Samstag, 30. September 2023

Camill Hoffmann: Zecher in der Sternennacht

 


Zecher in der Sternennacht

Der Sterne diamantner Glanz
ist in mein dunkles Glas gestürzt,
nun ist mein Wein mit Ewigkeit gewürzt
und leise tanzt mein Herz leisesten Tanz.

Melancholie, so süß, wie Honig quillt,
durchduftet Wein und Blut mir wunderhold,
und spiegelnd malt sich in dem Kreis von Gold
das Bild der Welt, umfunkelt, rein und mild.

Camill Hoffmann, aus: Die Vase, Axel Juncker Verlag, Berlin Charlottenburg, 1910

Der Dichter Camill Hoffmann wurde am 31. Oktober 1878 in Kolín, Böhmen geboren; im Oktober 1944 wurde er im KZ Auschwitz ermordet.

Das Bild ist von Juan Gris (1887 - 1927)

Freitag, 29. September 2023

Lotte Brunner: Herbst in Babelsberg

 



Herbst in Babelsberg

Den Herbstwald schau! So stirbt die junge Welt.
Mit Gold und Rot und allen Königsfarben
Schmückt sie sich für den Tod gleich wie ein Held
„Ich glaub nicht an den Tod. Nur Tote starben.“

So komm heraus mit mir zum Waldesrand.
Die Wiese überspannen Nebelbrücken.
Sie reichen weit. Von hier zum Totenland. -
O weh das Nichts will alles ferne rücken.

Wo du auch seist, die Welt umschließt dich gut.
Steig ein ins Boot. Hier wartet unsere Fähre.
Schon gleiten wir. Du Tor, braucht´s keinen Mut
Du bist schon leicht. Es sinkt nur Erdenschwere.

Gib deine Hand. Ich taumle sonst ins Grau.
Das Grau ist tief. - Nun schwimmt ein silbrig Flimmern
Um unseren Kahn. - Am Steuer Charon, schau!
Viel Geisterarme durch den Nebel schimmern.

Dort steigt ein Bau aus trüber Flut empor,
Von Luft geformt - Ob Kirche, ob Palast?
Und Sterbeglocken tönen an mein Ohr:
Nur still, du bist des Todes ewiger Gast.

Oktober 1913

Lotte Brunner (1883-1943), Lehrerin und Schriftstellerin, aus: Gedichte 1903 - 1942, handschriftliches Manuskript, Leo Baeck Institute, New York

Der Stiefvater von Lotte Brunner war Constantin Brunner (geboren am 27. August 1862 in Altona; gestorben am 27. August 1937 in Den Haag), eigentlich Arieh Yehuda Wertheimer (Rufname Leo), Philosoph, Schriftsteller, Literaturkritiker.

1895 heiratete er Rosalie, geb. Auerbach, die sich künftig Leonie nannte, in Anlehnung an Brunners Rufnamen Leo. Mit ihrer Tochter Elise Charlotte, geb. Auerbach, die fortan den Namen Lotte Brunner trug, verband Brunner später ein intensiver Austausch über Literatur und Philosophie. Lotte Brunner veröffentlichte unter dem Pseudonym E. C. Werthenau und führte von 1903 bis 1932 ein Tagebuch über Bemerkungen Brunners zu seiner Philosophie und über Besuche und Gespräche im Hause Brunners. Leonie und Lotte Brunner wurden im Februar 1943 im Lager Westerbork inhaftiert und im März 1943 im Vernichtungslager Sobibor ermordet.

Donnerstag, 28. September 2023

Emmi Lewald - Aus: Lieder des Troubadours

 



Aus: Lieder des Troubadours

V.


Ob du auch fern - ich kann dich dennoch sehen,
Ich höre deiner Stimme weichen Ton.
Nicht einsam muß ich durch die Fluren gehen -
Du bliebst mir ja und bist mir nicht entflohn.

Ich halte dich, wie auf des Teiches Spiegel
Die Flut den Zweig der Rosenstaude hält,
Ich fasse dich, wie an des Liedes Flügel
Der Dichter fesselt seine Märchenwelt.

Ich fühle dich wie milder Sterne Scheinen;
Und schließ' ich Nachts den trugverwirrten Blick,
So taucht aus dunklen, träumerischen Hainen
Allüberall dein Abbild mir zurück!

VII.

Gleichviel, ob für Minuten, ob für Stunden,
Für eines Monats langes Gaukelspiel;
Hat man nur einmal süßes Glück empfunden,
So ward erfüllt des Daseins bestes Ziel!

Wir sind ja nicht zum Leiden nur geboren,
Wie ernsten Mundes eifert der Zelot;
Auch Freudenkränze winden uns die Horen,
Und süßes Leben athmet vor dem Tod!

Nur dem verdüstert sich das Bild der Erde,
Dem keine Blume wächst auf schöner Flur,
Der nie mit einem schöpferstarken "Werde"
Zum Blühen zwang die duldende Natur.

Denn wenn auch kürzer, als der Rose Prangen,
Das flücht'ge Glück an dir vorbeigeschwebt -
Hat es nur einmal liebend dich umfangen,
So weißt du doch, weswegen du gelebt!

Aus: Gedichte von Emil Roland (Pseudonym von Emmi Lewald)
Zweite Auflage
Oldenburg und Leipzig
Schulzesche Hof-Buchhandlung und
Hof-Buchdruckerei A. Schwartz 1894

Emilie (Emmi) Lewald, geboren am 5, Dezember 1866 in Oldenburg, gestorben in Apolda 29. September 1946, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin.

Das Bild ist von Melchior Lechter (1865 - 1937)

Mittwoch, 27. September 2023

Gina Gärtler: Über mir die Bucheckernsonne

 



Über mir die Bucheckernsonne

Herströmt, hinströmt freudige Botschaft,
es rauscht, rauscht.
Trunken vom Saft, Gefährten,
lasst uns zusammentönen.

Denn der Saft steigt.
Unter der glatten Rinde aufwärts
machtvoller, gebärfreudiger Zug,
der Herrin zu, die leuchtet!

Ich fühle die Zweige voll kantiger Früchte,
die reifen dem Fall nach.
Aufschlagen taube, schwärzliche Hüllen
unten zwischen gelblichen
samenspritzenden Gräsern.
Ich lausche dem vergeblichen Laut,
und sauge den Duftreiz modernder Blätter
und dumpfer Erde.

Mein grünes Blut lebt, regt sich,
tausendfach gespalten vom Lichtstrahl,
fließts kräftiger,
denn dicht daneben gilbt Verwesung.

Zuwerfen
dir, Weibliches, platzender Früchte
laut unter dem Widerhall der Luft.
Glücke er einmal,
der vielfältige Versuch!
Dann Schlaf. . .

Gina Gärtler, aus: Baumlieder - Der Morgen, Zweimonatschrift der Juden in Deutschland, herausgegeben von Julius Goldstein, Philo-Verlag, Berlin, Heft 7, Oktober 1936

Gina Gärtler, geboren 1910, weitere Lebensdaten mir unbekannt, 1935 schrieb sie an der Universität Heidelberg für die philosophische Fakultät die Dissertation „Lily Braun, eine Publizistin des Gefühls“.

Das Bild ist von Theodore Clement Steele (1847 - 1926)

Dienstag, 26. September 2023

Marie Madeleine: Und doch!

 



Und doch!

Und hat er auch eine Minute kaum,
Nur eine Minute gewährt,
Du hast ihn doch geträumt, den Traum:
Du hast mich doch begehrt!

Und ob Du leugnest mit aller Kraft,
Ob Trotz und Stolz Dich umfängt, -
Es hat meine glimmende Leidenschaft
Dir doch die Lippen versengt!

Und wenn Dein hochgeschwungener Mund
Sich jetzt auch zürnend regt, -
Er hat ja doch in süßester Stund'
Sich weich auf den meinen gelegt.

Und hat auch eine Minute kaum
Dir Liebe im Herzen geschäumt, -
Du wirst ihn nicht vergessen, den Traum,
Den wir nicht zu Ende geträumt!

Aus: Marie Madeleine In Seligkeit und Sünden
Continent Vlg. Berlin 1905

Marie Madeleine wurde am 4. April 1881 in Eydtkuhnen, Ostpreußen, als Marie Madeleine Günther geboren; später wurde sie durch Heirat Baronin von Puttkamer, sie starb am 27. September 1944. Bekannt wurde sie durch die Sammlung erotischer Lyrik Auf Kypros (1900).

