrem Ehemann und den Kindern und zog nach Ost-Berlin. 1947 erfolgte die Scheidung von Hermann Kerckhoff, ihr Mann erhielt 1949 das Sorgerecht für die Kinder.

Vom 4. bis 10. Oktober 1947 nahm Kerckhoff am Ersten Deutschen Schriftstellerkongress in Berlin (West und Ost) teil. Ebenfalls ab 1947 arbeitete sie für den Ulenspiegel, eine amerikanisch-lizenzierte Zeitschrift, ab 1948 als Redakteurin. 1948 wurde sie Mitglied der SED und Vorstandsmitglied des Schutzverbandes Deutscher Autoren. Ab 1949 war sie Feuilletonredakteurin der Berliner Zeitung, ab 1949 bis zu ihrem Tod die Leiterin der Kulturredaktion.

Am 15. März 1950 beging Susanne Kerckhoff in Berlin-Karolinenhof Suizid. Zuvor war ihr in SED-Rundschreiben eine „schwankende ideologische Haltung“ vorgeworfen worden. Sie wurde auf dem Berliner Waldfriedhof Grünau beigesetzt. Arnold Zweig gehörte zu denen, die sie nach ihrem Tod würdigten mit den Worten: „Aus welchen Bestandteilen mischte sich Dir der Trank, der Dir die Lust am Leben vergällte?“

(Wiki)

Dienstag, 28. März 2023

Else Gube: So liegen - und. . .

 



So liegen - und. . .

So liegen – und von deiner Liebe träumen,
wenn rings die Erde strahlt im Sonnenlicht,
wenn sich die Wolken purpurfarben säumen.

So reglos liegen unter grünen Bäumen,
von Küssen und von Erdenwonnen träumen,
weißt du, Geliebter, das ist ein Gedicht.

Else Gube (Psdn. Else Galen-Gube) Verfasserin von Gedichten und Novellen, geboren am 22.12.1869 gestorben am 14.02.1922

Das Bild (Ausschnitt) ist von Hans Thoma (1839 . 1924)

Montag, 27. März 2023

Edlef Köppen: Frühling 1928

 



Frühling 1928

Gehen nun, lang, oh wie lang, in den lauen Gefild eines Abends,
Häuser bauend aus Schweigen und ein wenig Gesang.
Einsam sind noch die Vögel in den kahlen Geästen der Bäume,
schreckhaft fast deutlich, verwandt meinem Herz.
Vertraut wie ein Kleid hüllt mich jetzt diese Wärme,
in der ich singenden Mundes gehe, heimwärts ...
Gib nun den Schlaf, diesen Herbst meinen Augen, betet der Mund. –
Doch ich wache im Zimmer, dort auch im Spiegel, rufe, bin stumm.
Weit reicht mein Herz hinaus in den Abend.
Und immer, immer diese Amseln rufend vor dem Fenster ...

Edlef Köppen, geboren am 1. März 1893 in Genthin, war ein deutscher Schriftsteller und Rundfunkredakteur. Auch er trat, wie so viele seiner Generation, 1914 als Kriegsfreiwilliger in die Armee ein. Er diente als Artillerist und kam im Oktober 1918, von den Kriegserlebnisssen traumatisiert und desillusioniert, nach Hause. Die Erlebnisse verarbeitete er später in seinem großen Roman Heeresbericht. Köppen vertrat seitdem pazifistische Positionen.

Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, wurde Köppen als Leiter der Funk-Stunde Berlin abgesetzt. Sein Weltkriegsroman fiel der Bücherverbrennung 1933 in Deutschland zum Opfer. 1935 wurde der Roman verboten.

Edlef Köppen starb am 21. 2. 1939 in einem Lungensanatorium in Gießen an den Spätfolgen seiner Kriegsverletzung.

Die Illustration ist eine Radierung, „Die Amsel“, (1899) von Heinrich Vogeler (1872 - 1942)

Sonntag, 26. März 2023

Adam Kuckhoff: Blüten im Zimmer

 



Blüten im Zimmer

Kleiner Frühling im Zimmer,
Blumen und Kätzchen und Blüten;
all der kommenden Güten
draus ein herrlicher Schimmer –

Steht sie darüber gebeugt,
ist es, als wenn es geschähe,
dass ihre wärmende Nähe
schneller das Blühen verzweigt.

Adam Kuckhoff, geboren am 30. August 1887 in Aachen; Schriftsteller, Lektor (Eugen Diederich Verlag), Herausgeber der Zeitschrift „Die Tat“, Wiederstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Hingerichtet am 5. August 1943 in Berlin-Plötzensee.

Das Bild ist von O. Cettemann um 1900

Fred Endrikat: Frühling ist´s!


 

Frühling ist´s! Die Hennen glucksen
Veilchen raus - und weiße Buxen.
Frauen schnüren sich geringer,
und der Bauer schiebt den Dünger.
Fliegen klettern unverdrossen
auf den Nasensommersprossen.
Ringsum blüht´s an allen Hecken -
und es riecht aus den Ap´theken.
Ich steck mir voll Übermut
´nen Sonnenstrahl an meinen Hut.
Freudig jubeln und frohlocken
Kirchen-, Kuh- und Käseglocken.
Frühling wird’s mit Vehemenz.
Auf grünen Filzpantoffeln naht der Lenz!

Fred Endrikat (* 7. Juni 1890 in Nakel an der Netze; † 12. August 1942 in München), Schriftsteller, Dichter und Kabarettist. Seine humoristischen Kabaretttexte und -lieder waren seinerzeit sehr erfolgreich. (Wiki)

Die Illustration „Frühling“ ist von Alfons Mucha (1860 - 1939)

Freitag, 24. März 2023

Johann Wolfgang Goethe: Vor Gericht

 


Vor Gericht

Von wem ich´s habe das sag ich euch nicht
Das Kind in meinem Leib,
Pfui speit ihr aus die Hure da!
Bin doch ein ehrlich Weib.

Mit wem ich mich traute das sag ich euch nicht
Mein Schatz ist lieb und gut
Trägt er eine goldne Kette am Hals
Trägt er einen strohernen Hut.

Soll Spott und Hohn getragen sein
Trag ich allein den Hohn,
Ich kenn´ ihn wohl, er kennt mich wohl
Und Gott weiß auch davon.

Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr
Ich bitt laßt mich in Ruh,
Es ist mein Kind und bleibt mein Kind,
Ihr gebt mir ja nichts dazu.

Aus: Johann Wolfgang Goethe (1749 - 1832), Sämtliche Werke, Bd. 1, Gedichte 1756 – 1799. Herausgegeben von Karl Eibl. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1987

Das Bild ist von Ferdinand Hodler (1853 - 1918)

Dora Leen: Traum

 



Traum

Mich grüßte erstrahlender Schein,
mich grüßte erblühendes Land,
in Träumen stand ich allein,
dem Schimmer zugewandt.

Aus dunkelndem Tore trat
die Liebe in leuchtender Pracht
und wies mir steinigen Pfad,
der führte durch Sturm und Nacht.

Da habe ich still von dem Schein,
mich still von den Blüten gewandt
und ging die Straße von Stein,
die Liebe in der Hand.

Dora Leen, Pseudonym von Dora Pollak, geboren am 23. Oktober 1880, ermordet 1942 in Auschwitz. Für den Komponisten Franz Schreker schrieb sie unter anderem mehrere Lieder und das Libretto der Oper Flammen. „Traum“ wurde von ihm vertont, Acht Lieder, Op. 7: Traum

Franz Schreker (ursprünglich Schrecker), geboren am 23. März 1878 in Wien; gestorben am 21. März 1934 ebenda, Komponist, Dirigent und Musikpädagoge.

Das Bild ist von Claude Monet (1840 - 1926)


              

Donnerstag, 23. März 2023

Alexander Bessmertny: Beim offenen Fenster

 



Beim offenen Fenster

Die Nacht reift spät
In Busch und Beet,
Sie wächst hinaus,
Rankt sich ums Haus
Und spinnt dich ein
In Duft und Schein,
Damit du träumst,
Dein Leid versäumst.

