Sonntag, 30. Juli 2023

Lili Grün: Lied der Stenotypistin

 



Lied der Stenotypistin

Wir müssen den ganzen Tag tippen.
Mit brennenden Augen und schmerzenden Rücken
Bestätigen wir Ihr Wertes vom so und sovielten,
Das wir mit bestem Dank erhielten.

Wir haben nur eine Sehnsucht: auszurasten
Von des Tages ewigen Lärmen und Hasten,
Denn unser armes Hirn ist müd und leer
Wir haben keine bessere Sehnsucht mehr.

Unsere großen, mutigen Gedanken
Sind gestorben in des Alltags Schranken,
Unserer Herzen große Zärtlichkeit
Ist gestorben in des Alltags Leid.

Auch wir würden verstehn
Kostbare Kleider zu tragen.
Auch wir würden verstehn
Zärtliche Worte zu sagen.

Doch wir erlauben uns Ihnen mitzuteilen,
Dass wir uns hiermit beeilen,
Das gewünschte Offert vorzulegen
Um mit Ihrem Vertreter nochmalige Rücksprache zu pflegen. . .

Manchmal packt uns eine Sehnsucht
Nach der großen Leidenschaft,
Doch das kommt ja nicht in Frage,
Denn wir sind: eine perfekte Kraft.

Manchmal packt uns eine Sehnsucht
Nach kindischen Freuden, dumm und toll,
Doch wir erwarten Ihr Geschätztes
Und zeichnen ergebens hochachtungsvoll. . .

Lili Grün, aus der Zeitschrift Das Leben, März 1931

Lili Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern ging sie Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo sie 1931 zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der Künstlerszene ein literarisch-politisches Kabarett eröffnete. Zurück in Wien verarbeitete sie ihre Berlin-Erlebnisse in ihrem Roman "Alles ist Jazz", der erstmals 1933 unter dem Titel "Herz über Bord" im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Mit der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und am 1. Juni 1942 mit anderen Opfern, darunter die Dichterin Alma Johanna Koenig, im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.

Das Foto zeigt Steotypistinnen im Jahre 1939, gefunden auf dem Blog Damals von Hanne Voltmer-Döbrich

Samstag, 29. Juli 2023

Paul Paquita: Deutscher Sommer / Französischer Sommer

 



Deutscher Sommer

Eh´ die Wolkenwelln in Sturmtalaren
Hohlen Hauchs die Berge überstiegen,
Muss der Wein im Schattenkrug versiegen
Gerten tränkend, die hineingefahren;

Kühl im Beerenbusch. Und wir gewahren
Weithinaus im Auseinanderbiegen
Wie die raunenden Arenen liegen
Glühnd und dunkel, dürstend und agraren.

Manchmal mit dem Donner der Geräte
Und die Erntewagen leise läuten
Wie in Orgelbrausen heilige Messen,

Und durch Mohn und Meilenstein die Drähte
Golden blinkend nach den Städten deuten
Der Paläste mit metallnen Tressen.


Französischer Sommer

Blattschattig träuft ein Schlummer im Karnat
Blutwilden Mohns, tiefdunkel und als Kunde
Ein Horn vom Föhn, vom Fieber und vom Pfad
Zu glühendmüden Mittelherzens Grunde.

Fanfaren Trümmer Trubel Traum und Psalter -
Erwacht im Wind, aus wolkenlosem Grün
Gaukelt ein blasser Zug Zitronenfalter
Her auf verblaßnen Abendavenün.

Paul Paquita, aus: Die schöne Rarität, Monatsschrift für expressionistische Literatur und Graphik, Januar 1918

Zu Paul Paquita, Pseudonym von August Ewald, geboren 1887, sind biografische Einzelheiten unbekannt, er schrieb 1913–1919 in expressionistischen und anderen Zeitschriften (Inselschiff, Horen).

Das Bild „Sommertheater“ (um 1918 – 1922) ist von Alma del Banco, geboren am 24. Dezember 1863 in Hamburg; gestorben am 8. März 1943 ebenda. In der Zeit des Nationalsozialismus als Jüdin verfolgt, starb sie 1943 durch Suizid, um der Deportation in ein Vernichtungslager zu entgehen.

Freitag, 28. Juli 2023

Isaac Schreyer: Der Tag des Einsamen

 



Der Tag des Einsamen

Die bleichen Tage, die wie Mondglanz schimmern,
Sie legten über mich die bleiche Hand.
Und eine Flamme schwebt in allen Zimmern,
Verblasst allmählich still und unbekannt.

Es löst sich all die Starre in den Spiegeln,
Wie eine Schale, die man weggeschält.
Und sanfte Furcht will jedes Ding besiegeln,
Die sich der Seele wie ein Klang vermählt.

Und etwas ringt in diesem grauen Schweigen
- Ich weiß nicht was es ist, und höre kaum -:
Es ist, als schwinge sich im ganzen Raum
Ein stiller Reigen unsichtbarer Geigen.

Isaac Schreyer, aus: Die Schaubühne, Nr. 9 1912. Die Zeitschrift wurde 1905 von Siegfried Jacobsohn gegründet und 1918 in Die Weltbühne umbenannt.

Das Bild ist von Mikalojus Konstantinas Ciurlionis (1875 - 1911)

Isaac Schreyer, Lyriker und Übersetzer, geboren am 20. Oktober 1890 in Wiżnitz (Bukowina); starb am 14. Januar 1948 in New York im Exil an einer Herzattacke.