1900 bis 1932 blieb keines der Bücher von Marie Madeleine, unter einer Auflage von 10.000 Exemplaren. Wahrscheinlich trugen Verrisse dieser Art nicht unwesentlich zu dem Erfolg bei: "Die schamlose Lyrik der perversen Verse der Marie Madeleine… als wenn echte Scham nur ein leider angezüchtetes, nicht ursprüngliches Gefühl der Weibesnatur wäre, so erzählt ihre geile, wüste, überhitzte Pubertätserotik…" (Albert Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit)

Montag, 25. September 2023

Richard Beer-Hofmann: Der einsame Weg

 



Der einsame Weg

An Arthur Schnitzler

Alle Wege, die wir treten,
Münden in die Einsamkeit –
Nimmermüde Stunden jäten
Aus, was wuchs an Lust und Leid.

Alles Glück und alles Elend
Blasst zu fernem Widerschein –
Was beseligend, was quälend,
Geht – lässt uns mit uns allein.

Schritt ich eben nicht im Reigen?
Und was traf, das traf gemeneinsam –
Bietet keine Hand sich? – Schweigen
Sieht mich an – Der Weg wird einsam!

Ob ich stieg von Glückes-Thronen.
Ob ich klomm aus Leidens-Gründen –
Dort, wohin ich geh zu wohnen,
Will sich Keines zu mir finden.

Ein Erkennen nur mit klaren
Augen will mich hingeleiten:
Daß auch vorher um mich zu waren –
Unerkannt – nur Einsamkeiten.

Richard Beer-Hofmann, geboren am 11. Juli 1866 in Wien; gestorben am 26. September 1945 im Exil in New York, Romancier, Dramatiker, Lyriker.

Durch seine jüdische Abstammung war Richard Beer-Hofmann seit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 aktiv bedroht. Erst am 19. August 1939 gelang ihm die Emigration, zunächst in die Schweiz nach Zürich, schließlich nach New York. 1945 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er verstarb noch im selben Jahr.

Das Foto zeigt Richard Beer-Hofmann im Jahre 1927, aufgenommen von Georg Fayer (1892 - 1950)


Hans Arp: Perlen

 



Perlen


Sie reihen sich unsäglich zart
noch wie vom Meereswind betaut.
Ihr Glanz verhüllt und offenbart
und atmet mit auf deiner Haut.

Verwundung ward zum Reichtum hier,
der unvergleichlichen Gewichts
im regenbogenfarbner Zier
sich hüllte um ein fremdes Nichts.

Wie Wellen spielt es sonderbar,
wie Mond und Sonne im Atoll
und glüht von Tiefe und Gefahr
gleich Meer und Seele wechselvoll.

Hans Arp (1886 - 1966), aus: Die Hafenorgel, dtv München 198; das Bild ist von ihm

Alfred Lichtenstein: Fern

 



Fern

Ich möchte in Nacht mich bergen,
Nackt und scheu,
Und um die Glieder Dunkelheit decken
Und warmen Glanz. . .
Ich möchte weit hinter die Hügel der Erde wandern -
Tief hinter die gleitenden Meere,
Vorbei den singenden Winden. . .
Dort treff ich die stillen Sterne,
Die tragen den Raum durch die Zeit
Und wohnen am Tod des Seins,
Und zwischen ihnen sind graue,
Einsame Dinge. . .
Welke Bewegung vielleicht
Von Welten, die lange verwesten -
Verlorener Laut -
Wer will das wissen. . .
Mein blinder Traum wacht fern den Wünschen der Erde.

Alfred Lichtenstein, aus: Gesammelte Gedichte. Zürich 1962

Alfred Lichtenstein (* 23. August 1889 in Wilmersdorf b. Berlin; † 25. September 1914 bei Vermandovillers, Somme, Frankreich),ein Dichter, den auch leider viel zu früh Krieg und Tod holte.

Das Bild ist von Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (1875 - 1911)

Samstag, 23. September 2023

Berthold Viertel: Die Gräber / Das Unheil

 



Die Gräber

Wo die Eltern liegen,
Immer noch allein,
Werden ihre Kinder
Nicht begraben sein.

Wie der Krieg sie teilte,
Sterben sie entfernt,
Jedes in der Sprache,
Die es spät gelernt.

Was sie nie vergessen,
Geht mit ihnen heim:
Hier ein Wiegenlied
Und dort ein alter Reim.

Aus: Berthold Viertel: Der Lebenslauf. Stimmen der Zeit. In: B.V.: Das graue Tuch. Gedichte. Studienausgabe Band 3. Hg. von Konstantin Kaiser. Mit einem Nachwort von Eberhard Frey. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1994


Das Unheil

Was wissen die noch nicht Getroffenen
von der Treffsicherheit
der schwarzgefiederten
Pfeile des Unheils
mit der vergifteten Spitze!

Wem niemals
das Gift ins Innere des Blutes getreten,
der hat ein anderes Herz,
gehört einer anderen Welt und Menschheit an.

Kein Verstehen
zwischen jenen und diesen.
Und nur zum Scheine
haben sie gemeinsam
das Menschengesicht
und die Sprache der Menschen.

Aus: Berthold Viertel: Schlaflosigkeit. Gedichte 1939 bis 1945. In: B.V.: Das graue Tuch. Gedichte. Studienausgabe Band 3. Hg. von Konstantin Kaiser. Mit einem Nachwort von Eberhard Frey. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1994, Erstdruck: Die Schau, Wien, Nr. 12, Juni 1953

Berthold Viertel wurde am 28. Juni 1885 in Wien geboren und starb am 24. September 1953 ebendort, Schriftsteller, Dramaturg, Essayist, Übersetzer und Film- und Theaterregisseur, der in Deutschland, den USA und Großbritannien wirkte.

Unter anderem wurde er in den Jahren 1910 / 1911 Mitarbeiter bei Der Fackel von Karl Kraus. März 1910 erschien dort sein erstes Gedicht.

Das Foto zeigt ihn im Jahre 1906

Freitag, 22. September 2023

Ophelia - David Goldfeld, Georg Heym, Peter Huchel, Arthur Rimbaud

 



Ophelia

Wie leise glitt um dieses Angesicht
die Flut, dass sich so sanft die Lider schlossen!
Ihr Wellen, die ihr traurig sie umschlicht,
wie ist dies Blühen um den Mund entsprossen?

O Morgen, der ihr zartes Schlummern fand
an seinem Ufer, unter blassen Sternen,
o küssest du der süssen Stirne Rand,
dass sie so friedlich schlummern darf uns Fernen?

Die Wasser lösten zärtlich ihr das Haar -
Ich weiss die Weisen, die sie dazu sangen.
Ich ahne, wie ihr Sterben glücklich war - - -
Doch ach, was strafft so herb die fahlen Wangen?

Aus: David Goldfeld (1904  -  1942) Der Brunnen Gedichte Herausgegeben und mit einem Nachwort von Helmut Braun
Rimbaud Verlagsgesellschaft mbH Aachen 2010



Ophelia

I

Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten,
Und die beringten Hände auf der Flut
Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten
Des großen Urwalds, der im Wasser ruht.

Die letzte Sonne, die im Dunkel irrt,
Versenkt sich tief in ihres Hirnes Schrein.
Warum sie starb; warum sie so allein
Im Wasser treibt, das Farn und Kraut verwirrt?

Im dichten Röhricht steht der Wind. Er scheucht
Wie eine Hand die Fledermäuse auf.
Mit dunklem Fittich, von dem Wasser feucht
Stehn sie wie Rauch im dunklen Wasserlauf,

Wie Nachtgewölk. Ein langer, weißer Aal
Schlüpft über ihre Brust. Ein Glühwurm scheint
Auf ihrer Stirn. Und eine Weide weint
Das Laub auf sie und ihre stumme Qual.

Aus: Georg Heym (1887 - 1912) Dichtungen und Schriften Gesamtausgabe
Herausgegeben von Karl Ludwig Schneider Band 1 Lyrik
Verlag Heinrich Ellermann 1964


Ophelia

Später, am Morgen,
gegen die weiße Dämmerung hin,
das Waten von Stiefeln
im seichten Gewässer
das Stoßen von Stangen,
ein rauhes Kommando,
sie heben die schlammige
Stacheldrahtreuse.

Kein Königreich,
Ophelia,
wo ein Schrei
das Wasser höhlt,
ein Zauber
die Kugel
Am Weidenblatt zersplittern läßt.

Peter Huchel (1903 - 1981) aus: Gezählte Tage, 1972


Ophelia

I.

Auf stiller, dunkler Flut, im Widerschein der Sterne,
geschmiegt in ihre Schleier, schwimmt Ophelia bleich,
sehr langsam, einer großen weißen Lilie gleich.
Jagdrufe hört man aus dem Wald verklingen ferne.