Alexander Bessmertny, aus: Der Querschnitt, Band 5/1, 1925

Alexander Bessmertny, geboren am 20. März 1888 in St. Petersburg; Nach dem Ersten Weltkrieg lebte er als freiberuflicher Schriftsteller in Berlin. 1933 musste er als Jude emigrieren. Er zog nach Frankreich, später nach Prag, wo er 1939 denunziert und von der Gestapo verhaftet wurde. Am 22. August 1943 wurde er in Berlin-Moabit hingerichtet.

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Mittwoch, 22. März 2023

Hedwig Bender: Frühlingsmorgen

 



Frühlingsmorgen


Lächelnd, träumend, morgenduftumfangen
Ruht die Erde wie ein schlafend Kind -
Erstes Frührot färbt die zarten Wangen,
Weiche Lüfte kosen schmeichelnd lind.
Spielen flüsternd mit der Schläfrin Locken,
Drein der Lenz die ersten Kränze flicht,
Schauern ihr ein Meer von Blütenflocken
Heimlich über Schultern und Gesicht.
Leise regt sie schon die schönen Glieder,
Zögernd schließt die Nacht der Träume Thor,
Von den Bergen sinkt der Nebel nieder,
Flammend steigt im Ost die Sonn empor.
Lauter rauschen Lüfte, Bäume, Quellen -
Jubelhymnen tönt des Sturzbachs Lauf,
Und die Erde schlägt die strahlend hellen
Blütenaugen froh erschrocken auf.

Hedwig Bender, aus: Unsere Frauen in einer Auswahl aus ihren Dichtungen
Poesie-Album zeitgenössischer Dichterinnen, von Karl Schrattenthal, Stuttgart 1888

Hedwig Bender, geboren am 22. Februar 1854 in Luxemburg; gestorben am 13. April 1928 in Erfurt (auch Helene Bender), Philosophin Schriftstellerin und Frauenrechtlerin.

Das Bild „Frühling“ ist von Leon Wyczékowski (1852 - 1936)

Jomar (John) Förste: Nacht / Der Abenteurer

 



Nacht

Der Erde Leib erzittert wie ein Tier.
Nacht kauert fremd und Einer stöhnt im Schlaf.
Rötlich umrändert schwanken der Gestirne Zeichen,
Die gelben Tode: Heulender Granaten
Heißblaue Zungen, flammend in die Weite. -
Ein totes Pferd schwimmt quellend im Getreide.
Maisfelder dunkeln jäh: Aus trüben Labyrinthen
Brechen der Tode düstere Schattenspuren.

Jomar (John) Förste, aus: Die Aktion 1915

Der Abenteurer


In den Dämmerungen meiner nachtgetränkten Seele
Schlingern Wachsgebilde, die sich schlafend tasten.
Der Hypnose einer Seligkeit erliegen - - -
D-Zug-artig strömt mein weites Leben.
Nächte sickern lautlos unter Palmen;
Südlich rinnt es heiß um lichte Ströme,
Raja lächelt Gold: - Ich aber stehle
Nacht um Nacht im Flackern grüner Tische
Der Roulette Glanz mit kranken Lidern.
- Meine Nerven - Aderhände glätten leise
wie ein letztes, hoffnungsloses Spielen,
Frauenblüten weich in Tand und Seide.

Jomar (John) Förste, aus Die Aktion 1915

John Förste: Geboren am 26. Januar 1889 in Mainz als Joseph Förste. Besuch der Fachschule für Architektur an der Kunstgewerbeschule Mainz und der Großherzoglich Hessischen Baugewerk- und Gewerbeschule Bingen. 1911 ein Jahr Maurerpraktikant bei Prof. Peter Behrens, dann bei Prof. Bruno Paul am Kunstgewerbemuseum Berlin als Architekt tätig. 1914 bis 1919 Veröffentlichungen in den Zeitschriften Die Aktion, Jugend, Menschen sowie in der Anthologie 1914–1916 und im Aktionsbuch unter dem Namen Jomar Förste, der Ausdruck seiner Rilke-Verehrung ist. Beteiligt an der Gründung der nachrevolutionären DADA-Zeitschrift „Jedermann sein eigner Fußball“ sowie an der von George Grosz und John Heartfield herausgegebenen Zeitschrift Die Pleite. Veröffentlichungen unter anderem in Die Pleite, der satirischen Arbeiterzeitung Der Knüppel sowie in den Unterhaltungsblättern Jugend, Simplicissimus und Ulk als John Förste. Fortschreiten einer Lungentuberkulose, die zahlreiche Krankenhausaufenthalte nach sich zieht. Bittere Armut und große Not. Am 21. März 1941 stirbt Joseph Förste im Dr.-Heim-Hospital in Berlin-Buch an Lungen- und Kehlkopftuberkulose. (Versensporn)

Ihm ist das 23. Heft der verdienstvollen Reihe Versensporn gewidmet. Das Heft bietet eine Auswahl der verstreut veröffentlichten Gedichte aus den Jahren 1914 bis 1931 (insgesamt 51).

Versensporn Heft 23 John Förste

Das Bild ist von Christopher R. W. Nevinson (1889 - 1946)

Robert Jentzsch: Widmung

 



Widmung

Die ihr im flüsternden Walde nächtens schweift,
Vorm falben Frühlicht in die Häuser kehrt,
Nach Schmetterlingen langt, nach Faltern greift,
Ihr licht- und frohen Kinder unversehrt

Von Qual, die sinnlos uns am Boden schleift,
Die uns der Tage Munterkeit verwehrt,
Und, wenn die stumpf Entschlafnen Morgen streift,
Heiß gegen Wollen und Traum aufbegehrt:

Ich will erinnern, wie ich eure Kreise,
Die Spiele der begeisterten Natur
Verlassen musste, Hügel, Fluss und Flur,

Wie ich die tief in Lehm geschnittnen Gleise,
Hinwandernd zu den großen Städten kam:
Nun kenn ich Jugend krank und Alter gram

Und die Zertrümmerung der Menschen-Seele.

Robert Jentzsch, Lyriker und Mathematiker aus Königsberg, geboren 1890, war schon früh im beginnenden Expressionismus dabei, im „Neuen Club“ und im Café des Westens, bedichtete Jacob von Hoddis, turtelte mit Emmy Hennings und studierte dann in München Mathematik. Er fiel am 21.03.1918 in der Schlacht von Cambrai.

Er veröffentlichte hauptsächlich Gedichte in Pfemferts Aktion und in der frühexpressionistischen Zeitschrift „Beiblatt der Bücherei Maiandros“. Er machte nach dem Tod seines Freundes Georg Heym Werbung für dessen Gedichte bei Erich Mühsam, der dann auch etwas in seiner Zeitschrift KAIN veröffentlichte.