„Schmal ist sein Werk an Umfang, doch seelische Reinheit und innerer Ernst gehen ihm nicht ab. Schwermütig tönen seine Melodien, und durch den Fall der freien Strophen kann man fast die Melismen und Kadenzen von alten Ritualgesängen mitschwingen hören. Expressives und Hymnisches waltet vor. Hölderlin und Trakl heißen Schreyers Götter, doch münden ihre elegischen Stimmen immer in den gewaltigen Orgelschwall der biblischen Psalmen, so daß aus allen drei Elementen schließlich doch ein Neues, unzweifelhaft Eigenartiges entsteht.“

Ernst Waldinger über Isaac Schreyer

Hans Ehrenbaum-Degele: Wenn sich in der Frühe. . .

 



Wenn sich in der Frühe rings die Welt entfaltet,
klopfen meine Pulse stark und frisch und jung,
und mit frohen Augen trink ich tausendgestaltet
all die bunten Wunder meiner Wanderung.

Mein verwildertes Haar liebt der Morgenwind;
Strahlensonne segnet mein erblühtes Geschick.
Wie die weißen Wolken, die voll Schimmers sind,
Hab ich aller Himmel Glück und Geleucht im Blick.

Aber wenn mich Träume alter Zeit verwirren,
werden alle Wege fremd und feind und kahl.
Suchend nach der Heimat muss ich mich verirren
und bin ein Weinen aus dem Gebirg ins Tal.

Aus: Kreuzfahrt Gedichte - Verse von Hans Ehrenbaum-Degele, Kreuzfahrt - einem kleinen Tischlermädchen, Kugel-Verlag, Hamburg, o. J.

Hans Ehrenbaum-Degele, geboren am 24. Juli 1889 in Berlin; gestorben am 28. Juli 1915 am Narew, Lyriker und Herausgeber. 1911 erschienen seine ersten Gedichte u. a. In Der Sturm (Hrsg. Herwarth Walden) und in Die Bücherei Maiandros (Hrsg. Alfred Richard Meyer) In den Jahren 1912 und 1913 trat er in Kurt Hillers Kabarett Gnu auf. Ab 1913 gab er zudem gemeinsam mit Robert Renato Schmidt, Ludwig Meidner und Paul Zech die Zeitschrift Das neue Pathos heraus. Kurt Erich Meurer widmete ihm und Paul Zech seinen 1913 erschienenen Gedichtband Jeder Tag hißt Fahnen. Vier Tage nach seinem 26. Geburtstag „fiel“ er 1915 an der Ostfront.

Donnerstag, 27. Juli 2023

Jakob Haringer: Gedichte aus dem Simplicissimus


 
Melodie

Wohl war schön die weiße Zeit,
Schlief der Wind in deinem Kleid,
War die Welt wie ein Gedicht,
Aber Frühling war es nicht.

Wohl war süß dein weißer Leib,
War meines Lebens liebste Zeit,
War meiner Nächte tiefstes Licht -
Aber Liebe war es nicht!

Wohl kam oft mir Glanz und Mai,
Ach - ist alles lang vorbei,
Ist verweht wie ein Gedicht -
Aber Leben war es nicht!

Wohl hat Leid mein Herz verstaubt,
Doch die Welt ist lang entlaubt,
Ob auch alles dir zerbricht -
Aber Tod ist´s doch noch nicht.

Aus Simplicissimus, Heft 15 1930


Auf dem Wasser

Die Rosen blühn und goldne Sänger wiegen
Sich lieb verträumt im Laub, süß grünt das Gras.
Am blauen Ufer weiße Reiher fliegen,
Fast wär das Leben wie ein Sommerglas.

Ein milder Hauch weht durch die klaren Sterne,
Und alle Menschen sind einander gut;
Beim Abendschein blühn Flöten, aus der Ferne
Ein Kahn zieht heim. . . und manches Unglück ruht.

Aus Simplicissimus, Heft 16 1926


August

Die kleinen bunten Bauerngärten strahlen,
ein altes Schloss grüßt hinterm dunklen Wald.
Drei Raben leuchten in der letzten Sonne -
auf Erden ist für uns kein Aufenthalt.

Ein kleiner Hund scherzt. Eine Zither tändelt;
süß duftet Heu. Die Abendglocken wehn
ein banges Kinderhoffen dir ums Antlitz:
vor einem alten Berghaus bleibst du stehn.

Ich möcht die Stirn ans Kirchengitter lehnen.
Ein Kind schreit, und du denkst: Ach wär´s doch mein´s.
Im Wirtshaus lustig junge Bauern schäkern.
O wär´ ihr lächelnd Kinderleben mein´s.

Gebirge blau´n wie dunkle Traumkulissen.
Ein Liebespaar ruht aus im hohen Gras.
Des Lebens Mittag hat mich lang verlassen - - -
und alles brach wie Lust und Glück und Glas. . .

Bei armer Kneipe blauen Zauberlichtern
denk´ ich an dich. Der erste Vogel singt.
Des Lebens Abend dämmert letztes Scheiden. . .
Vielleicht, dass dieser Tag ein Lied mir bringt.

Aus Simplicissimus, Heft 22 1927


Erinnerung

In meiner Heimat ist alles viel schöner -
der Frühling, die Mädchen und alles Leid.
In meiner Heimat blühn nun die Astern,
da rauschen die Brunnen von alter Zeit.

Da plaudern die Mägde fröhlich vorm Haustor,
da fährt man die Pferde zur Tränke, und leis
singen die Fuhrleut die uralten Lieder
von Alpenrosen und Edelweiß.

Wird Manche sich wohl auch mal meiner erinnern,
die Mutter betet für mich, oh sie meint,
dass ich dann glücklich, gescheiter und braver
und all meine Wege mit Sonne bescheint.

Die alte Frau - ach, was weiß sie vom Leben!
Der Vater spielt Billard im kleinen Café,
die Schwester strickt Strümpfe für ihren Jungen,
Verliebte zerpflücken viel Mohn und viel Klee.

Ich denk an all die verlorenen Jahre,
mein Glück, meine Jugend . . . ach alles ist Nacht.
Was hab ich mit den viel schönen Blumen -
Was hab ich mit meinem Leben gemacht!