Schon mehr als tausend Jahre sind es,
daß sie, ein bleich Phantom, die schwarze Flut hinzieht,
und mehr als tausend Jahre flüstert schon sein Lied
ihr sanfter Wahnsinn in den Hauch des Abendwindes.

Die Lüfte küssen ihre Brüste sacht und bauschen
zu Blüten ihre Schleier, die das Wasser wiegt.
Es weint das Schilf, das sich auf ihre Schulter biegt.
Die Weiden über ihrer hohen Stirne rauschen.

Im Schlummer einer Erle weckt sie hin und wieder
Ein Nest, aus dem ein kleines Flügelflattern schlägt.
Die Wasserrosen seufzen, wenn sie sie bewegt.
Ein Weiheklang fällt von den goldnen Sternen nieder.

II.

Ophelia, bleiche Jungfrau, wie der Schnee so schön,
die du, ein Kind noch, starbst in Wassers tiefem Grunde:
weil dir von rauher Freiheit ihre leise Kunde
die Stürme gaben, die von Norwegs Gletschern wehn.

Weil fremd ein Föhn, der dir die Haare peitschte, kam
Und Wundermär in deinen Träumersinn getragen;
weil in dem Seufzerlaut der Bäume und im Klagen
der Nacht dein Herz die Stimme der Natur vernahm.

Weil wie ein ungeheures Röcheln deinen Sinn,
den süßen Kindersinn, des Meeres Schrei gebrochen;
weil schön und bleich ein Prinz, der nicht ein Wort gesprochen,
im Mai, ein armer Narr, dir saß zu deinen Knien.

Von Liebe träumtest du, von Freiheit, Seligkeit;
du gingst in ihnen auf wie leichter Schnee im Feuer.
Dein Wort erwürgten deiner Träume Ungeheuer.
Dein blaues Auge löschte die Unendlichkeit.

III.

Nun sagt der Dichter, daß im Schoß der Nacht du bleich
die Blumen, die du pflücktest, suchst, in deine Schleier
gehüllt, dahinziehst auf dem dunklen, stillen Weiher,
im Schein der Sterne, einer großen Lilie gleich.

Arthur Rimbaud deutsche Übersetzung von Karl Klammer (1907)


Ophelia

1

Auf stiller, schwarzer Flut, im Schlaf der Sternenfeier,
Treibt, einer großen Lilie gleich, Ophelia,
Die bleiche, langsam hin in ihrem Schleier.
Man hört im fernen Wald der Jäger Hallala.

So, weißes Traumbild, länger schon als tausend Jahre,
Ophelia auf dem schwarzen Wasser traurig zieht;
Ihr sanft verstörter Geist, schon mehr als tausend Jahre,
Singt leis im Abendhauche sein romantisch Lied

Der Wind küsst ihre Brust und bauscht des Schleiers Seide,
Wie eine Dolde auf, vom Wasser sanft gewiegt,
Auf ihrer Schulter, leis erschauernd, weint die Weide,
Auf ihrer großen Stirne Traum das Schilfblatt liegt.

Die Wasserrose seufzt, berührt von ihrem Schweben,
Zuweilen, aus dem Schlaf in einem Erlenbaum,
Weckt sie ein Vogelnest, draus bang sich Flügel heben.
Geheimnisvoll fällt Sang aus goldner Sterne Raum.

2

O du, so schön wie Schnee, Ophelia, du bleiche,
Du starbst, von einem Strom fortgerissen, Kind!
Denn, leisen Lautes, von der herben Freiheit Reiche
Sang in Norwegens hohen Bergen dir der Wind.

Ein unbekannter Hauch hat seltsam arge Kunde,
Dein Haar durchwühlend, deinem Träumergeist gebracht;
Dein Herz, es fühlte sich mit der Natur im Bunde,
Hört klagen es im Seufzerlied der Nacht.

Des Meeres toller Ruf, ein Stöhnen, groß und bitter
Zerbrach dein Kinderherz, zu menschlich und zu weich;
Und eines Morgens im April, ein Ritter
Saß stumm an deinen Knien, so verstört und bleich.

Vom Himmel, Liebe, Freiheit hat dein Traum gesprochen,
Dran, Törin, du zergingst, wie Schnee, von Glut verzehrt.
Erstickt von tiefer Schau ist dir dein Wort zerbrochen.
– Des Alls Entsetzen hat dein blaues Aug zerstört.

3

Der Dichter sagt, dass in der Nächte Sternenfeier
Du die gepflückten Blumen suchst, dass er gewahrt,
Hintreibend auf der Flut, auf ihrem langen Schleier,
Ophelia, große, weiße Lilie, gebahrt!

..
.

Aus Rimbaud: Sämtliche Dichtungen. Französisch und deutsch. Übers. Walther Küchler. Lambert Schneider, Heidelberg 1946

Arthur Rimbaud (20. Oktober 1854 in Charleville; 10. November 1891 in Marseille) war ein französischer Dichter, Abenteurer und Geschäftsmann. Heute gilt er als einer der einflussreichsten französischen Lyriker. (wiki)

Das Bild ist von John Everett Millais, (1851–1852)

Donnerstag, 21. September 2023

Moritz Heimann: Adams erste Nacht

 



Adams erste Nacht


Weißt du von Adams erster Nacht?
Denn als die Sonne seinem ersten Tag sank,
da kannt´ er ihr Gesetz noch nicht. Und schon
durchschauerte es ihn, als er sie sah,
die, seinem Auge unnahbar, am Himmel
gewandert war. Und als sie nun sich neigte
zum Erdrand, ihr reines Licht verdüsternd,
beschleunigend den Lauf, wie alles, was endet,
ergriff ein Wahn ihn, eine Angst und endlich
eines Entsetzens schwere Woge, die ihn trug,
daß oben ihm und unten, rechts und links
im Taumel seiner Seele sich verwirrte.
Denn nun verlosch des Himmelslichtes Gruß.
Schnell kam die Nacht und wischte Glanz und Leuchten,
in immer engeren Kreisen ihn bedrängend,
von dem Erschaff´nen der fünf Gottestage.
Da glaubt´ er seinen Gottestag zu Ende,
Was Seligkeit für uns, ihm war es Hohn;
die Sterne des Gewölbes blitzten auf.
Beruhigend und Grauen spendend,
so furchtbar ewig.
Sich in die Haare raufen, fluchen, flehen,
ihn wie ein irres Tier im Kreise laufen - - -;
denn seine Augen hatte schon der eine Tag
des Menschenauges alle Gier gelehrt;
ihn reizte, auszuspäh´n, die wogende,
vertiefte hier, dort schwach erhellte Nacht.
Oh, damals, lange vor dem Sündenfall,
hat in den Lüften seiner Kinder Schicksal
er wohl gewittert. Verstummt der Vögel Sang;
doch horchend stumm. Und was im Schlafe laut ward,
erschien ihm da schon, was es uns erscheint:
des Würgers und Gewürgten Dankeslied.
Und plötzlich fuhr ein Wehen durch die Blätter,
ein Kälteschauer rauhete die Haut
dem Elenden; und als er um sich sah,
da tauchte in bleiblauer Blässe wieder
die Welt ihm auf. Schon schossen weiße Lichter
durch Gottes Wolken, schon erglüht´ es auf,
gereinigt, überm fernen Rand der Erde.
Der Dämm´rung Tore sprangen donnernd auf,
als wollten eine neue Sonne sie
aus ihrer Haft entlassen, ungeheuer,
groß wie des Horizontes Morgenglut.
Dann aber kam´s empor,
so klein, daß zweier Menschenarme Ring
es fassen könnten, aber in dem Ring,
dem kleinen Ring, mehr Flammenkraft verknotet,
als seines Traumes Riesensonne maß,
da sank er auf die Knie hin und weinte,
und sagt - : dort schwebt sie überm Tal,
beschleunigend den Lauf, wie alles, was anfängt.
Wir knien nicht. Nun denn, so möcht ich doch,
daß mir die Sonne jeden Morgen käme
so jubelnd wie unserm Vater Adam
nach jener ersten - ersten Menschennacht - -

Aus: Moritz Heimann - Drei Gedichte nach dem Talmud, Menorah. Jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur, Hg. von Norbert Hoffmann, Wien, Frankfurt am Main, Berlin 1923-1932

Moritz Heimann, am 19. Juli 1868 in Werder bei Rehfelde in der Mark Brandenburg geboren; verstarb am 22. September 1925 in Berlin, Schriftsteller, Kritiker und Lektor. Er schrieb unter anderem auch für die Weltbühne. Für den Fischer Verlag arbeitete er fast dreißig Jahre als Lektor. 