Das Foto zeigt Robert Jentzsch, 1908 - 1910, Reproduktion im Robert-Jentzsch-Archiv 20, Foto: N.N., mit freundlicher Erlaubnis von Katja Schneider-Stief, Privatarchiv Nina Schneider, Hamburg. Link zur Lizenz

Dienstag, 21. März 2023

Wilhelm Runge: Lieder

 



Lieder

I

Rosen nicken aus den Junistunden
trällern Sommerblau den Matten hin
mild aus tiefstem Herzen grünt die Heimat
ihre Lippen murmeln wälderschwer
überwelthin schwingt die sterne Zeit
Kinderwangenliebkinderwangengereiht
Krieg brüllt auf
Die wilden Blumen schrein
Sonne leckt Gestöhn aus allen Poren
Frieden holt den tiefen Atem ein
und der Nächte durchwühlte Locken
schmeicheln um der Seele zitternd Knie
Angst zerreißt der Sterne Himmelglanz
und der Abend drückt die Augen blind
einsam geigt
tief hinter Blut geduckt
ewger Kindheit wildumsehntes Glück
und der Sehnsucht über die Welt
hängende Herzen
schlagen

II

Das Denken träumt
Gelächter reimt die Straßen
zum Tanz des Blutes
schläfenaufundab
Die Adern blinzeln Frühling durch die Knospen
und schlürfen tief den schweren Himmel ein
Wind spielt der Augen froh geschwellte Segel
der Stirne Knoten löst vom Tode sich
weiß über Wiesen schnattern Dörfer hin
die Städte fauchen
und zankend zerrn die Pulse ihre Zügel
nur deine Seele spielt im Sternjasmin
Lieb-Brüderchen Maßloslieb-Schwesterlein

III

An der Wüste deiner Stirne welkt der frühen Winde Blüte
meiner Stimme Hand zerrt blutend deines Denkens Dorngestrüpp
Einsam scheuen Deine Augen
hängen müde ihre Zweige
und Dein Mund ist ein Boot
nachts
auf uferlosem Meer

Aus: Der Sturm 1916 / 1917

Wilhelm Runge, geboren am 13.6.1894 Rützen/Schlesien, am 22.3.1918 bei Arras „gefallen“. In Schlesien aufgewachsen, ging Wilhelm Runge 1914 als Kriegsfreiwilliger an die Front. Vor Ypern wurde er im Nov. 1914 verwundet, 1915 kam er nach Berlin u. studierte Medizin. Dort schloss er sich dem »Sturm«- Kreis um Herwarth Walden an. Besonders eng befreundete er sich mit Georg Muche, damals Lehrer an der Kunstschule des »Sturm«, und dessen Braut Sophie van Leer. Im »Sturm« erschien fast seine gesamte Lyrik. Anlässlich seines frühen Todes schrieben Franz Richard Behrens, Kurt Heynicke u. Walter Mehring poetische Nachrufe; Muche widmete ihm ein Ölgemälde zum Gedächtnis. Das einzige Buch, der Gedichtband Das Denken träumt (Berlin 1918), wurde von Wilhelm Runge noch im Feld korrigiert, aber erst nach seinem Tod veröffentlicht.


Karl Stamm: Blumenlegende / An den Mond

 



Blumenlegende

Und war der dritte Tag, da Gott die Welt erschuf'
sich seiner Einsamkeiten zu begeben.
In tiefe Heimat bettend so sein Leben
erging von Tag zu Tag sein Schöpferruf.

Er ward im Licht, er auferstand im Land,
und aus den Wassern sah er sich entgegen.
Wie war sein Spiegelbild ihm milder Segen.
Und um ihn stürzte leise Wand an Wand.

Und als er sich zum dritten Male rief,
hob er sich leis aus hohem Lilienstengel.
Unendlich sank er hin, sich zugewendet.

Wie schauten deine Gottesaugen tief -
Aus jeder Blume tönte dir der Engel -
Du wusstest nicht, wie tief du dich vollendet.

An den Mond

Die mit ihrem Strahle mich geblendet,
hohe Sonne, ist hinweggegangen.
Aber ewig ist das Lichtverlangen.
Auge seinen Blick ins Dunkel sendet.
Meine Seele will empfangen.

Nun erhellt sich sanft mein dunkles Wesen,
wie dein leuchten auf mich niederbricht.
Kann in meinem eigenen Herzen lesen.
Am gedämpftern Quell mag ich genesen.
Heiter trink ich deiner Schale Licht.

Aus: Karl Stamm, Der Aufbruch des Herzens, Rascher, Zürich, 1. Auflage 1919

Karl Stamm, geboren am 29. März 1890 in Wädenswil, Kanton Zürich; gestorben am 21. März 1919 in Zürich, Schweizer Lyriker.

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Sonntag, 19. März 2023

Frida Bettingen: Hölderlin an Diotima / Friedrich Hölderlin: An Diotima

 



Hölderlin an Diotima

Du bist so gut.
Du riefst den Heimatlosen.
In Deine kerzenhellen Säle riefst Du ihn.
Nahmst, Liebliche
den Wüstenstaub
von der durchstürmten Brust,
und richtetest den Pilgrim zärtlich auf.

So kniete ich,
der immer Suchende,
und schloß die Augen;
denn das Glück, es blendet.

Und alle Deine Lampen brannten heller.
Und alle Deine Blumen sagten Süßes.
Und alle meine Sehnsüchte verstummten.
Und wußten nichts mehr voneinander, - nichts!

Denn Du warst da.
Und keines noch.
Nur Du.

Wie unermüdlich jung ist Dankbarkeit!
Die Gabeselige. Die immer Frohe.
Die süße Wurzel, die die tausend Keime
ihr anvertraut, in wenig Tag und Nächten
empor in Stamm, und Ast, und Knospe drängt,
daß sich die Zweige rosenübersät,
Dir bücken,
und samtne Früchte, purpurn, und voll Schmelz
in gleichem Atemzuge sich an Dich verlieren.

Kennst Du die holden Boten?
Kennst Du sie?

Staunen. Hingebung. Die gläubige,
die Demut.
Und noch unbewußt
das königliche Kind,
die Liebe?

Ach, wer liegt, wie ich
in Hunderten von stummen Nächten,
und schickt sie aus zu Dir.
Und schickt, und schickt!

Oh, bleibe, wie Du bist!
So liebend, und geliebt.

Du bist so klar, gelassen, wonnesam,
wie Deine rosenseidnen
Gewänder durch den Sommergarten gehn.

Auf welchen Sternen sind wir uns begegnet!
Du, mir vertrauter,
als mein eigen Haar, und Hand, und Angesicht?

Ein Keim,
und eine holde Schale hat
uns die Entfaltung Brust an Brust gestaltet.

Sag mir, Natur,
wo brachst Du unsre Schale?
Du Neidische!
Wie hast Du uns getrennt!

Darf ich auch niemals mehr als Freund Dir sein,
ich hab nur Dank. Ich habe keine Träne.

Ich baue meine Schmerzen in mir auf
zu einem Gnadenbilde,
das mich beschenkt.

Oh, edles Feuer meiner Lieder überwachse
den Sterblichen!

… wie unermüdlich jung ist Dankbarkeit.

Aus: Frida Bettingen Gedichte. Bei Georg Müller München 1922


An Diotima

Fliegen die Zweige des Hains,

Wie die Locken im Tanz; und wie auf tönender Leier
Ein erfreulicher Geist,

Spielt mit Regen und Sonnenschein auf der Erde der Himmel;
Wie in liebendem Streit

Über dem Saitenspiel ein tausendfältig Gewimmel
Flüchtiger Töne sich regt,

Wandelt Schatten und Licht in süßmelodischem Wechsel
Über die Berge dahin.

Leise berührte der Himmel zuvor mit der silbernen Tropfe
Seinen Bruder, den Strom,

Nah ist er nun, nun schüttet er ganz die köstliche Fülle,
Die er am Herzen trug,

Über den Hain und den Strom, und - - - -
- - - - - - - - - - -

Und das Grünen des Hains, und des Himmels Bild in dem Strome
Dämmert und schwindet vor uns

Und des einsamen Berges Haupt mit den Hütten und Felsen,
Die er im Schoße verbirgt,

Und die Hügel, die um ihn her, wie Lämmer, gelagert
Und in blühend Gesträuch

Wie in zarte Wolle gehüllt, sich nähren von klaren
Kühlenden Quellen des Bergs,

Und das dampfende Tal mit seinen Saaten und Blumen,
Und der Garten vor uns,

Nah und Fernes entweicht, verliert sich in froher Verwirrung
Und die Sonne verlischt.