Ihr kleinen Sterne. . . o grüßt mir die Heimat!
Ob ich noch einmal die Donau seh!
Für was hat die alten Frau denn gebetet,
und für wen blüht der rote Mohn und der weiße Klee.

Aus Simplicissimus Heft 22 1932


Merkspruch

Was sollen wir die kurze Frist
Das Leben uns verbittern,
Weiß keiner doch, was morgen ist,
Wird uns ein Unglück umgittern.

Lach die Welt und das Schicksal aus,
Bleibt dir kein Freund und kein Pfennig,
Der Blitz schlägt ein ins schönste Haus,
Kein Weib, kein Glück ist beständig.

Pfeif dir ein Lied und vergiss, o vergiss
Rosen und Schmetterlinge.
Wenn der Schwindel vorüber ist,
Kommen die himmlischen Dinge.

Aus Simplicissimus, Heft 40 1930


Trost

Ehrliche Fäuste liebt Gott oft mehr
als betende Hände, die lügen so sehr,
die lügen Demut und kindliches Tun
und sind voll Ehrgeiz und wollen Ruhm.
Gott ist kein Richter, kein Wurm und kein Hund,
wird ihm die trotzige Faust oft zum Mund,
wird ihm die Faust oft zur Träne, die fleht
mehr als der Frömmler winselnd Gebet.
Öffnet er leis oft die Faust und die Pein
legt einen goldenen Stern dann hinein.

Aus Simplicissimus, Heft 46 1932


Jakob Haringer (1889 - 1948)

René Schwachhofer schrieb 1947 in der verdienstvollen Auswahl vergessener, von den Faschisten verfemter Lyriker "Vom Schweigen befreit":

„Haringer hat einige der schönsten deutschen Gedichte geschrieben; sie könnten im Volksmund umgehen. Einst wird man fragen: Wer war ihr Verfasser?“

Der Simplicissimus war eine satirische Wochenzeitschrift, die von 1896 bis 1944 erschien.

Das Portrait des Dichters im Alter von 22 Jahren ist ein Holzschnitt von Emil Betzler (1892 - 1974)

Dienstag, 25. Juli 2023

Franziska zu Reventlow: Wandle ich einsam über die Heide. . .

 


Wandle ich einsam über die Heide,
Wenn der Wind vom Meere herüberstreicht
Rings um mich her ein totes Schweigen,
Kein Leben, soweit das Auge reicht.

Da erwachen in mir der Kindheit Tage,
Ich gedenke der düstern freudlosen Zeit,
Aufs Neue erwacht im Herzen die Klage,
Des einsamen Kindes einsames Leid.

Das ungestillte Sehnen nach Liebe,
Es regt sich wieder so weh und bang.
Weitere und weiter mit müden Schritten
Geh ich die einsame Heide entlang.

Jugendgedicht von Franziska zu Reventlow, aus: Kerstin Decker - Franziska zu Reventlos, eine Biografie, Berlin Verlag, 2018



Fanny (Franziska) Gräfin zu Reventlow (* 18. Mai 1871 in Husum; † 26. Juli 1918 in Locarno, Schweiz) Schriftstellerin, Übersetzerin und Malerin. Sie wurde berühmt als „Skandalgräfin“ oder „Schwabinger Gräfin“ der Münchner Bohème und als Autorin des Schlüsselromans Herrn Dames Aufzeichnungen (1913).

Ihre Erfahrungen mit der Münchner Künstlerszene – vor allem mit dem „Kosmiker“-Kreis um Karl Wolfskehl, Ludwig Klages und Alfred Schuler, denen sie ihres unehelichen Kindes und ihrer erotischen Freizügigkeit wegen als „heidnische Madonna“ und „Wiedergeburt der antiken Hetäre“ galt – verarbeitete sie in ihrem humoristischen Schlüsselroman Herrn Dames Aufzeichnungen. Sie pflegte außerdem Umgang mit Oscar A. H. Schmitz, Theodor Lessing, Friedrich Huch, Erich Mühsam, Oskar Panizza, Rainer Maria Rilke, Marianne von Werefkin, Alexej von Jawlensky (dessen Malschule sie 1906 besuchte), Frank Wedekind und zahlreichen anderen Exponenten der „Münchner Moderne“.

Am 26. Juli 1918 starb Fanny zu Reventlow im Alter von siebenundvierzig Jahren in einer Klinik in Locarno an den Folgen eines Fahrradsturzes.

Das Bild ist von Marianne von Werefkin (1860 - 1938)

Hans Ehrenbaum-Degele: Wie ein Wald. . . / Du bist mein Lied. . .

 



Wie ein Wald, der sich ins Dämmern webt,
war ich zwischen Tag und Traum gefangen
und vom Silbernebel matt belebt.
Immer aber trieb mich ein Verlangen
und ein Durst nach Licht und Kostbarkeit.
Auf der Straße Sehnsucht bin ich weit
von Gespiel und Heimat fortgegangen.

Bannte mich ein Wunder in die Welt:
Sonne küsste alle meine Stunden,
Rosen wurden alle meine Wunden
und dem Flüsterspiel des Winds gesellt.
Will sich Abend auf die Weite senken,
wird mein Herz ein süßes Blütenfeld,
allen Sternen Träumerei zu schenken.


* * *

Du bist mein Lied. Ich wehe,
Flüsterwind im Wald.
Wohin ich immer gehe,
ich fühle deine Nähe
und bin ein Stammeln, durch die Welt gelallt.

Ich kann es nicht aussagen,
wie du bist.
Mein rosenrotes Zagen
wird selig hingetragen
zu einem Meer, in dessen Schoß,
gebenedeit und grenzenlos,
mein Leben sich vergisst.