Das Portrait von ihm fertigte Emil Orlik (1870 - 1932)

Mittwoch, 20. September 2023

Hedwig Lachmann: Schwermut / Am Morgen / Heimweh

 



Schwermut

Mir ist, wie wenn in einer Sommernacht
Die Menschen schweigsam in den Lauben sitzen.
Die Luft ist schwer. Ein Wolkenhimmel dacht
Sich über ihnen. Und die Fernen blitzen.

Sie fragen in die Höh: Kommt wohl ein Sturm?
Und legen spät sich und bekümmert schlafen.
Und lauschen oft gepresst, ob nicht vom Turm
Ihr Ohr im Halbschlaf Glockenklänge trafen.


Am Morgen

Dem Wanderwolkenspiele folg´ ich nach.
Ein Sonnenstreifen drüben an der Mauer
Verlischt und leuchtet auf zu kurzer Dauer
Und schnelle Schatten fliegen übers Dach.

Wie hängt mein Blick an all der bunten Hast!
In der Sekunde tausendfach geboren
Und wieder tausendfach zurückverloren
Und nie und nirgends diesem Wirbel Rast.

O wüchse mir inmitten aller Flucht
Und flatterndem verfrühten Blütenregen
- Für mein Geschick ein noch verschlossner Segen -
In zarter Knospenhülle eine Frucht.


Heimweh

O wüßt ich meiner Sehnsucht einen Fergen,
Dass er ihr eine sanfte Fährte weise!
So kehrt sie mir zurück aus hohen Bergen,
Todmatt vom Flug und fast erstarrt im Eise.

Ich wollte, dass ein leichter Kahn mich führe
Den Strom entlang in ebene Gelände,
Und dass ich dort durch eine niedre Türe
In einem stillen Hause Eingang fände.

Und drinnen nur von abendlichen Kerzen
Ein mildes Dämmerlicht am eignen Herde.
Ein warmer Raum, ein Kind an meinem Herzen,
Und eine Seele mein auf dieser Erde.

Aus: Im Bilde, Gedichte, auch Nachdichtungen von Hedwig Lachmann, Verlegt bei Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig 1902

Hedwig Lachmann, geboren am 29. August 1865 in Stolp, Pommern; gestorben 21. Februar 1918 in Krumbach), Dichterin und Übersetzerin von unter anderem Edgar Allan Poe und Oscar Wilde. Ihrem zukünftigen Ehemann, dem Anarchisten Gustav Landauer begegnete Lachmann zum ersten Mal 1899 bei einer Lesung im Haus von Richard Dehmel. Richard Dehmels Kriegsbegeisterung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 führte jedoch dazu, dass Lachmann ihm die Freundschaft aufkündigte.

Im März 1903 ließ sich Gustav Landauer von seiner ersten Ehefrau scheiden, um Hedwig Lachmann im Mai 1903 zu heiraten. Am 21. Februar des Jahres 1918 starb Hedwig Lachmann an einer Lungenentzündung.

Gustav Landauer kritisierte als Pazifist den Eintritt Deutschlands in den Ersten Weltkrieg scharf. Während der Novemberrevolution 1918/19 und unmittelbar danach war er an einflussreicher Stelle an der Münchner Räterepublik im April 1919 beteiligt. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung wurde er von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten am 2. Mai 1919 in der Haft ermordet.

Das Bildnis der Dichterin ist von Julie Wolfthorn, geboren am 8. Januar 1864 in Thorn, Westpreußen; gestorben am 29. Dezember 1944 im KZ Theresienstadt) war eine deutsche Malerin, Zeichnerin und Grafikerin der Moderne. Als Jüdin wurde sie ein Opfer der Shoa. Bis auf wenige Bilder in den Depots deutscher Museen galt ihr umfangreiches Werk lange Zeit als verschollen und wurde erst Anfang 2000 wiederentdeckt.

Dienstag, 19. September 2023

Fritz Oerter: Trutzlied des Gefangenen / Das Herz noch voll . . .

 


Trutzlied des Gefangenen

(1892 / 93)

Den Leib mögt wohl ihr bannen,
Indem ihr ihn bewacht;
Mein Geist schwebt doch von dannen
Und spottet eurer Macht.

Ihn hemmt nicht Schloss noch Riegel,
Ihn schreckt kein eisern´ Tor,
Hoch über Tal und Hügel
Schwingt er sich keck empor.

Bleibt mir zu Tageszeiten
Auch nur ein enger Raum,
In unbegrenzte Weiten
Führt nachts mich doch mein Traum.

Fritz Oerter, aus: Stimmen der Freiheit, Hrsg. von Konrad Geißwanger in Nürnberg 1914


Das Herz noch voll der grausen Hiobspost
lief ich verstört ins weite Feld;
ich hoffte still, zu finden linden Trost,
wo frisch im Lenzesschmuck stand die Welt.

Und wie ich streifte in verlorenen Sinnen,
geriet ein goldner Käfer arg in Nöten;
doch eh mir inne ward noch mein Beginnen,
hatt´ ich das arme Tierchen schon zertreten.

Ich ward zum Schicksal dieser Kreatur,
wie über mir vielleicht ein gleiches waltet.
Weh´ mir, wenn es, von Mitleid keine Spur

nach meinem Beispiel blind und grausam schaltet!
Wer schafft den freien Geist des Lebens nur,
der es harmonisch und bewusst gestaltet?

Fritz Oerter, aus seinem Tagebuch 12. 6. 1914 mit der Einleitung: „Das große Dampferunglück an der kanadischen Küste veranlasste mich zu folgendem Sonett.“

Fritz Oerter, aus: Tagebücher 1914 Auf der Seite Fürth Wiki als pdf

Fritz Oerter, geboren am 19. Februar 1869 in Straubing als Friedrich Oerter, gestorben am 20. September 1935 in Fürth, Lithograph, Schriftsteller und Buchhändler.

Zunächst trat Fritz Oerter im Jahr 1890 im Alter von 21 Jahren in die SPD ein. Gleichzeitig engagierte er sich für den Anarchismus und schmuggelte gemeinsam mit seinem Bruder Sepp Oerter Agitationsmaterial von den Niederlanden nach Deutschland. Beide Brüder werden im Dezember 1892 in Mainz wegen "aufrührerischer Reden" verhaftet. Fritz Oerter verstand sich als Verfechter der Anarcho-Syndikalistischen Bewegung und als geistiger Nachfolger Gustav Landauers, einem der wichtigsten Theoretiker und Aktivisten des Anarchismus in Deutschland um die Jahrhundertwende. Zur Zeit des erstens Weltkrieges wurde Fritz Oerter als "Anti-Kriegs-Aktivist" eingestuft und zu 15 Monaten Festungshaft verurteilt.

Seine kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus, die er stets auch in seinen Publikationen zum Ausdruck brachte, und seine Kontakte zum demokratischen Widerstand gegen Nationalismus und Großkapital führte immer wieder zu Verhaftungen. Zuletzt wurde Oerter im Alter von 66 Jahren im September 1935 verhaftet und durch die SA verhört. Während der einwöchigen Haft wird Oerter offensichtlich schlecht behandelt, so dass er geschwächt und gebrochen die Haft verlässt. Kurze Zeit später verstirbt Oerter am 20. September 1935 an den Folgen einer Lungenentzündung im Krankenhaus, vermutlich infolge der Misshandlungen durch die SA und der Haftbedingungen. (Wiki)

Das Foto zeigt Fritz Oertler um 1930, von einem unbekannten Fotografen, veröffentlicht auf fuerthwiki.de

Montag, 18. September 2023

Lessie Sachs: Man sollte schlafen gehen



Man sollte schlafen gehen

Man sollte etwas früher schlafen gehen…
Und anstatt dessen wird es immer später.
Sehr viele gibt es, die das nicht verstehen,
Doch mancher sagt mir auch: ja, das versteht er.

Man möcht nicht mehr; man trödelt nur so rum.
Man sollte endlich seine Briefe schreiben.
Doch plötzlich ist die Zeit dann wieder um;
Man hat nicht Lust; man läßt es wieder bleiben.

Die tiefe Nacht sieht sich vertraulich an;
Man raucht schon wieder eine Zigarette.
Man hat ja schließlich seine Pflicht getan,
Was tut man jetzt? – Nichts mehr, man geht zu Bette.

Man tut es nicht; man fühlt sich so privat…
Und eigentlich wird man jetzt richtig munter.
Die Tage sind doch manchmal desperat.
Man ist auch mit den Nerven runter.

Man hört die Leute oben geh’n zur Ruh.
(Die Frau mit ihrem Tritt bringt mich zum Rasen!)
Was noch? Ja, richtig, ist der Gashahn zu?
Und in die Küche mit den Blumen – Vasen!