Aber vorübergerauscht sind nun die Fluten des Himmels
Und geläutert, verjüngt

Geht mit den seligen Kindern hervor die Erd aus dem Bade.
Froher lebendiger

Glänzt im Haine das Grün, und goldner funkeln die Blumen,
- - - - - - - - - -
Weiß, wie die Herde, die in den Strom der Schäfer geworfen

- - - - - - - - - -

Friedrich Hölderlin (20. 3. 1770 - 7. 6. 1843)

Frida Bettingen (* 5. August 1865 in Ronneburg; † 1. Mai 1924 in Jena; geborene Frida Reuter), Schriftstellerin, expressionistische Lyrikerin.

Die Familie lebte 24 Jahre bis zum Tod von Franz Bettingen in Krefeld, danach zog sie nach Jena. Dort studierte Bettingens Sohn Philologie. Er starb 1914 im Ersten Weltkrieg, was bei Frida Bettingen zu schwerwiegenden psychischen Problemen führte. Ab 1917 hielt sie sich mehrmals in Sanatorien auf. 1923 wurde sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Zwischen diesen Aufenthalten war es ihr jedoch möglich, ein weitgehend normales Leben zu führen. Sie schrieb Gedichte, wobei die Inspiration dazu hauptsächlich aus ihrer Trauer und Verzweiflung als Mutter entsprang. Erst mit diesem Spätwerk nahm sie, gefördert von Wilhelm Schäfer, an der expressionistischen Bewegung teil.

Das Bild ist von Wassily Kandinsky (1866 - 1944)


Samstag, 18. März 2023

Fritz Löhner-Beda: Erinnerung

 



Erinnerung

Aus den Nebeln meiner Kinderzeiten
Tauchen Bilder, sieben oder acht.
Primitive Nebensächlichkeiten,
Wie aus bunten Marzipan gemacht.

Auf dem Weg zur Schule eine Lacke:
Runde schwarze Käfer schwimmen drin,
Die ich gierig mit den Fingern packe,
Während ich von Ehrgeiz trunken bin.

Oder: Pferdestall. Ein fetter Schimmel
Dreht den Kopf nach mir mit träger Müh`,
Glotzt mit einem frommen Blick gen Himmel,
Seufzt und sagt, ja, sagt ganz deutlich: Püh!

Eine Lichtung. Voll von Brombeerbüschen.
Ich und Gretl. Alles duftet naß.
Gretl will ein Zweiglein wo erwischen,
Stolpert, kollert und ich sehe was.

Erste Angst: Ein Gänserich, ein großer,
Rennt mir nach und zischt. Ich lauf und lauf. . .
Tret´ auf ein zerbroch´nes Glas mit bloßer
Sohle, blute, schreie, heule, schnauf´. . .

Erste Liebe: Zehn und dreizehn Jahre.
Hedwig geht tief in den Wald mit mir.
Gold´ne Sonne spielt im gold´nen Haare.
Sitzen stumm im Moos. Dann weinen wir.

Kinderaugen schauen aus den Weiten
Und es tauchen aus der braunen Nacht
Primitive Nebensächlichkeiten
Wie aus bunten Marzipan gemacht. . .

Fritz Löhner-Beda, am 24 Juni 1883 als Fritz Löwy in Wildenschwert geboren. Er studiert Jura und promoviert 1905 an der Universität Wien zum Dr. jur. Vor dem Ersten Weltkrieg schreibt er Satiren, 1920 erscheint der Lyrikband „Ecce ego“. Als Librettist von Franz Lehárs Operette "Land des Lächelns" erlangt er 1928 Weltruhm.

Ende März 1938, nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich, wird er sofort verhaftet und am 1. April mit dem sogenannten "Prominententransport", dem ersten Transport von Österreichern, ins KZ Dachau eingeliefert. Im September 1938 wird er nach Buchenwald überstellt, arbeitet in der Strumpfstopferei und ab September 1939 im Gärtnerei-Kommando. Vergeblich hofft er, Franz Lehár werde sich für seine Freilassung einsetzen. Im Lager beteiligt er sich an Kleinkunst-Aufführungen für Mithäftlinge. 1938 dichtet er den Text des "Buchenwald-Liedes", den Hermann Leopoldi vertont. Im Oktober 1942 wird Fritz Löhner-Beda in das KZ Auschwitz-Monowitz deportiert. Beim Morgenappell wird er durch Schläge eines SS-Mannes so schwer verletzt, daß er am 4. Dezember 1942 stirbt.

Erinnerung, aus: Ecce ego! Lieder und Gedichte von Beda, R. Löwit Verlag, Wien und Berlin 1920

Das Bild ist von Theodor Kittelsen (1857 - 1914)

Karl Brand: Wandlung

 



Wandlung

In Nacht und Raum –
Die Stimme dröhnt im Ohr,
Ein grauer Traum
Aus nichts trat vor,
Als Stunde, die mich hielt,
Als Schmerz und Angst gefühlt,
Ins nächtge Hirn gebrannt,
Trat all als Traum mich an.

Und der Geliebten Wort
Im Ohr als Höllentanz
Riss mich ins Ewge fort,
In raum- und stundenlosen Glanz
Der aufgepeitschten Nacht,
Der wesenlosen Einsamkeit,
In der allein das Tote wacht
Als Graus und Zeit.
Ins Tote riss der Traum mich fort,
Dass ich dem müden Leib entfiel.

Als Nichts im Raum
Verging ich leis,
Verging der Nächtetraum.
Wer weiß,
Ob ich als Mensch, als Tier,
Als schleimige Qualle
Aus Ewigkeit noch in ein Weltsein falle.

Karl Brand, der eigentlich Karl Müller hieß und 1895 in Witkowitz geboren wurde, stammt aus ärmlichen Verhältnissen und erkrankt schon früh schwer an Tuberkulose. Das Dichterpseudonym Brand wählt er sicher nicht zufällig, denn es ist ein Signum des seelischen Fiebers seiner Generation.

Seine Texte sind Werke eines Frühvollendeten, dessen Weltsicht, auch vor dem Hintergrund der unheilbaren Krankheit, unerschütterlich negativ ist. Das Ich ist vielfach nicht nur vom Zerfall bedroht, sondern dem totalen Untergang preisgegeben.

1916 greift Brand Kafkas 1915 erschienene Erzählung „Die Verwandlung“ auf, in der er seine Lebensverhältnisse dargestellt und seine düstere Zukunftsperspektive vorgebildet sieht. In der kurzen Erzählung „Die Rückverwandlung des Gregor Samsa“ unternimmt der Todgeweihte den Versuch, sich gegen das Hinschwinden zur Wehr zu setzen und sich zumindest schreibend eine Zukunft zu erhalten.

Doch die Krankheit schreitet rasch voran. Karl Brand stirbt am 17. März 1917 in Prag. Er wird nur 21 Jahre alt.

Im Oktober 2013 erschien das dreizehnte Heft der verdienstvollen Reihe VERSENSPORN, das sämtliche bisher bekannten Gedichte enthält. Daraus ist auch das Gedicht oben, die Informationen über Karl Brand sind aus dem Klappentext.

Versensporn Heft 13 Karl Brand

Das Bild ist von Arkhip Kuindzhi (1841 - 1910)

Freitag, 17. März 2023

Walter Rheiner: Der Platz

 



Der Platz

Ich wag nicht mich zu regen. Doch der Platz
dreht leise sich in meine weite Brust.
Im innern blüht mir weiß und unbewusst
der hohen Bogenlampen langer Satz.

In ihrer Mitte schweb ich lächelnd auf.
Aus meinen Händen fällt ein schmaler Regen
auf bunter Bahnen glückliches Bewegen,
und viele Menschen blicken still herauf.

Ich aber sauge aus beglänzten Läden,
aus Mensch und Haus, Getier und Untergrund,
der schwirrenden Gefühle Silberfäden.

Tief in sie eingehüllt bin ich ganz bunt
und wunderbar erlöst und ohne Schäden,
und kreise wie ein Mond am Himmelsrund.

Walter Rheiner, aus: Die Aktion 1915

Walter Rheiner, eigentlich Walter Heinrich Schnorrenberg, geboren am 18. März 1895 in Köln; gestorben am 12. Juni 1925 in Berlin-Charlottenburg), Schriftsteller des Expressionismus.