Aus: Kreuzfahrt Gedichte, Verse von Hans Ehrenbaum-Degele, Kreuzfahrt - einem kleinen Tischlermädchen, Kugel-Verlag, Hamburg, o. J.

Hans Ehrenbaum-Degele, geboren am 24. Juli 1889 in Berlin; gestorben am 28. Juli 1915 am Narew, Lyriker und Herausgeber. 1911 erschienen seine ersten Gedichte u. a. In Der Sturm (Hrsg. Herwarth Walden) und in Die Bücherei Maiandros (Hrsg. Alfred Richard Meyer) In den Jahren 1912 und 1913 trat er in Kurt Hillers Kabarett Gnu auf. Ab 1913 gab er zudem gemeinsam mit Robert Renato Schmidt, Ludwig Meidner und Paul Zech die Zeitschrift Das neue Pathos heraus. Kurt Erich Meurer widmete ihm und Paul Zech seinen 1913 erschienenen Gedichtband Jeder Tag hißt Fahnen. Vier Tage nach seinem 26. Geburtstag „fiel“ er 1915 an der Ostfront.

Das Bild ist von Edward Reginald Frampton (1870 - 1923)

Sonntag, 23. Juli 2023

Friedrich Schwarz: Ich hab kein Heimatland (Jüdischer Tango)


 
Ich hab kein Heimatland (Jüdischer Tango)

Ich hab kein Heimatland
Ich habe nichts auf dieser Welt
Ich zieh von Land zu Land
Und bleibe da wo’s mir gefällt

Ich darf nicht glücklich sein
Ich kenne keinen Sonnenschein
Warum bin ich so ganz allein
Auf dieser Erde?

Ich hab kein Heimatland
Ich hab ja nichts auf dieser Welt
Mein Ziel ist unbekannt
Der blaue Himmel ist mein Zelt

Und wenn ich dacht,
dass ich nun endlich Frieden fand
Dann musst ich weiterziehen
Ich hab kein Heimatland

Der aus Österreich stammende Komponist Friedrich Schwarz brachte Anfang der 1930er-Jahre viele erfolgreiche Schlager auf den Markt, zu denen er, wie hier bei dem Lied „Ich hab kein Heimatland“, oft auch eigene Texte beisteuerte. Mit diesem Lied hatte es seine ganz besondere Bewandtnis. Es entstand in den letzten Stunden vor der Flucht aus Nazi-Deutschland und konnte erst im Exil von Marek Weber mit seinem Orchester sowie dem Tenor John Hendrik als Sänger aufgenommen werden. In einem seiner letzten Briefe bezeichnete Schwarz dieses Stück als „Jüdischen Tango“.

Über den Komponisten heißt es auf Wikipedia u.a.: Friedrich Schwarz wurde als Sohn des Wiener Journalisten Louis Schwarz auf der Durchreise in Berlin geboren, der Stadt, in der er dann Anfang der 1930er-Jahre seine größten Erfolge als Komponist und Textdichter feierte. Sehr populär wurden zum Beispiel „Wenn ich die blonde Inge abends nach Hause bringe“, „Ich hab dich einmal geküsst“, das Stimmungslied „Nach Hause gehen wir nicht“ und vor allem der noch heute zu den meistgespielten Evergreens gehörende Hit „Es war einmal ein Musikus“.

1933 musste der jüdisch stämmige Friedrich Schwarz aus Deutschland fliehen. Über Prag floh er nach Paris, wo er nach wenigen Wochen unter ungeklärten Umständen in seinem Hotelzimmer ums Leben kam. Alle Anzeichen deuteten auf eine Gewalttat hin, so Thomas Janikowski vom Friedrich-Schwarz-Archiv, Werdohl.

(Zitiert nach dem You-Tube-Kanal Schellacks & andere Fundstücke als Beschreibung für das folgende Video)


Reinhard Sorge: Ein flüchtig Weilen / Wiedersehen / Er blickt mich an am Hang. . .

 



Ein flüchtig Weilen

Ein flüchtig Weilen ist hier Los
(Und ein geringes schließt sich an);
Wir sind in einem dunklen Schoß,
Und weiße Flamme rühret dran.
Wir blicken alle suchend um.
Wir langen an durch dunkle Räume,
Wir träumen unsichtbare Träume,
Und unsre Lieder werden stumm.


Wiedersehen

Ich find dich wieder, find dich wieder,
Und alle Liebe bringst du mit,
Wo du nur gehst, entstehen Lieder,
Und Lieder, Lieder bringt dein Schritt.
Wo du nur trittst steh ich versunken
Von Liebes-Überherrlichkeit;
Ein Becher, der nie ausgetrunken,
Ein Licht, ein ewig Hochzeitskleid.


Er blickt mich an am Hang. . .

Er blickt mich an am Hang,
Aus blühenden Bäumen,
Auf stillem Morgengang,
In meinen Träumen.
Er schreitet vor mir hin
Durch Laub und Stämme,
Er trifft auf Rosmarin,
Auf Wogenkämme.

Reinhard Sorge, aus: Nachgelassene Gedichte, Vier Quellen Verlag, Leipzig 1925

Reinhard (Johannes) Sorge, geboren am 29. Januar 1892 in Rixdorf, heute Berlin-Neukölln, war ein deutscher Schriftsteller. 1912 wurde sein Theaterstück „Bettler“ veröffentlicht, welches als das erste expressionistische Drama gilt. Die Uraufführung war allerdings erst nach seinem Tod, 1917.

1913 heiratete er. Auf der Hochzeitsreise nach Rom 1914 konvertierte das junge Paar zum Katholizismus, er nannte sich fortan Reinhard Johannes Sorge. Er siedelt mit seiner Frau in die Schweiz über, er möchte jetzt nur noch „Christi Griffel“ sein und schreibt religiöse Weihespiele und religiöse Epen. Bei Kriegsausbruch August 194 meldet er sich als Kriegsfreiwilliger, er wird jedoch zurückgestellt. Als er 1915 den Entschluss fasst, Priester zu werden, wird er doch noch zum Militär einberufen. Während der Somme-Schlacht 1916 wird er schwer verwundet und stirbt kurze Zeit später, am 20. Juli 1916.