Ist’s Licht aus? Und die Türe zugemacht? –
Man muss weiß Gott, nach allem selber sehen…
Worüber habe ich heute so gelacht?
Ich weiß nicht mehr; – man sollte schlafen gehen.

Lessie Sachs (1897 - 1942) Aus: Tag- und Nachtgedichte von Lessie Sachs Ausgewählt und eingeleitet von Heinrich Mann
New York City 1944
Printed in U.S.A. Zeidler Press (Josef Wagner)

Das Bild ist von Felix Vallotton (1865 - 1925)

Sonntag, 17. September 2023

Eugen Roth: Tagsüber war Musik an allen Borden. . .

 



Tagsüber war Musik an allen Borden
Und muntre Schiffe gaben dir Geleit.
Der Strom war schwer von rauschenden Akkorden;
Doch ist es seitdem lange still geworden
Und keinen findest du zur Fahrt bereit.

Sie gehen und scheiden; da ist kein Getreuer.
Der Abend tönt, und einsam gleitest Du,
Die müden Hände hoffnungslos am Steuer,
Vorbei dem letzen Turm und seinem Feuer,
Des Meeres unermessnen Stürmen zu.

Eugen Roth (1896 - 1976), aus: Anthologie junger Lyrik, herausgegeben von Rudolf Kayser, Roland Verlag Dr. Albert Mundt, München 1921

Das Bild „Jene, die gehen“ ist von Umberto Boccioni (1882 - 1916)

Samstag, 16. September 2023

Irene Forbes Mosse: Bei Kerzenlicht da lachte sie

 



Bei Kerzenlicht da lachte sie

Bei Kerzenlicht da lachte sie,
In silbernen Septembernächten,
Wenn lanzenscharf der Schatten liegt,
Wo um der Göttin weißes Knie
Sich feingezackt die Rosen flechten.

Nicht Kerzenlicht, nicht Mondenlicht,
Zwei Augen nur war all ihr Denken,
Ihr schien der Zauber dieser Welt
Das Amen, das die Gottheit spricht,
Wenn Menschenherzen sich verschenken.

Im Morgenschein erwachte sie,
Auf einem Stern von Rosenbeeten,
Von Dornenarmen ganz umzweigt,
Stand sinnend die Melancholie . . .
Der weiche Rasen war zertreten,
Im Morgenschein . . . da lachte sie!

Aus: Das Rosenthor, Gedichte von Irene Forbes Mosse Insel Verlag Leipzig 1905

Irene Forbes-Mosse, geb. von Flemming, geboren am 5. August 1864 in Baden-Baden; gestorben am 26. Dezember 1946 in Villeneuve, Schweiz, Schriftstellerin. Sie schrieb Gedichte und Erzählungen und arbeitete als Übersetzerin. Im Dritten Reich wurden ihre Bücher verboten.

Das Bild ist von Luigi Russolo (1885 - 1947)

Freitag, 15. September 2023

Otto Stoessl: Abend

 



Abend

»Nieder tauchte die Sonn’ und schattiger wurden die Pfade«,
Dies las ich heut, am Abend eines Sommertags
Und ließ das alte Buch Homer auf meine Kniee
Hinsinken, also sinnend: Allen Erdenkindern
Mißt diese heitre Sonn’ ihr holdes Maß von Licht,
Ein Schicksal reifend nach verschwiegenem Gesetze
Vom Aufgang bis zum Schatten eines Menschenpfads.
Ich wuchs in Zeiten, trüber als die Nacht,
Ein Jüngling, feind mir selbst und im Gemüt bedrängt,
Nun endlich ruft auch mir die liebe Sonne:
Gibst du, erhellt, dein eignes Licht dem Lichte wieder? —
Doch hinter jedem Strauch im Garten wachsen Schatten,
Was war mein Maß an Tag gering! Ihr Götter wägts
Den Menschen, wollt mir diesen späten Strahl nicht neiden,
Laßt mir den Abend, dem der Morgen war geweigert,
Gönnt mir den Blick der herbstlich tiefen, klaren Stunden,
Den letzten Glanz, den ich mit fleh’nden Augen halte,
Laßt mir den Abend, seht, die Pfade dunkeln schon.

Aus: Die Fackel Nr. 272 / 273, Wien, 15. 2. 1909

Otto Stoessl, geboren am 2. Mai 1875 in Wien; gestorben am 15. September 1936 ebenda.

Otto Stoessls Werk umfasst Romane, Erzählungen, Essays, Gedichte und Theaterstücke. Während seine ersten dramatischen Versuche noch vom Naturalismus geprägt waren, verlegte er sich in seinen späteren Werken auf die – stilistisch traditionelle – Schilderung der untergegangenen österreichisch-ungarischen Monarchie. Als sein Hauptwerk gilt der Roman Das Haus Erath, der den Niedergang einer österreichischen Familie über mehrere Generationen zum Thema hat und vereinzelt mit Thomas Manns "Buddenbrooks" verglichen wurde. Nach seinem Tod geriet Otto Stoessl rasch in Vergessenheit, und auch wohlwollende Hinweise z. B. von Hans Weigel vermochten in der Nachkriegszeit wenig daran zu ändern. (Wiki)

Das Bild ist von Ignacio Zuloaga (1870 - 1945)

Donnerstag, 14. September 2023

Rudolf Borchardt: Die September-Sonette

 



Die September-Sonette

I

Vom Tage nährt sich schon die Nacht verstohlen;
Schlaflose Stürme laufen in den Gärten
Und holen mich auf ihre blassen Fährten.
Ich binde mir die Flügel an die Sohlen
Und bin hinaus — (doch träum ich wohl). Mich holen
In ihre Reigen andere Gefährten —
Wo sah ich sie, die sich gleich Sternen mehrten
An heißen Abenden? — Ein Atemholen

Und alles hin, wie Duft. Ich bin ganz wach
Und weiß, ich geh, und sag: „Noch heute nur!"
Von Stunden ein verfließendes Gesind
Schwebt tönend fort durch Kammer, Tor und Flur.
Ich spüre vom erhobenen Gemach
Atmende Nacht und Bäume ohne Wind.


II

Atmende Nacht und Bäume ohne Wind
Verführen mich, an deinen Mund zu denken,
Und daß die Pferde, mich hinweg zu lenken,
Schon vor den Wagen angebunden sind;
Daß alles uns verließ, wie Wasser rinnt,
Daß von dem Lieblichsten, was wir uns schenken,
Nichts bleiben kann und weniges gedenken:
Blick, Lächeln, Hand und Wort und Angebind;

Und daß ich so einsam bekümmert liege,
Und dir so fern, wie du mir fern geblieben —
Die Silberdünste, die den Mond umflügeln,
Sind ihm so ferne nicht, als ich dir fliege,
So ferne Morgenrot nicht Morgenhügeln,
Als diese Lippen deinen, die sie lieben.

September 1901

Rudolf Borchardt, aus: Gedichte aus den Jahren 1898 - 1944

Rudolf Borchardt, geboren am 9. Juni 1877 in Königsberg; gestorben am 10. Januar 1945 in Trins bei Steinach in Tirol, Schriftsteller, Lyriker, Übersetzer

„Das lyrische Schaffen Rudolf Borchardts, der zunächst dem Georgekreis verbunden war, kann nur schwer bestimmten literarischen Strömungen seiner Zeit wie der Neuromantik oder dem Fin de siècle zugerechnet werden. Infolge selbstgewählter Isolation blieb er ein Solitär, ein poeta doctus mit höchstem Anspruch an sich und andere. Er wurde geprägt vom Studium der Altertumswissenschaft und durch die Dichtungen Georges und Hofmannsthals.“ (WiKi)


Das Bild ist von Félix Valloton (1865 . 1925)

Mittwoch, 13. September 2023

Hugo Ball: Die roten Himmel

 



Die roten Himmel

Die roten Himmel, mimulli mamei,
Gehen im Magenkrampf mitten entzwei.
Die roten Himmel fallen in den See,
Mimulli mamei, und haben Magenweh.

Die blauen Katzen, fofolli mamei,
An einem rotzackigen Wellblech kratzen.
O lalalo lalalo lalala!
Da ist auch die schnurrende Tante da.

Die schnurrende Tante hebt aus Schnee
Ihre trällernden Hosen und Röcke in d'Höh.
O lalalo lalalo lalalo!
Da sagte der Flötenbock: »Sowieso.«

Die tönerne Taube fällt vom Dach.
Der doppelte Johann springt ihr nach.
O lalalo und mimulli mamei!
Auf eisernen Geigen kratzen zwei.