Als er 1914 zum Kriegsdienst berufen wurde, nahm Walther Rheiner erstmals Rauschmittel – er gab damit vor, drogensüchtig zu sein, um der Wehrpflicht zu entgehen. Trotz dieses Umstands wurde er eingezogen und mit Beginn des Ersten Weltkrieges an die russische Front beordert. Eine Entziehungskur scheiterte, sein Täuschungsversuch kam 1917 ans Licht, worauf er vom Dienst suspendiert wurde und nach Berlin übersiedelte. Aus seinem anfänglich gemäßigten Drogenkonsum entwickelte sich jedoch mehr und mehr eine Sucht nach Kokain und Morphinen, die ihm letztendlich zum Verhängnis wurde. In einer armseligen Unterkunft in der Charlottenburger Kantstraße setzte er seinem Leben am 12. Juni 1925 im Alter von 30 Jahren mit einer Überdosis Morphin selbst ein Ende.

Das Bild ist von Walter Gramatté (1897 - 1929)

Alfred Grünewald, aus: Renatos Gesang - Ein Buch der Einsamkeit (1 - 3)

 




Aus: Renatos Gesang - Ein Buch der Einsamkeit

Einkehr

1


Du meine tiefste Heimat: Einsamkeit!
Nun hast du wieder bräutlich mich empfangen.
Nach müder Irrfahrt bin ich voll Verlangen
zurückgekehrt. Du Glanz aus Kinderzeit.

Du Klang der Stille. Lächeln du aus Lied.
Wie wandelt deine sanfte Macht mein Bangen!
Es grüßt der Himmel. Nebel sind vergangen.
Das abendliche Tal ist mondgeweiht.

Und wieder schreit ich, schreite, wie von Schwingen
getragen, in das lauschende Gelände.
Und wieder laß ich mich vom Traum bezwingen.

Schon neigen Sterne sich mit goldner Spende.
Ich heb, ein Trunkener, erlöste Hände.
Du Heimat Einsamkeit, dir will ich singen.

2

Ich fand mich wieder, der ich mich verlor,
kann mit mir selber wieder Zwiesprach pflegen.
Ich bin bei mir. Ging lange mir entgegen
und fand in meines Herzens offnes Tor

die Stunde der Verheißung. Jedes Regen
von Blatt und Blüte trifft mein waches Ohr,
wenn Abendwind den tiefsten Duft erkor.
Ich kann die Welt als mein Geheimnis hegen.

Wo weilte ich, als Tage mich beschwerten,
und Nächte müde waren und vermummt
in nächtigeres Dunkel; alle Gärten

verschlossen waren und mein Lied verstummt?
Mir ist so mild. Es tönt dem Heimgekehrten
des Baches Raunen. Eine Biene summt.

3

So ruhevoll ist diese Zeit, Es gleiten
die Tage mir vorbei und sind ganz licht.
Und auch in meiner Nächte Angesicht
seh ich ein Leuchten sich dem Tag bereiten.

Ich tret zum Tor hinaus. Die Wiesen breiten
sich weit ins Tal, Ein blumiges Gedicht
les ich von ihrem Teppich. Tönte nicht
das Lied, das ich erfand, schon durch die Weiten?

Seht, was ich singe, ward vorausgedichtet
von Wiesen und von Wolken eh und je.
Nur zum Empfange hab ich mich gerichtet,

da kam mein Lied geflogen übern See.
Und alles Dunkel hat sich mir gelichtet,
daß ich der Worte Heimlichchstes versteh.

Alfred Grünewald, Verlag Paul Stern, Wien 1921

Alfred Grünewald wurde am 17. März 1884 in Wien geboren. Nach den Novemberpogromen 1938 wurde er am 14. November 1938 in das KZ Dachau verbracht, im Januar 1939 wurde er wieder entlassen. Er floh über die Schweiz nach Südfrankreich, nach Kriegsausbruch wurde er in der Fort-Carré in Antibes und im Lager Les Milles interniert, bis Herbst 1942 lebte er in Nizza. Dort wurde er von der Polizei des Vichy-Regimes festgenommen und an die SS ausgeliefert. In Auschwitz wurde er am 9. September 1942 ermordet.

Die Illustration ist aus einem französischen Alchemiebuch des 17. Jahrhunderts, Autor unbekannt.

Donnerstag, 16. März 2023

Paul Boldt: Vorfrühlingshimmel / Die Reise

 



Vorfrühlingshimmel

Blätter wollen im Winde fliegen,
Winde die Chaussee begleiten,
Wolken sich auf Winden wiegen,
Taumelnde Beschwerlichkeiten. -

Und ich komme, seltsam kühn,
Und als ob ich nicht Ich wäre,
Aus den Winden, Avenuen,
Mehr in das Imaginäre.

Paul Boldt, aus: Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 9 (28. Feb.)


Die Reise

In diesem Herbst, der nicht mehr wärmt, ist Trauer.
Seit aller Vogelflug nach Süden schwärmte
Und Liebe sich um ihr Geliebtes härmte,
Schüttet die Nacht unnennbare Schauer

Über den Weg, den ich zu gehen wähnte.
Ach, Kreuzweg kam! Ach, Kreuzweg! Ungenauer
Sieht mein Gesicht. Ins Auge nebelgrauer
Stach Bitternis so, bis es tränte, tränte.

Wie schritt ich eigenmächtig in die Ferne.
Die Tage brannten magisch an den Händen.
Es lullte mich. Ich trug die Träume gerne,

Und als Verdienst erschien ein Abenteuer. – –
Die Straße hält auf diesem schwarzen Sterne;
Gestrüpp von Nächten. Schmutz ist im Gelände.

Paul Boldt, aus: Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 39 (27. Sept.)


Am 16. März 1921 starb der 1885 geborene Dichter Paul Boldt in Freiburg im Breisgau an einer Embolie nach einer Operation. Er hinterließ nur einen Gedichtband, schon 1918 hatte er aufgehört zu schreiben. Doch durch sein Gedicht „Junge Pferde“ wurde er 1914 in Künstlerkreisen berühmt.

Das Bild ist von Herbert von Reyl-Hanisch (1898 - 1937)


Mittwoch, 15. März 2023

Ella Hruschka: Im goldenen Licht / Im Dunkel

 



Im goldenen Licht

Zuweilen wirft die Sonne selt'ne Strahlen,
Daß fremder Glanz auf allen Dingen ruht:
Vergoldet sind des ärmsten Schiffleins Masten,
Und eine güld'ne Fracht sind seine Lasten,
Ein Strom von Gold ist die bewegte Flut.

Und manchmal bricht ein Schein aus meiner Seele,
Der solchen Glanz um alle Dinge spinnt -
Geheimnisvolle Kräfte leise weben
Ein Goldgespinst um jegliches Erleben:
Im goldnen Licht des Lebens Welle rinnt.


Im Dunkel

Der See wallt atmend zum Strande,
Sonst Stille rings nah und fern
Und immer tiefer das Dunkeln,
Am drohenden Himmel kein Stern.

Ich geh am umnachteten Walde
Entlang den verödeten Strand,
Das Licht deiner Liebe im Herzen,
Als führtest du mich an der Hand.

Aus: Im goldenen Licht, Gedichte von Ella Hruschka, Leipzig Verlag für Literatur, Kunst und Musik 1910

Ella (Emanuela) Hruschka, geboren am 7. Mai 1851 in Trebitsch (Mähren); gestorben am 13. März 1912 in Wien, Lehrerin, Schriftstellerin, Frauenrechtsaktivistin.

Das Bild ist von Arthur Severn (1893 - 1949)

Dienstag, 14. März 2023

Arthur Silbergleit: Einmal war ich Stern. . . / Heimats-Sehnsucht / Heimkehr

 



Einmal war ich Stern. . .

Einmal war ich Stern. Jäh stürzte ich
Zum tiefsten Flutengrunde hin.
Die Wellen überborden mich,
Dieweil ich überzählig bin.