Das Bild ist von John Atkinson Grimshaw (1863 - 1893)

Samstag, 22. Juli 2023

Max Bruns: Rumpelstilzchen / Rapunzel

 



Rumpelstilzchen

„Heute back ich, morgen brau ich,
übermorgen hol ich der Königin ihr Kind;
ach wie gut, dass niemand weiß,
dass ich Rumpelstilzchen heiß!“

Bestrahltes Felsgeklüft rahmt fremd ein Bild -:
Ein emsig Männchen in der mosigen Lichtung
legt trockne Scheite zu durchlohter Schichtung,
dem Tiegel unter, drin des Mondes Schild

sich spiegelt auf dem Sud, der gährend quillt.
Oft neigt er prüfend sich zu näherer Sichtung,
raunt drohnte Strophen rauh geratner Dichtung
und eilt und schleppt und summt und lächelt wild

und wirft, die er in vollen Fäusten trug,
die kundige Mischungen trocknen Kräutersamens,
bis schwebend blau und klar die Flamme schlug.

Dann hastet er im Raum des Felsenrahmens
und tollt und tanzt und tut sich kaum genug
am krausen Klang des ungekannten Namens.


Rapunzel

„Rapunzel! Rapunzel!
Lass mir dein Haar herunter!“


Ich strählte Nacht für Nacht mit breiten Kämmen
den goldnen Strom der wogenschweren Haare;
nun wallen sie als eine wunderbare
bestrahlte Flut und sind nicht einzudämmen.

So rankt kein Birkenlaub von bleichen Stämmen.
Und wenn ich in die weichen Schleier fahre
und reiche sie hinaus, die sommerklare
tiefdunkle Nacht mit Gold zu überschwemmen,

erwacht die Nachtigall in Tau und Kühle
und strömt in die berückten Himmelmeere
und in mein Lichtgelock so süße Schwere,

dass, naht der Knabe, sich emporzuschwingen
in Duft und Glanz, ich in den goldnen Ringen
die Last des schlanken Leibes kaum noch fühle.

Max Bruns, aus: Die Lieder des Abends, Minden 1916

Max Bruns, geboren am 13. 7. 1876 in Minden, war Verleger, Übersetzer und Dichter. Unter anderem übersetzte er Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen, an dieser Übersetzung arbeitete er mit seiner Frau Margarete Bruns zusammen. Er starb am 23. 7. 1945 in seinem Geburtsort an den Folgen eines Raubüberfalls.

„Wenn schon dem Menschen diese beiden Mittel gegeben sind, sich selbst zu vollenden, die Liebe und die Kunst: wie sehr muß es ihm dann vergönnt sein, sich bis zu seinen äußersten Möglichkeiten zu steigern, wenn er dem Erlebnis der Liebe im Kunstwerk Ausdruck und Gestaltung gibt!“ Max Bruns

Die Illustration ist von Anne Anderson (1874 - 1952)

Emmy Hennings: Gedichte aus dem Simplicissimus

 



Es ist ein Lächeln. . .

Es ist ein Lächeln in den Untergängen.
Die Sonne schmiegt sich in die Einsamkeit.
Der Abend ist erfüllt von Klängen.
Hingebung träumt die Dunkelheit.

Das ist die Zeit der leisen Wachen.
Das ist die tiefste aller Stunden:
Die hohe Luft will sich entfachen,
Und selig brennen meine Wunden.

Jetzt gib mir, Nacht, die letzte Kunde,
O, lass mich sein das stille Lauschen.
Lass hangen mich am unsichtbaren Munde,
An deinem Stummsein mich berauschen.

Du lösest leicht die schweren Tage.
Du bist der Sanftmut milde Macht,
Du weicher Mantel, ferne Sage,
Umhülle mich, geliebte Nacht.

Aus: Simplicissimus Heft 3 1926


Sieh, die Nacht. . .

Sieh, die Nacht trägt an der Stirne
Funkelndes Geschmeide.
Weiße Horizonte flammen
Licht an ihrem Kleide.

Alle Uhren bleiben stehen,
Alle Winde ruhen.
Die Verstorbenen singen leise
In den dunklen Truhen.

Doch die da am Leben hangen
Nippen an den Krügen,
Und es schwingen ihre Lippen
Sich zu hohen Flügen.

Bis sie in der Feierstunde
Glühendem Versinken
Lautlos von den Klippen stürzen,
Um das Meer zu trinken. . .

Aus: Simplicissimus Heft 34 1929, die Zeichnung von Rudolf Sieck (1877 - 1957) war diesem Gedicht vorangestellt.


Wanderung

Noch halten wir uns an den Händen.
Zeit schimmert hell in lichten Reihen.
Sieh, es will leise Lilien schneien;
Die Herzen wollen sich verschwenden.

Jetzt bist du ich, und ich bin du.
Der Weg ist uns ein weißer Traum.
Wir spielen, wandern immerzu,
Vertauschen uns am fernen Saum.

Und einst wird sein ein zart verwehen.
Dann will ich sinken in dein Angesicht,
Lächeln in dir, mein stilles Untergehen.
Es spielt um uns das helle Licht.

Aus: Simplicissimus Heft 51 1926, auch im Heft 52, 1928 mit der Überschrift Kleines Liebeslied


Türmen sich Tage

Jetzt geh ich soviel Gassen auf und ab.
Türmen sich Tage, türmt sich das Grab.
Mein Grab wird groß, mein Grab wird weit,
Umfängt mich Todeshügel der Vergänglichkeit.