Das Pferd und der Esel schauten schief
Auf den Schneehahn, der aus der Tiefe rief
Die blaue Tuba krachte sich eins –
Da sangen sie alle das Einmaleins.

O lalalo lalalo lalalo,
Der Kopf ist aus Glas und die Hände aus Stroh.
O lalalo lalalo lalalo!
Zinnoberzack, Zeter und Mordio!

Die „Regieanweisung“ zu diesem Gedicht: Landschaftsbild aus dem oberen Inferno. Ein Konzert heilloser Geräusche, das selbst die Tiere in Erstaunen setzt. Die Tiere treten zum Teil als Musikanten (sogenannte Katzenmusik), zum Teil in ausgestopftem Zustand und als Staffage auf. Die Tanten aus der siebenten Dimension beteiligen sich in obszöner Weise am Hexensabbat.

Hugo Ball, aus: Tenderenda der Phantast, Roman, Arche, Zürich 1967

Hugo Ball, geboren am 22. Februar 1886 in Pirmasens; gestorben am 14. September 1927 in Sant’Abbondio-Gentilino (Schweiz), unter anderem Mitbegründer des legendären Cabaret Voltaire 1916 in Zürich, der Geburtsstätte des DADA.

Dienstag, 12. September 2023

Joachim Ringelnatz: Dorthin geh. . .

 



Dorthin geh, wo die Andern nicht sind,
Weit hinaus in die freie Einsamkeit,
Wo dir Wolken, Berge, Bäume und Wind
Großes reden von Später und Ewigkeit.

Und dort schöpfe, fasse und füll dir die Brust,
Daß – kommt einst die Stille zu dir als Braut –
Daß du die Hand ihr gibst in tiefster Lust,
Weil du schon lange mit ihr vertraut.

Joachim Ringelnatz (1883 – 1934), aus: Gedichte, München, Leipzig: Hans Sachs-Verlag Schmidt-Bertsch & Haist, 1910

Das Bild ist von Carl Gustav Carus (1798 - 1869)

Montag, 11. September 2023

Franziska Stoecklin: Anacapri bei Nacht

 



Anacapri bei Nacht

So geisterhaft schimmern
die weißen Häuschen im Mondlicht.
Die Mauern und Kuppeln
wölben sich weich
und besänftigend wie Schnee.
Fern atmet das Meer.
Aus den Gärten strömet Duft
aus tausend blassen Kelchen,
unaufhörlich zu den Sternen. . .

Franziska Stoecklin, aus: Die singende Muschel, 1. Auflage 1925

Franziska Stoecklin, Lyrikerin, Erzählerin, Malerin, wurde am 11. 9. 1894 in Basel geboren und starb am 1.9.1931 ebendort.

Das Bild ist von Paul Klee (1879 - 1940)

Sonntag, 10. September 2023

Maximilian Bern: Herbstmahnung

 



Herbstmahnung

Ich dachte deiner, ich alter Tor,
Der an eine Knospe sein Herz verlor,
Und schon allein die Erinnerung
An deinen Liebreiz machte mich jung;
Da fiel im Mondlicht vergilbt und matt
Auf meinen Schatten ein welkes Blatt.
Ein Zufall war es! und dennoch verzagt
Hab deiner ich nicht mehr zu denken gewagt.

Maximilian Bern, ursprünglich Bernstein, geboren am 13. November 1849 in Cherson, Russisches Kaiserreich; starb am 10. September 1923 in Berlin.

Ab 1875 war er freier Schriftsteller. Er „verstummte als Dichter bald und beschränkte sich in der Folge auf die Herausgabe von Anthologien und Deklamatorien“ (Arthur Schnitzler).

Im September 1923, zur Zeit der Hyperinflation, hob er in Berlin seine gesamten Ersparnisse von über 100.000 Mark, die er ein Leben lang zurückgelegt hatte, von seinem Konto ab um damit genau einen U-Bahn-Fahrschein zu bezahlen. Er machte noch eine letzte Fahrt durch Berlin, um danach in seine Wohnung zurückzukehren, wo er verhungerte.

Das Bild ist von Félix Valloton (1865 - 1925)

Samstag, 9. September 2023

Salomo Friedlaender: Klage des Hirten

 



Klage des Hirten

Nichts klagt so endlos in die himmelblauen
Schlaftrunknen Abendtäler wie die selten
Erhörten Hirtenlieder, die von Welten
Hallen fern aller Heimat und Vertrauen.

Sie flößen bunten Wahnsinn, irres Grauen
Schwermütig in das Herz; die halb erhellten
Gründe blühn purpurn, da sie wund vergellten
Färbend mit Blut und Einsamkeit die Auen.

Ihr Abend Rufendes im Ton der stirbt
Rieselnd von Stern zu Sternen ins Vergeßne
Abklingend wie das Licht fieberhaft rot

Haucht Ahnungen verschollnen Glücks, das wirbt
Verwunschen singt und winkt ins Unermeßne -
Wir folgen traumwandelnd, sonderbar tot.

S(alomo). Friedlaender, aus: Die Aktion, Nr. 24, 31. Juli 1911

Salomo Friedlaender, geboren am 4. Mai 1871 in Gollantsch bei Posen; gestorben am 9. September 1946 in Paris.

Unter dem Pseudonym Mynona (Anonym rückwärts gelesen) debütierte Friedlaender in expressionistischen Zeitschriften, wie Der Sturm, Die Aktion, der Jugend oder den Weißen Blättern. 1919 gründete er zusammen mit dem jüngeren Bruder seines Essener Schwagers Salomon Samuel, Ernst Samuel, der sich als Autor und Publizist Anselm Ruest nannte, ebenfalls in Berlin den Stirner-Bund und die nach Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum benannte Zeitschrift Der Einzige.


Die Texte Friedlaenders kombinieren expressionistische und dadaistische Elemente mit den Formen der Groteske und Parodie, wodurch er der literarischen Avantgarde neue Impulse verlieh. Viele seiner Texte beinhalten überdies scharfzüngige Gesellschaftskritik. Er selbst sah sich als eine Synthese von Immanuel Kant und Charlie Chaplin.

Wenige Wochen nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten emigrierte Friedlaender nach Paris. Dort starb er verarmt im Alter von 75 Jahren am 9. September 1946.

Das Bild ist von Adolphe Valette (1876 - 1942)

Freitag, 8. September 2023

Alfred Grünewald - Aus: Renatos Gesang (4 - 6)

 



4

Das Abendmännlein hob sich aus dem Moose
und trat mich an. (Sein Scheitel reichte kaum
bis an mein Knie.) Es wisperte wie Traum
und stand vor mir in zauberischer Pose.

Und bot mir ernsthaft eine weiiße Rose.
Ihr Duft war Kindheit. Mondlicht war ihr Flaum.
Ich neigte mich, daß meiner Lippe Saum
in leisem Kuß berühr die Makellose,

Da stürzte Himmel nieder. Ich verging 
in einem Meer von lauter goldner Bläue.
Und wachte staunend Wieder auf und hing

in einem Sternenbaum; versank aufs neue.
Und taumelte empor, ein Schmetterling,
und wußte tief im Traum, daß ich mich freue.


5

Neig dich, bestrahlte Wolke, über mich
und hülle mich in goldenes Vergessen.
Dein Tau soll meine schweren Lider nässen;
denn eines tiefen Traumes harre ich.

Ich lieg im Gras. Die Nelken hauchen. Kressen
sind nahe meiner Stirn. Es öffnen sich
Mondblumen, die der Abendwind bestrich.
Die Stille liegt gebreitet unermessen.

Ist in der Kühle, die mich jetzt umwebt,
schon deines Neigens Gruß? Schweb ich nach oben?
Versank die Welt mit Taumel, Trug und Toben ?

Ist es mein Traum nur, der mir so entschwebt?
Ists noch mein Herz, was in der Brust mir bebt?
Ist mir das Herz in deinem Glanz zerstoben?


6

Ich bin so voll von tiefer Heimlichkeit,
ich mein Lächeln hüte wie Verrat.
Es flüstert um mich her auf jedem Pfad,
und jeder Halm spricht mir von Lust und Leid.

Denn die Gefühle sind nicht mehr entzweit.
Ich hegte Lachen, Weinen ja wie Saat.
Nun sprießen sie in meinen Traum. Ich bat
mein Herz von einst: O sei dem Traum bereit.

Und ich entschlief und wandle nun im Schlaf
mit sicherm Schritt und weiß, ich kann nicht fallen.
Die Blumen leuchten, wenn mein Blick sie traf,

und selig über mir die Wolken wallen.
War es Gott selbst, der meinen Traum ersann?
Ich bin zu nichts vergangen und begann.