Doch wenn auch ausgeschäumt mein Ich
Auf allen Meereswogen ist:
Zuweilen singen Muscheln mich,
Daß mich das Dunkel nicht vergißt.

Arthur Silbergleit, aus: Der ewige Tag. Gedichte. Hrsg. von der Künstlerhilfe der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Levy, Berlin, 1935. Auch: Heinz Piontek: Poesiealbum 326, Märkischer Verlag Wilhelmshorst, 2016

Arthur Silbergleit, geboren am 26. Mai 1881 in Gleiwitz in Oberschlesien; wurde am 13. März 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert, wo er noch im gleichen Monat starb. Sein Freund Erwin Magnus führte ihn im Verein Breslauer Dichterschule ein, wo er durch Paul Barsch, Marie Muthreich und Paul Keller gefördert wurde. In diesem Kreis wurde Silbergleit 1905 mit Walter Meckauer bekannt, später mit Paul Mühsam, die beide der Breslauer Dichterschule angehörten.

„Silbergleit ist ein Dichter, der am Webstuhl der Natur sitzt, in dem Göttliches noch ursprünglich wirkt. Er kommt vom Religiösen her, alles in ihm, an ihm ist stark und tief von Gläubigkeit durchglüht. In seinen Werken verknüpfen sich Stoff und Idee, Welt und Geist, verbinden sich Wissenschaft und Dichtung. Arthur Silbergleit kann selbst in seinen weltlichen Werken nicht verleugnen, daß er ein Sproß seiner Litauischen Ahnen ist, die als Priester in den Zelten Israels heimisch waren.“ Max Tau (1897 - 1976), deutsch-norwegischer Schriftsteller.

„Die Benennung Sänger trifft auf Silbergleit vorzüglich zu, auf die Geschmeidigkeit und Beherrschung des Reims, auf die innere Regentschaft über Klang und Reim, auf die sorgfältige Vokalisierung, auf den bel canto, der jede lyrische Empfindung begleitet.“Max Hochdorf (1880 – 1948)


Heimats  -  Sehnsucht

Mich fasst ein Sehnen nach der Heimat,
Wo wild des Jordans Wasser rauscht
Und wo ein wegematter Wand´rer
Ergriffen einer Harfe lauscht

Dem Schmerz- und Witwensange Zions,
Der Königin des Weltenthrons, . . .
Mich fasst ein Sehnen nach dem Jordan
Und nach den Cedern Libanons.

Aus: Ost und West, Heft 12, Dezember 1901


Heimkehr

Zieh´n wird ein wunderbares Schiff -
Denn Lilien reiner leuchten seine Segel.
Bei seinem Nahen sinkt ein jedes Riff,
Und um den Mast hin schweben Friedensvögel,
Verträumte Kinder eines Feierland´s,
Die leise nur mit ihren Flügel schlagen,
Weil bleiche Mädchen, sanft im Mondenglanz,
Hinrudernd auf der weißen Wellen Tanz,
Den Ahasver zu Blumenufern tragen.

Aus: Die Welt - Zentralorgan der zionistischen Bewegung, Jg. 7 (10. 4. 1903)

Bild: Unknown – National Library of Israel, Schwadron collection.

Sonntag, 12. März 2023

Hedwig Dransfeld: Abend am Meer

 



Abend am Meer

I.

Nun neigt zum Meere sich die Sonnenbahn,
Ein schmerzlos‘ Sterben ist’s, ein rasch Verbluten
Der Abend treibt vorbei im Muschelkahn,
Und rote Rosen streut er in die Fluten.

Sie dehnen sich so still, so sternenweit,
Vom Scheidelicht des Himmels überfunkelt -
Nur in der Tiefe wie verschwieg’nes Leid
In grauer Finsternis die Klippe dunkelt.

Es blüht das Meer, es blüht der Wolkenflor,
Im Liebestaumel will das Licht sich galten...
Aus Gold und Purpur wächst der Fels empor,
Ein großer, stiller, lebensmüder Schatten.

Die Möwe schreit, die weiße Brandung grollt
Und zischt empor an seinen schroffen Flanken, -
Er liegt allein in Purpur und in Gold,
Ein Leichenstein auf jungen Rosenranken.

Den dunkeln Umriß seh’ ich - schroff und hart...
Ein stummes Weinen bebt um meine Lippe:
In Gold und Purpur liegt mein Herz erstarrt
Wie in der Tiefe dort die graue Klippe.

II.

Die weiße Brandung flammt im Abendschein
Und füllt die Luft mit ihren Orgelklängen...
Hier wohnt der Friede nicht - ins Land hinein
Muß ruhelos die blaue Woge drängen.

Wie sie zum Sprung den trotz’gen Nacken biegt
Und wächst und aufwärts rauscht mit Schaumesflittern
Ein junges Roß, dem weiß die Mähne fliegt
Und in verhalt’ner Luft die Flanken zittern.

Sein Wiehern tönt hinaus in Kampfesmut,
Ein volles, tiefes, wunderbares Rauschen...
O hüll’ mich ein, du purpurblaue Flut,
O laß mich ewig deinen Klängen lauschen.

Von Rosenfackeln flammt es um mich her,
Vergessen hab’ ich, was ich einst erlitten -
Mir ist, als käme durch das graue Meer
Das Glück rotgolden auf mich zugeschritten.

III.

Der Tag zerfließt in blauem Schattenduft,
Verwischt der Rosenfackel bräutlich Prangen;
In leisen Wonneschauern bebt die Luft,
Als hielten Meer und Himmel sich umfangen.

Ich möchte wie ein gold’ner Becher sein,
Auf kühlen Purpurwogen gleiten - trinken,
Noch einmal zitternd glüh’n im Abendschein
Und - vollgesogen - lautlos untersinken.

Hedwig Dransfeld, geboren am 24. Februar 1871 in Hacheney (heute Dortmund), gestorben am 13. März 1925 in Werl, Frauenrechtlerin und Schriftstellerin.

Aus: Erwachen Gedichte von Hedwig Dransfeld, Verlag J. P. Bachem G. M. B. H. Köln 1925

Das Bild ist von Leon Spillaert (1881 - 1946)

Robert Jentzsch: Die Lilien

 



Die Lilien

Die Lilien steigen weiß wie Glocken-türme
Ins Feuer-Dunkel tönend wie Kristall:
Oh Schlaf! Und goldnen Samens Düfte-Fall
Erschlaffe uns und schläfre ein die Stürme:

In unsern entblößten Herzen bohren die Nächte,
Gequälte wir pressen den Leib der bebenden Wand:
Mit Schluchten dehnet hinunter das flutende Land:
Wolke blutet: wir starren in stürzende Schächte.

Die unbetäubten Straßen hallen fort.
Die bösen Schritte, laut, verhallen wirr.
Der Lilien dünne Stäbe sind verdorrt.
Der Morgen sickert ins Zimmer, trüb und irr.

Robert Jentzsch Der Lyriker aus Königsberg, geboren 1890, war schon früh im beginnenden Expressionismus dabei, im „Neuen Club“ und im Café des Westens, bedichtete Jacob von Hoddis, turtelte mit Emmy Hennings und studierte dann in München Mathematik. Er fiel am 21. 03. 1918 in der Schlacht von Cambrai.

Er veröffentlichte hauptsächlich Gedichte in Pfemferts Aktion und in der frühexpressionistischen Zeitschrift „Beiblatt der Bücherei Maiandros“. Er machte nach dem Tod seines Freundes Georg Heym Werbung für dessen Gedichte bei Erich Mühsam, der dann auch etwas in seiner Zeitschrift KAIN veröffentlichte.