Und immer träum ich doch im Tanzen, tanz in Träumen.
Und blüh im Raume - und verwelk in Räumen.
Meine Augen sind ein Sehn und ein Versehn.
Meine Haare sind ein Wehn und ein Verwehn.

Meine Hände sind ein Halten und ein Fallen,
Meine Worte sind ein Schrei und ein Verhallen.
Und ach, meine Tage sind ein Versinken,
Die Frühe will schon dem Abend winken.

Meine Rosen glühn, wenn grauer Himmel schneit.
Mein junger Morgen träumt in weicher Dunkelheit. . .
Und habe so viel Zärtlichkeit verhaucht in viel Ohren.
Wo singt wohl Lust, die ich versang? So tief verloren?

Wo schwebt mein Sein, mein süß Verlieben?
Wo ist mein Lieben nun, in dich hineingeliebt, geblieben?
Im Gruß liegt Abschied - Im Anfang Ende
Und nur die Sehnsucht leuchtet durch alle Wände.

Aus: Simplicissimus, Heft 3 1925


Blaue Lilien

Blaue Lilien leise singen
Märchen aus dem Wunderland.
Und die Seele will durchdringen
Zartes, schleierloses Band.

Alle Blumen liebend lauschen
Auf den einen Herzensschlag.
Sagenhafte Bäume rauschen
Hoch in meinen Frühlingstag.

Geh ich träumend durch die Tiefen,
Erdgeboren, helles Licht,
Alle Sonnen, die mich riefen,
sinken in mein Angesicht.

Seligkeit, fall in die Seele.
Sieh mich stumm in deiner Macht.
Letzte Ohnmacht dir erwähle,
Überlicht und Augenwacht.

Aus: Simplicissimus, Heft 8 1925


Die Heiligen sind. . .

Die Heiligen sind Sommernachmittage.
Die Worte wehen weiche Flocken.
Das Schäfchen mit den Seidelocken
Ist schimmernd helle, fromme Sage.

Verstand ich doch, o süß Vertrauen,
Da Menschliches mich nicht verstand,
Hindurchgeliebt durch jede Wand,
Durch jeden Schleier deinen Grund zu schauen.

O, du Genosse der Verwunschenheit,
Komm zu mir in den fernsten Traum,
Und uns umblüht der Märchenbaum,
Die Blume aus der Ewigkeit.

Aus: Simplicissimus Heft 39 1925

Emmy Hennings, geboren am 17. Januar 1885 in Flensburg; gestorben am 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano, Dichterin, unter anderem Mitbegründerin des legendären Cabaret Voltaire 1916 in Zürich.

Der Simplicissimus war eine satirische Wochenzeitschrift, die von 1896 bis 1944 erschien. 

Donnerstag, 20. Juli 2023

Eleonore Kalkowska: Die Mutter

 



Die Mutter

Eine schweigt, seitdem sie die Nachricht empfing. . .
Zeit und Raum konnt´ die Stunde nicht halten,
Irgendwo, wie ein Blitz, im Leeren sie hing
Und hat der Tage bleiernen Ring
Gespalten;
Zerstört von den Flammen,
Kommt gestern und morgen nimmer zusammen.

Und sie schweigt. Denn sie kann von den Dingen nicht reden,
Wie früher. Und zeitlos die Zeit verrinnt.
Das Gestern ein Haus mit geschlossenen Läden,
Das Morgen - die Leere. Und doch, leise, spinnt
Sie das Graugarn des Grams. Und sind neue Fäden
Zu ihrem Kind.

Eleonore Kalkowska, aus: Neues Frauenleben, XVIII. Jg., Juli 1916, Nr. 7




Eleonore Kalkowska, geboren am 22. Juni 1883 in Warschau, war eine polnisch-deutsche Schriftstellerin und Schauspielerin.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde Eleonore Kalkowska 1933 zweimal verhaftet, jedoch nach Intervention des polnischen Gesandten jeweils kurz darauf wieder freigelassen. Daraufhin verließ sie Deutschland und lebte zunächst in Paris, danach in London. Sie starb am 21. Juli 1937 in Bern.

Das Bild ist von Alexandre Séon (1855 - 1917)

Mittwoch, 19. Juli 2023

Hugo Sonnenschein: Kraft zu blühn

 



Kraft zu blühn

Krieg ist jetzt, Winter, wir haben den Traum,
gläubige Brüder, ein Mensch und ein Baum:
Einmal war Frühling plötzlich vorhanden:
selig sind wir in Blüte gestanden.

Noch im Verblühn
durften wir dann
verschattete Hecken
mit leichten Blumenblättern verdecken.

Aus unseren winzigen Stempeln schufen lichte
himmlische Finger süße Früchte:
wir mussten, von Gottes Gnaden beladen,
in Demut die Häupter senken,
Blut Gottes willig der Erde verschenken.

Jetzt ist Krieg, Winter, wir müssen in harten
Tagen die endlichneue Blüte erwarten,
wissende Brüder, Mensch und Baum,
ruhn im Traum:
leidvolle Zeit verloren geh,
Liebe ersteh.

Hugo Sonnenschein, aus: Die Aktion, 6. Juli 1916

Hugo Sonnenschein, geboren am 25. Mai 1889 in Gaya, Österreich-Ungarn, gestorben am 20. Juli 1953 in Mirov, Tschechoslowakei, er schuf expressive Gedichte mit volksliedhaften Zügen. In seinen Gedichten stilisierte er sich selbst zum „Bruder Sonka“. Von 1911 bis 1914 zog er als Vagabund durch Europa. 1934 wurde er aus Österreich ausgewiesen. 1940 wurde er von den Nazis im Gefängnis Pankrác inhaftiert und 1943 in das KZ Auschwitz deportiert und 1945 befreit. Seine Frau wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.