Alfred Grünewald, aus: Renatos Gesang - Ein Buch der Einsamkeit, mit Steinzeichnungen von Fritz Czuczka. Verlag Paul Stern, Wien 1921

Alfred Grünewald wurde am 17. März 1884 in Wien geboren. Nach den Novemberpogromen 1938 wurde er am 14. November 1938 in das KZ Dachau verbracht, im Januar 1939 wurde er wieder entlassen. Er floh über die Schweiz nach Südfrankreich, nach Kriegsausbruch wurde er in der Fort-Carré in Antibes und im Lager Les Milles interniert, bis Herbst 1942 lebte er in Nizza. Dort wurde er von der Polizei des Vichy-Regimes festgenommen und an die SS ausgeliefert. In Auschwitz wurde er am 9. September 1942 ermordet.

„Sie sagten ferner, daß auf einer der beiden, hier vorhandenen Einsiedeleien sich ein vornehmer französischer Cavalier, namens Renato, als Einsiedler . . . befände“ (Cervantes, aus: Irrfahrten des Persiles und der Sigismunda, eine nordische Geschichte, Cervantes sämtliche Werke, Leipzig 1825)

Die Illustration ist aus dem Buch

Donnerstag, 7. September 2023

Ha Hu Baley: Der Blaue Abend

 



Der blaue Abend


Es wettert Lichtkomplex vom Himmel auf die Straßen,
Aus Fensterfronten wandeln hoch die blauen Huren.
Oh holde Stunde sanfter Mädchennasen,
Oh Unisono und Zusammenklang der Turm- und Taschenuhren!

Der Mond steigt in die Rundung metaphysisch höher,
Ein Pferd macht müde sich´s bequem in einem Vogelneste.
Verzückt entschwebt dem Volk ein violetter Seher,
Und schwarzer Violinklang tönt aus dem Asbeste.

Glasbläserei und Kuppel weißer Bögen,
Wölbt hoch euch aus dem Lichtkreis dieser Stadt!
Es ist, als ob aus Finsternis viel Tränen zögen
Und kranken Gottes Haupt erglänzet matt.

Es lehnen sich die Häuser blond zurücke.
Sind Türme weiße Engel, die entschweben.
Vom Himmel stürzt zur Hölle eine Brücke,
Auf der die Toten händeringend kleben.

HaHuBaley, das sind Hans Leybold und Hugo Ball, die vor dem ersten Weltkrieg zusammen unter diesem Pseudonym zusammen Gedichte erfassten, welche die Moderne und den Dada, dessen Mitbegründer Hugo Ball später sein sollte, vorwegnahmen. Aus: Die Aktion, 20. Juni 1914

Leybold und Ball gaben auch zusammen 1913 in München eine Literaturzeitschrift mit dem einprägsamen Titel Revolution heraus. Nach fünf Ausgaben und zwei Prozessen wegen anstößiger Inhalte kam jedoch schon das Ende. Die Zeitschrift war trotz ihres Titels nicht wirklich politisch, obwohl Literatur, die auf Veränderung drängt, immer auch politisch ist. Das Programm der Zeitschrift formulierte Hans Leybold so:

„Kampf gegen Seiendes, für Keimendes. Gegen Kunstportiere, Kulturportiere … Stagnaten, Kastraten. Gegen literaturbehaftete Oberlehrer, kunstsinnige Kritiker, allgemeine Rundschauer. In summa: Gegen Zuständliches.“

Hans Leybold wurde am 2. April 1892 in Frankfurt am Main geboren. Er wurde zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 eingezogen und schon bald vor Namur (Belgien) schwer verwundet. Drei Tage nach seiner Rückkehr zum Regiment erschoss er sich in der Nacht vom 7. zum 8. September.

Hugo Ball, geboren am 22. Februar 1886 in Pirmasens; gestorben am 14. September 1927 in Sant’Abbondio-Gentilino (Schweiz)

Das Bild „Beflaggte Stadt“ ist von Paul Klee (1879 - 1940)

Mittwoch, 6. September 2023

Paul Zech: Deine Augen sind ein Korngrün weit. . .

 



Deine Augen sind ein Korngrün weit . . .

Deine Augen sind ein Korngrün weit,
Zart Gewordnes, das den Mai erfuhr.

Jeder Tag weckt eine neue Gnade,
ein Erlösen mehr im Blickgelände
mit dem weißen Lerchenlied der Hände.

Deine Augen sind ein Korngrün weit
und ein Lächeln zieht darin die Spur
süßverliebter Pfade.

Jede Bitte, die ich heiß in Deine Augen strahle,
schwillt zur Frucht,
zwängt sich reif durch eine schmale
kußbereite Bucht.

Deine Augen sind ein Korngrün weit.

Spannt die Nacht darüber sternbestickte Tücher,
wächst verschwistertes Erglühn
aus dem Dom gewordnen Grün
und singt Psalme gottverbrämter Bücher.

Aus: Die eiserne Brücke , Neue Gedichte von Paul Zech, Verlag der Weißen Bücher Leipzig 1914

Paul Zech, geboren am 19. Februar 1881 in Briesen (Westpreußen), gestorben am 7. September 1946 in Buenos Aires, bevor er aus dem Exil nach Deutschland zurück kehren konnte.

Das Bild „Mädchen mit blaugrünen Augen“ ist von Julie Wolfthorn, (auch Wolf-Thorn, geborene Wolf oder Wolff), geboren am 8. Januar 1864 in Thorn, Westpreußen; gestorben am 29. Dezember 1944 im KZ Theresienstadt) war eine deutsche Malerin, Zeichnerin und Grafikerin der Moderne. Als Jüdin wurde sie ein Opfer der Shoa. Bis auf wenige Bilder in den Depots deutscher Museen galt ihr umfangreiches Werk lange Zeit als verschollen und wurde erst Anfang 2000 wiederentdeckt.

Dienstag, 5. September 2023

Emmy Hennings: In jedem Lichte hoff ich Dich zu lernen. . .



In jedem Lichte hoff ich Dich zu lernen.
Ich weine, um Dir nah zu sein.
Und abends späh ich nach den Sternen
Und glaube Schein von Deinem Schein.

Ich bin das Kind in dunkler Fensterstufe
Und sage mir ein klein Gebet:
Hörst Du es auch, wie ich Dich rufe?
Und dann sinkt sachte der Komet.

Fällt in den See und rauscht so leise.
Ach, an den Fernen hab ich mich versehn.
Ein blindes Licht singt seine Weise
Und willenlose Zweige wehn. . .

Am dunklen Himmel kreisen Sterne
Sie wandern leise um die Ruh.
Es wacht der Fremdling in der Ferne
Hört einem Brunnenliede zu. . .

Emmy Hennings, aus: Emmy Ball-Hennings: Hugo Ball - Sein Leben in Briefen und Gedichten; Mit einem Vorwort von Hermann Hesse; S. Fischer Verlag Berlin 1930

Emmy Hennings, geboren am 17. Januar 1885 in Flensburg; gestorben am 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano, unter anderem Mitbegründerin des legendären Cabaret Voltaire 1916 in Zürich.

Montag, 4. September 2023

Lessie Sachs: Doch erzähle davon nicht

 



Doch erzähle davon nicht

Über Liebe, über Ehe,
Denke wie Du willst und magst;
Doch erzähle davon nicht.
Denn wie ich das übersehe,
Ist doch Irrtum, was Du sagst,
Ist doch Irrtum, was man spricht.
Was man sieht aus großer Nähe,
Was Du tust, und was Du wagst,
Zeigt ein wechselndes Gesicht.

Alles strömt, nichts ist zu halten,
Wo Gefühl und Leidenschaft,
Auf und nieder schwankend gehn.
Sich erhitzen, und erkalten,
Sind wir frei bald, bald in Haft.
In dem fließenden Geschehn,
Wird doch das, was wir gestalten,
Was wir tun, was wir geschafft,
Untergehen und verwehn.

Alles treibt und wird getrieben,
Gleitet, strömt, man merkt es kaum,
Füge schweigend Dich hinein.
Was wir sind, was uns geblieben,
Und was echt war, oder Schaum,
Sehen wir sehr spät erst ein.
Wenn wir wissen, dass wir lieben,
Zarte Tönung, schöner Traum,
Soll man still und glücklich sein.