Die Lilien, aus: Die Aktion Nr. 17. 12. Juni 1911

Die Illustration ist von Philipp Otto Runge (1777 - 1810)

Freitag, 10. März 2023

Franz Janowitz: Verwandlungen

 



Verwandlungen

Ich bin nicht Land, ich bin nicht Fluß,
nicht kühlen Regens milder Guß,
nicht Blumenbrand, nicht Baumesgrün,
nicht Morgenlicht, nicht Abendglühn,
nicht grüner Hügel Schwellen.
Und doch genügt ein helles Schauen:
Ich bin verwandelt, ohne Grauen,
bin Baum und Blume, Flur und Feld,
bin Wind, der sanft die Büsche schwellt,
und bin des Baches Wellen.
So treibt mein Geist geheimes Spiel.
Was innig schon dem Kind gefiel:
An stummer Brüder trauter Brust
genießt er fremden Daseins Lust
in wandelndem Verlieren.
Er schauert bei des Abends Ruh',
schließt mit dem Wald die Augen zu,
und tanzt, wenn weiß die Nacht zerbricht,
ein Übermaß von Glück und Licht
in grünenden Revieren.

Aus: Arkadia, Jahrbuch für Dichtkunst, Kurt Wolff, Berlin 1913

Franz Janowitz wurde am 28. Juli 1892 in Podiebrad geboren, am 4. November 1917 starb er nach einer Schussverletzung im Feldspital in Unter-Breth

16 seiner Gedichte wählte Max Brod für sein Jahrbuch Arkadia aus, das im Kurt Wolff Verlag herauskam.

Zwei Jahre nach seinem Tode gab Karl Kraus im Kurt Wolff Verlag aus seinem Nachlass einen schmalen Band seiner Lyrik unter dem Titel „Auf der Erde“ heraus.

Das Bild ist von Harald Sohlberg (1869 - 1935)

Donnerstag, 9. März 2023

Joachim Ringelnatz: Hinaus an den Strand will ich gehen. . .

 



Hinaus an den Strand will ich gehen,
Wenn keiner wacht
Das wilde Meer zu sehen
Und die heilige Nacht.

Und wieder fasst mich das alte Weh –

Am Strand tanzt ein Boot.
Das lockt mich hinaus in die tosende See,
Fort, fort für immer von Hass und Not,
In die See, in die Nacht, in das Glück, in den Tod.

Ich löse das Tau
Und die Freiheit lacht
Hinter Nebel und Grau.
Und ich fahre jubelnd hinaus in die Nacht,
Das Elend fliehend zu Tod und Glück.

Einmal nur blick ich zurück.
Da winkt am Land
Eine Freundeshand –

Und wie ich das seh,
Da hab ich vergessen all Hass und Not.
Es fasst mich wieder das alte Weh.
Ich wende das Boot
Zurück zum Land
Und küsse die treue Freundeshand.


Joachim Ringelnatz (1883 - 1934)

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)


Mittwoch, 8. März 2023

Marianne Dora Rein: Gleichnis / Einem Toten

 



Gleichnis

Die zwei Buchen, die den Wind bezwungen,
haben ihre Zweige festverschlungen,
kommt der Herbst, so lodern sie zusammen,
wie ein Feuer brennen ihre Flammen

Ihre Blätter sind wie rote Zungen,
tausend Zungen, die ein Lied gesungen.
Ihre Stämme werden nie sich kennen.
Aber ihre Kronen schreckt kein Trennen

Winter naht und alle Blätter flattern
Zweige starren kahl wie schwarze Nattern.
Neue Blätter wachsen, sich zu färben,
zu verflammen, brennend zu ersterben

Einem Toten

Nur noch ein Außen das tote Gesicht,
das wir vergebens befragen.
Losch es ins Dunkel? Zündet ein Licht
sich ihm zu anderen Tagen
Keiner der weiß, Ahnung, ein Nichts,
will das Vertraute entgleiten,
Und nur die Liebe, stillen Gesichts,
darf hinter die Schwelle geleiten.

Marianne Dora Rein, beide Gedichte aus einem Brief an Jacob Picard (1883 - 1967), Leo Baeck – Institut, New York

Das Leo Baeck Institut (LBI) ist eine unabhängige Forschungs- und Dokumentationseinrichtung für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums mit drei Teilinstituten in Jerusalem, London und New York City mit Zweigstelle in Berlin. Es wurde 1955 von Hannah Arendt, Martin Buber, Siegfried Moses, Gershom Sholem, Ernst Simon und Robert Weltsch gegründet und setzt sich zum Ziel, deutsch-jüdische Geschichte und Kultur wissenschaftlich zu erforschen und ihr Erbe zu bewahren.

Marianne Rein, geboren am 2. Januar 1911, war eine junge hoffnungsvolle jüdische Dichterin aus Würzburg. Am 27. November 1941 wurde Marianne Rein zusammen mit ihrer Mutter mit dem ersten aus Würzburg abgehenden Transport zusammen mit weiteren 200 Personen, darunter 40 Kindern und Jugendlichen, deportiert. Der Transport ging über Nürnberg nach Riga. Die Deportierten wurden, so eine Überlebende, in den eiskalten Wirtschaftsgebäuden des Jungfernhofes bei Riga untergebracht. Von dort gingen ab Februar 1942 Transporte ab, zuletzt am 26. März 1942 ein Transport mit ca. 1700 Menschen. Alle Abtransportierten wurden am gleichen Tag in einem Wald bei Riga erschossen. Von den im November 1941 aus Franken nach Riga Deportierten haben, soweit bekannt, zwei Personen überlebt.

Buchempfehlung: Marianne Dora Rein – Das Werk, Rosa Grimm (Hrsg.), Kai C. Moritz (Red.), Ergon Verlag, Würzburg 2011

Hier geht es zu einem Märchen von ihr: Märchen von den vier Brüdern

Dienstag, 7. März 2023

Elsa von Freytag-Loringhoven: Herzlich / Ich bin 50

 


Herzlich

Und Gott sprach herzlich mir zu Herz –
So herzlich sprach er mir zu Herz –
Er sprach: »Dir ist erlaubt zu Ferz«!
So herzlich sprach er mir zu Herz.

Und Gott sprach herzlich mir zu Ferz —
So herzlich sprach er mir zu Ferz —
Er sprach »Weist mir ein ferzend Herz« –
So herzlich sprach er mir zu Herz.

Sprach er:
»Ich Herr —
Schuf Vorderes — ich schuf den Sterz —
Ich schuf den Ferz — ich schuf das Herz —
Groß—Meister ich vom Univerz!«

Sprach er:
»Ich Herr —
Gebeut: Die Auster scheiß die Perl —
Gebeut: Das Mädchen schmeiß der Kerl !«
Dann schneutze er sich hinterwärts.

ca. 1920/ 1924

Kunst ist Religion, daher bin ich eine Priesterin.“
Elsa von Freytag-Loringhoven (1874 – 1927)

Ich bin 50

So zeitig im Frühling – ich bemerke meinen Schulterschweiß
Solch reifen – durchdringenden – üblen – ehrlichen Duft –
Wie fortgeschrittenen Kadaver – mit frischer Myrrhe gestopft
Mumie los geht’s – vielleicht.

1924

Aus: Elsa von Freytag-Loringhoven: Mein Mund ist lüstern. I got lusting palate. Dada-Verse. Hrsg. Irene Gammel. Berlin: edition ebersbach, 2005




Dieses Foto zeigt die Readymade-Skulptur mit dem Titel „Gott“, die in einer Zusammenarbeit von Elsa von Freytag-Lorinhoven und dem Künstler Morton Schamberg (1881 - 1918) im Jahre 1917 entstand. Heute befindet sie sich im Philadelphia Museum of Art. Diese Skulptur wird mit Marcel Duchamps berühmter Brunnenskulptur verglichen, die aus einem umgedrehten Pissoir besteht. Beide Werke entstanden im selben Jahr und es besteht eine gewisse Unsicherheit darüber, wer zuerst die Idee hatte, Klempnerarbeiten in Kunst zu verwandeln. Duchamp und die Baronin waren Freunde.