Das Foto nahm der Fotograf Anton Josef Trčka (1893 - 1940) auf und zeigt Hugo Sonnenschein 1914

Dienstag, 18. Juli 2023

Else Rüthel: Der Liebe Angesicht / Blumen

 



Der Liebe Angesicht

Ein Stern fiel in die Milch des Sees.
Im blauen Ringen rennt der Sturz zu Rande
und bricht sich ohne Laut des Weh´s,
ein Silberlicht, am schwarzen Wälderbande.

Und fallen Herzen Brust auf Brust
und schicken hell in dunklen Nächten
einander Ruf und Blut und Lust
wie Grubenlichter in die Adernschächte.

Ein Kuß. Ein Fluch. Vergeßlichkeit.
Doch Welt und All und Blut erfüllt
des Lichtes Unermesslichkeit.
Der Liebe Angesicht ist tief verhüllt.

Else Rüthel, aus: „An den Wind geschrieben, Lyrik der Freiheit 1933 – 1945“, gesammelt, ausgewählt und eingeleitet von Manfred Schlösser unter Mitarbeit von Hans-Rolf Ropertz; Schriftenreihe Agora, Darmstadt 1960, auch in der Sammlung Else Rüthel, Anbruch des Tags. Gedichte. Verlag Der Monat (Dr. B. Kilian) Prag / Wien 1936

Blumen

Sie tragen auf schmächtigen Leibern im Hellen
den mächtigen Glanz ihrer kleinen Gesichter.
Sie glühen in Blütengestirnen und -bällen,
Sie malen bunt ins Lichte neue Lichter.
Sie stehn wie wundermilde Heilskapellen.
Und was da summt und sanft umschweift,
ist Gottes kleiner Finger, der sie streift.

Sie äugen mit äußerster Kraft aus den Lidern,
um tapfer und wachsam gewachsen dem Tage
mit einem innigsten Blick zu erwidern.
Sie glauben schlicht an eine große Sage
und formen Worte mit den feinen Gliedern.
Sie reihen in das Grün der Trift
die holden Zeilen einer heiligen Schrift.

Aus: Simplicissimus, Heft 19, Jahrgang 38, 1933

Else Rüthel, geboren am 3.8.1899 Köln-Ehrenfeld, gestorben am 19.7.1938 Brünn, Schauspielerin, Mitglied der Münchner Kammerspiele und des literarischen Kabaretts "Simplicissimus", 1927 Heirat mit dem Schriftsteller, Politiker und Journalisten Will Schaber, Rundfunkmitarbeiterin in Berlin, Stuttgart und München. 1933 emigrierte sie über Estland nach Brünn und wurde Mitarbeiterin der deutschen Abteilung von Radio Brünn, der "Neuen Zürcher Zeitung", des Brünner "Tagesboten" und des Prager "Monats". Foto: Museum der Stadt Brünn.

Montag, 17. Juli 2023

Toni Schwabe: Sommernacht

 



Sommernacht


Komm mir nicht nah -
Wenn deine Hände mich berühren,
schlägt sonst aus unserm Blut das Glück.
Alles ringsum will verführen,
Ich sehne nur dich zurück.

Komm mir nicht nah -
Ich muss die Augen schließen,
Sonst tauchen sie in den tanzenden Mond,
Den Zweige zuckend umfließen,
Irrsal und lustbetont.

Komm mir nicht nah -
Sonst gibt es kein Entgleiten,
Um uns rundet sich voll das Einst
Längst verwundener Zeiten. . .
Ich sterbe - du weinst.

Toni Schwabe, Schriftstellerin, Verlegerin, Erzählerin, Lyrikerin, geboren am 31. März 1877 in Bad Blankenburg, gestorben am 17. Oktober 1951 ebendort.

Aus: Das Landhaus, Eine literarische Monatsschrift, herausgegeben von Toni Schwabe, 3. Jahrgang 1918

Das Bild ist von Dorothea Maetzel-Johannsen (1886 - 1930)

Sonntag, 16. Juli 2023

Robert Flinker: Ferner Berge blauer Glanz

 



Ferner Berge blauer Glanz

Ferner Berge blauer Glanz,
silberblanker Sonnenschein,
brauner Wälder schlanker Kranz,
schließen mich in Wunder ein.

Meine Seele gleicht dem Wind,
gleicht der Wolken Flug und Spiel:
jene blauen Berge sind
ewig ihres Weges Ziel.

Robert Flinker, aus: Ferner Berge blauer Glanz, Aachen, Rimbaud Verlag 2021

Robert Flinker war Arzt, Schriftsteller und Essayist. Er wurde am 16. Juli 1906 in Wischnitz (ca. 60 km westlich von Czernowitz) in der Bukowina geboren, gestorben ist er am 15. Juli 1945 in Bukarest.

„Aber daß ich hier sitze und mit Ihnen spreche, ist ein Wunder, ja vielleicht ist das sogar das größte von allen. Einmal gab es die Sterne, gab es Tag und Nacht, Sommer und Winter – und ich war nicht da und konnte sie nicht sehen. Dann Sommer und Winter – und ich war nicht da und konnte sie nicht sehen. Dann wurde ich, atmete, schlief und wachte, sah die Sonne und den Mond, fühlte Wärme und Kälte, wußte, was Liebe ist und Haß. Heute kann ich denken und träumen, kann Lust empfinden und Schmerz, kann sprechen oder schweigen. Und einmal wird das zu Ende sein, mein Körper wird noch da sein, doch ich werde nichts mehr wissen. Woher bin ich gekommen, wohin werde ich gehen? Niemand weiß es – es ist ein Wunder. Die Sterne aber werden weiter ihre Bahn gehen und die Sonne weiter in goldenem Licht erstrahlen. Wird auch das einmal ein Ende haben? Niemand weiß es, alles ist Wunder und Geheimnis.“ Aus: Der Sturz, Roman. Bukarest: Kriterion-Verlag 1970 (Neuauflage Aachen: Rimbaud-Verlag 2013)