Aus: Tag- und Nachtgedichte von Lessie Sachs
Ausgewählt und eingeleitet von Heinrich Mann
New York City 1944

Am 5. 9. 1897 wird die Dichterin Lessie Sachs in Breslau geboren. Sie besuchte zunächst die Kunstgewerbeschule in ihrer Heimatstadt Breslau, dann in München. Dort wird sie wegen pazifistischer Aktionen in der Zeit der Räterepublik vorübergehend inhaftier. Sie kehrt nach Breslau zurück und leitet dort ein Atelier für Seidenmalerei.

Ihre Gedichte und Prosatexte erscheinen in Zeitschriften wie dem Simplizissimus, Uhu und der Vossischen Zeitung, als auch in Anthologien. 1933 heiratet sie den 12 Jahre jüngeren Breslauer Pianisten Josef Wagner.

Im Dezember 1932 präsentiert Josef Wagner in Breslau seine Kompositionen zu Gedichten von Lessie Sachs.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kann Josef Wagner seinen Beruf nicht mehr ausüben; Gedichte von Lessie Sachs dürfen nicht mehr erscheinen. 1937 verlassen beide Deutschland und emigrieren nach Amerika.

Über die wenigen Jahre bis zu ihrem frühen Tod 1942 gibt es kaum biographische Hinweise. In den USA schreibt Lessie Sachs für die deutschsprachige jüdische Wochenzeitung Aufbau.
Lessie Sachs stirbt Anfang 1942 nach langjähriger Krankheit.

Zwei Jahre später veröffentlicht das von Friederike Zweig geleitete "Writers Service Center" posthum die Tag- und Nachtgedichte, eine kleine Auswahl aus ihrem lyrischen Werk.

Sonntag, 3. September 2023

Theodor Etzel: Blüten

 



Blüten

In deinem lichten Garten standest du
zur Blütezeit.
Die braunen Flechten wandest du
zu einer Krone um dein Haupt.
Dann nahmst du in die frischen Hände
voll junger Kraft und Fröhlichkeit
den blütenroten Pfirsichbaum
und schütteltest den schwanken Stamm.
Es fielen Blüten ohne Ende
auf dich herab und in den Raum
der Flechtenkrone über deiner Stirn.
Du freutest dich und sprangst zum Apfelbaum,
der meiste Blüten trug,
und fülltest höher deinen Kronenkorb.
Und so beim dritten, vierten Blütenbaum.
Und hattest nie genug. . . 

Doch wie du nach der Gartenmauer kamst,
von der ich lang dein seltsam Spiel betrachtet,
da sahst du mich. Und hurtig nahmst
du eine Handvoll Blüten aus der Kron
Und botst sie mir: „Ich will mir neue schütteln,
mein Garten ist noch übervoll davon!“ -
Ich wehrte ab und schalt dich kühn:
Die Bäume, die so üppig blühn,
sie tragen dir, wenn's herbstet, keinen Lohn.
„Wenn's herbstet -?“ lachtest laut du. da,
wie ich noch nimmer lachen sah -
„wenn's herbstet -! O, das mag ich nicht,
dass man die leichten Frühlingsblüten
im Herbst als schwere Früchte bricht.
Ich will nicht, das die Blüten reifen!“
- Und liefst zurück zu neuem Spiel,
Dass Blut' auf Blüt' in deine Krone fiel.
- Ich aber lernte dich begreifen.

Theodor Etzel, geboren am 9. 1. 1873 in Gelnhausen, starb am 3. 9. 1930 in Bad Aibling.

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Isidor Quartner: Sehnsucht

 



Sehnsucht

In meinen Adern häufet sich Blütenstaub:
Wie alles Blut in ihm versiegt!
Von Sehnsucht erklingend begatten sich gläserne
              Blumen in meinem Herzen. . .

Fallen welkend aus den Schatten der Schläfen
Meiner Finger enge Fünfblattblüten
Und verlieren sich in reißenden Strömen. . .

Da weht aus des Gaumens Wüste so müder Wind.
Da beugen sich zitternde Zweige zu mir herab
Und trinken heißen Wein aus den Kelchen meiner Augen.

Mit flaumiger Pfirsichhaut sind Himmel und Steine bekleidet.
Vom Sonnenfelsen höhnt mich begreifendes Lächeln von Schlangen:
Das verglättet alle Kanten zu weicher Rundheit.

Dürstendes Dickicht warf sich über den Schoß der Sommernacht:
Nun ist des Tages Hauch eine zimtduftende Orchidee,
In der ich betäubter Falter flattre.

In meinem Haupte rauscht ein Garten,
Auf dessen Kronen schwelender Abend drückt.
Grellrote große Früchte schwingen tönend im Sturm.

Nachts neigen sie sich von den Stielen und fallen.
Wie Flammen von Fackeln. Ertrinken im Tau einer Lider.
Hastet der Sturm durchs phosphorleuchtende Schilf meiner Wimper. . .

Isidor Quartner, geboren 1891, „gefallen“ im September 1915, aus: Der Sturm, Juli 1913

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Freitag, 1. September 2023

Fritz Droop: Die Industriestadt

 



Die Industriestadt


Ketten klirren, Menschen hasten;
Mörderisch ist die Schlacht der Lasten, . . . 
Keine Seele wird geschont.

Doch ein Licht fällt in den Jammer:
Irgendwo ist eine Kammer,
Wo die Liebe wohnt.

Fritz Droop – geboren am 1. März 1875 als Friedrich Wilhelm Droop in Minden/Westfalen; gestorben am 2. September 1938 in Frankfurt am Main – war ein deutscher Pädagoge, Journalist und Schriftsteller.

Fritz Droop war der Sohn eines in der Bergverwaltung tätigen Beamten. Er besuchte die Oberrealschule in Dortmund und absolvierte anschließend eine Ausbildung am Lehrerseminar in Herdecke. Danach arbeitete er als Volksschullehrer in Schwelm und studierte parallel dazu Literaturgeschichte und Philosophie an den Universitäten in Breslau, Heidelberg und Gießen. Später gehörte Droop der Redaktion von Zeitungen in Dortmund, Essen und Danzig an. In Danzig lehrte er außerdem als Dozent für neuere Literatur und Musikästhetik am Westpreußischen Konservatorium. Ab 1914 war Droop in Mannheim ansässig, wo er für das Feuilleton des „Mannheimer Tageblatts“ schrieb. Droop nahm als Soldat am Ersten Weltkrieg teil; nach 1918 hielt er zeitweise Vorlesungen an einem Seminar für Mitarbeiter der Sozialverwaltung in Weißenfels/Saale. 1931 promovierte er an der Universität Gießen mit einer Arbeit über das Jesuitendrama zum Doktor der Philosophie.

Fritz Droop verfasste neben pädagogischen Fachveröffentlichungen auch erzählende Werke, Gedichte und Theaterstücke. Daneben war er als Herausgeber tätig; u. a. gab er 1920 eine der ersten Anthologien mit Texten dichtender Arbeiter heraus.(wiki)

Das Bild ist von Hans Baluschek (1870 - 1935)

August Stramm: Siede / Traum / Die Sterne klagen. . . / Kriegsgrab

 



Siede

Meine Schwäche hält sich mühsam
An den eigenen Händen
Mit meinen Kräften
Spielen deine Knöchel
Fangeball!
In deinem Schreiten knistert
Hin
Mein Denken
Und
Dir im Abgrund
Stirbt
Mein letztes Will!
Dein Hauch zerweht mich
Schreivoll in Verlangen
Kühl
Kränzt dein Tändeln
In das Haar
Sich
Lächelnd
Meine Qual!


Traum

Durch die Büsche winden Sterne
Augen tauchen blaken sinken
Flüstern plätschert
Blüten gehren
Dürfen spritzen
Schauer stürzen
Winde schnellen prellen schwellen
Tücher reißen
Fallen schrickt in tiefe Nacht

Aus: August Stramm „Du - Liebesgedichte“, Verlag Der Sturm, Berlin 1922


Die Sterne klagen
Der Windhauch raunt
Woher? Wohin?
Du du? Ich Du?

Aus: Die Haidebraut, Verlag Der Sturm, Berlin 1914


Kriegsgrab

Stäbe flehen kreuze Arme
Schrift zagt blasses Unbekannt
Blumen frechen Staube schüchtern
Flimmer
tränet
glast
Vergessen.

Aus: Der Sturm, Nr. 11/12, 1. u. 2. Septemberheft 1915

Am 1. September 1915 fiel der Dichter August Stramm beim Angriff auf russische Stellungen bei Horodec, heute Weißrussland. Geboren am 28. Juli 1874 in Münster, war er wegweisender Dichter und Dramatiker des Expressionismus durch damals unerhört neue Sprachexperimente. Einer der vielen Dichter der expressionistischen Generation, die aus diesem sinnlosen Krieg nicht zurück kamen.

Das Foto zeigt den Dichter 1915