Montag, 6. März 2023

Victor Hadwiger: Pfeiferglück

 


Pfeiferglück

Die Sonne schmiegt sich schmeichelnd an die Gräser
Und alle staunen in dein Meisterstück.
Wer deine Liebe hätte, blonder Bläser,
Dein Pfeiferglück!
Mit deinen Augen will ich in den Himmel schauen,
Mit deiner Sehnsucht suche ich die Frauen,
Ich lasse meine wilden Verse krönen
Und runde mir den Tag mit meinen Tönen.
Die Ebbe trägt mein Leid ins Meer zurück.
Doch morgen kehrst du wieder, junge Glut
Im Sterbefeierklang der Flut
Mein Pfeiferglück.

Victor Hadwiger (1878 - 1911), aus: Die Aktion Nr. 11, 1. Mai 1911

Das Bild ist von Eugeniusz Zak (1884 - 1926)

Gerrit Engelke: Wie bin ich heute selig

 


Wie bin ich heute selig

Ich pfeife schon den ganzen Morgen
Und döse für mich hin.
Die Sonne ist in Regenlust verborgen –
Doch irgendwas erheitert meinen Sinn.

Die Menschen sehn heute anders aus,
Das Zeitungsmädchen hüpft so niedlich, –
Die lange Straße, Haus an Haus,
So regengrau – und schläfert doch so friedlich.

Was gestern hier lärmte, roh und fuselkehlig,
Das ist heute alles stumm. –
Wie bin ich heute selig –
Und weiß doch nicht warum –

Ihr lieben Leute, ich schalt euch: unausstehlich,
Fluchte manchmal, schalt euch: schlecht und dumm,
Vergebt mir heute, ich bin so selig
Und weiß doch nicht warum.

Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest;
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!

Gerrit Engelke

Gerrit Engelke wurde am 21. Oktober 1890 in Hannover geboren. „Gewiß ist Engelke der Dichter des Maschinenzeitalters, doch unter dem Einfluß Whitmans erscheint bei ihm die Arbeitswelt in idealisierter Sicht. . . . Trotz aller Faszination teilte er freilich den unreflektierten Fortschrittsglauben seiner Zeit nicht.“ , heißt es über ihn im Buch „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen - Vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts“ von Hans J. Schütz.

Am 13. Oktober 1918 fiel er an der Westfront, kurz nachdem er einem Freund geschrieben hatte, er wolle über das „vom Krieg befreite, wieder menschlich-brüderlich werdende Völkereuropa der Städte, der Arbeit, des Lebens“ schreiben.

Dass Engelke dem städtischen Leben jedoch auch kritisch gegenüber stand zeigt sein Gedicht „Ich will heraus aus dieser Stadt“, in dem es unter anderem heißt: „Bald hab ich diese Straßenwochen, / bald diesen Stadtbann aufgebrochen / und ziehe hin, wo Ströme durch die Ewig-Erde pochen, / ziehe selig in die Welt!“

Das Bild ist von Eugeniusz Zak (1884 - 1926)


Samstag, 4. März 2023

Paul Zech: Ein jäher Sonnenschauer. . .

 


Ein jäher Sonnenschauer gab den Winterresten
Den Todesstoß. Da schmolz der Schnee zu Schaum;
Und Südwind kam und fing sich in den braunen Ästen
Und hoch vom Wipfel bis zum Wurzelflaum,
Ging wundersüßes Zucken nach den Blütenfesten.
Aufbrausend stieg der junge Saft: Gebt Raum!
Und sieh, bevor noch eine Lerche sang,
Stand schon mein Wald im Knospenüberschwang.

Paul Zech, geboren am 19. Februar 1881 in Briesen (Westpreußen), gestorben am 7. September 1946, Dichter und Übersetzer. Durch seine Erlebnisse im ersten Weltkrieg wandelte er sich zum Pazifisten. Bekannt wurde er durch Nachdichtungen, unter anderem von François Villon.1933 ging er ins Exil nach Buenos Aires, wo er starb, bevor er nach Deutschland zurückkehren konnte.

Ein jäher Sonnenschauer . . .: aus seinem ersten veröffentlichten Gedichtband „Waldpastelle“, Lyrisches Flugblatt, Verlag A. R. Meyer, Berlin 1910

Das Bild „Early Spring - High Water“ ist von Alexei Sarvrasov (1830 - 1897)


Rudolf Leonhard: Die Landschaft des Malers Franz Marc / Else Lasker-Schüler: Franz Marc

 



Die Landschaft des Malers Franz Marc

Wie treib ich unbehelligt von den Schweren
sinkender Nacht, und schweige! Ich empfinde
den weichen Fernendruck der neuen Winde:
an Ufern brüllt es auf aus niedern braunen Herden.

Aus schwarz von Rauch umstobenen Bahnhöfen,
erhellt als schon das Tor des Paradieses,
erstehn zu Wolken, stoßen, schreien Möwen.
Ich zittre vor dem Huschen eines Wiesels -

Zu Ungeheuern ausgeweitet, bauen Arbeitskähne
die Horizonte meines Kupferbootes.
Dicht schließt die Luft, nur Schatten sind die Schwäne,
blau im Gesang des Friedens und des weiten Todes.

Was jagt vorbei: flammendes Pferd? gefleckter
       Schatten eines Hundes?
Süße Erinnerung des Tages und vergeßnen Lasters -
da überweht die Muskeln meines Mundes
Geruch der Tiefe, fauliger Hauch des Wassers.

Entrückt der Zeit, zerstoben schon die Stunden
schwerfarbig hin. Und aber kommt gewohntes
Anschaun blutender Nacht im Licht des schweren Mondes.

Rudolf Leonhard, geboren am 27. Oktober 1889 in Lissa, gestorben am 19. Dezember 1953 in Ostberlin, aus: Die weißen Blätter, Februar 1916, einen Monat vor dem Tod von Franz Marc

Franz Marc

Der blaue Reiter ist gefallen, ein Großbiblischer, an dem der Duft Edens hing. Über die Landschaft warf er einen blauen Schatten. Er war der, welcher die Tiere noch reden hörte; und er verklärte ihre unverstandenen Seelen. Immer erinnerte mich der blaue Reiter aus dem Kriege daran: es genügt nicht alleine, zu den Menschen gütig zu sein und was du namentlich an den Pferden, da sie unbeschreiblich auf dem Schlachtfeld leiden müssen, gutes tust, tust du mir.

Er ist gefallen. Seinen Riesenkörper tragen große Engel zu Gott, der hält seine blaue Seele, eine leuchtende Fahne, in seiner Hand. Ich denke an eine Geschichte im Talmud, die mir ein Priester erzählte: wie Gott mit den Menschen vor dem zerstörten Tempel stand und weinte. Denn wo der blaue Reiter ging, schenkte er Himmel. So viele Vögel fliegen durch die Nacht, sie können noch Wind und Atem spielen, aber wir wissen nichts mehr hier unten davon, wir können uns nur noch zerhacken oder gleichgültig aneinander vorbeigehen. In dieser Nüchternheit erhebt sich drohend eine unermeßliche Blutmühle, und wir Völker alle werden bald zermahlen sein. Schreiten immerfort über wartende Erde. Der blaue Reiter ist angelangt; er war noch zu jung zu sterben.

Else Lasker Schüler (1869 - 1945), aus: Franz Marc, in Gesammelte Gedichte, Verlag der weißen Bücher, Leipzig 1917

Franz Marc, geboren am 8. Februar 1880 in München; „gefallen“ am 4. März 1916 in Braquis bei Verdun, Frankreich. Er gilt als einer der bedeutendsten Maler des Expressionismus in Deutschland. Neben Wassily Kandinsky war er Mitbegründer der Redaktionsgemeinschaft Der Blaue Reiter, die am 18. Dezember 1911 ihre erste Ausstellung in München eröffnete.

Das Bild: Franz Marc, 
Tierschicksale (Die Bäume zeigten ihre Ringe, die Tiere ihre Adern), 1913