Das Bild ist von Ferdinand Hodler (1853 - 1918)

Samstag, 15. Juli 2023

Wilhelm Runge: Abendlied


 

Abendlied

Ihre goldnen Harfensaiten
zieht die Sonne
leise aus dem Vogellied
und sie hält dann
mit der Hand der Wälder
ihr verträumtes Auge zu
wenn der Tag steht grün
im Bett der Felder
in die sternbesäte Ruh

Wilhelm Runge, aus: Der Sturm, Nummer 1, 15. April 1916

Wilhelm Runge, geboren am 13.6.1894 Rützen/Schlesien, am 22.3.1918 bei Arras „gefallen“. In Schlesien aufgewachsen, ging Wilhelm Runge 1914 als Kriegsfreiwilliger an die Front. Vor Ypern wurde er im Nov. 1914 verwundet, 1915 kam er nach Berlin u. studierte Medizin. Dort schloss er sich dem »Sturm«- Kreis um Herwarth Walden an. Besonders eng befreundete er sich mit Georg Muche, damals Lehrer an der Kunstschule des »Sturm«, und dessen Braut Sophie van Leer. Im »Sturm« erschien fast seine gesamte Lyrik. Anlässlich seines frühen Todes schrieben Franz Richard Behrens, Kurt Heynicke u. Walter Mehring poetische Nachrufe; Muche widmete ihm ein Ölgemälde zum Gedächtnis. Das einzige Buch, der Gedichtband Das Denken träumt (Berlin 1918), wurde von Wilhelm Runge noch im Feld korrigiert, aber erst nach seinem Tod veröffentlicht.

Das Bild ist von Joan Brull i Vinyoles (1863 - 1912)

Freitag, 14. Juli 2023

Walter Benjamin: Sonette - LIII.

 



Sonette - LIII.


In aller Schönheit liegt geheime Trauer
Undeutlich nämlich bleibt sie immerdar
Zwiefach und zwiefach unenträtselbar
Sich selbst verhüllt und dunkel dem Beschauer

Sie gleicht nicht Lebenden in ihrer Dauer
Kein Lebender nimmt sie im Letzten wahr
An ihr bleibt Schein wie Tau und Wind im Haar
Je näher nahgerückt je ungenauer

Sie steht wie Helena im Dämmerlicht
Der beiden Welten Sprache taugt ihr nicht
Es sei denn blendend ihr Geschlecht zu trennen

Doch war es deiner Schönheit nicht gegeben
Als offner Tod aus deinem Jugendleben
Zu wachsen und sich selber zu benennen?

Walter Benjamin, geboren am 15. Juli 1892 in Berlin; gestorben am 26. September 1940 in Portbou, Spanien, Philosoph, Kulturkritiker und Übersetzer

1933 entzog er sich als säkularisierter Jude der NS-Herrschaft und ging ins Pariser Exil. Nach der Besetzung Frankreichs durch die deutschen Truppen nahm er sich auf einer missglückten Flucht in der spanischen Grenzstadt Portbou das Leben.

Walter Benjamins Sonette galten als verschollen. Erst 1981 wurden sie in der Pariser Nationalbibliothek aufgefunden. Benjamin hatte sie mit anderen ihm wichtigen Papieren vor seiner Flucht im Frühjahr 1940 Georges Bataille übergeben. 1986 erschienen sie in der Bibliothek Suhrkamp.

Das Bild ist von Hans Unger (1872 - 1936)

Donnerstag, 13. Juli 2023

Friedrich Glauser: Sommer

 



Sommer

Der Berg ist schläfrig von dem langen Sonnenbad
Und niemand hat die Wolkenherde auf den
Sommerhimmel hingetrieben;
Sie war zu müd, und schläft hinter den sieben Horizonten.
Auf der weißen Straße trommelt fern ein Rad.
Jetzt summt ein Mückenschwarm den Nachtchoral,
Ein kleiner Wind ist aufgewacht und läuft durchs Tal
Schüttelt die Linde, die vergessen hat, Parfum zu kaufen;
Dann spielen seine Kinderhände mit Kartoffelstauden
Und zerren an dem weißen Bart von einem Baum.
Der aber scheint zu lächeln, wie ein guter, alter Herr
im Traum.

Friedrich Glauser, aus: Pfützen schreien laut ihr Licht, Gesammelte Gedichte, Nimbus Verlag, Wädenswil 2008

Friedrich Glauser, geboren am 4. 2. 1896 in Wien, gestorben am 8. 12. 1938 in Nervi bei Genua. Sein Leben war geprägt von Drogenabhängigkeit und Internierungen in psychiatrischen Anstalten. Trotzdem erlangte er mit seinen Erzählungen und Feuilletons, vor allem jedoch mit seinen fünf Wachtmeister-Studer-Romanen, literarischen Ruhm.

Das Bild ist von Marianne von Werefkin (1860 - 1938)

Mittwoch, 12. Juli 2023

Robert K. Staege: Einst

 



Einst

Dort,
nahe jenem Haus,
wo ich einst die Ferien
bei Freunden verbrachte,
weitab in den Wäldern,
gab es einen heiligen Ort,
an dem nichts und niemand
starb, wo das Gras so grün war
wie polierte Jade und Smaragd,
wo der Himmel in restlosblau
sich ins Unendliche spannte,
und wo Zeit und Raum
bedeutungslos blieben.

Das Jahr changierte
zwischen dem ersten Schnee
und den letzten Pilzen,
drin eingebettet Christrosen,
Kirschen, Äpfel, Kastanien
und der Geruch der Bäume.

Die Nacht löste sich
von meinen Träumen,
und war nur an ihrem
samtigen Dunkel und den
Käuzchenrufen zu erkennen.

Der Morgen schlich sich
mit dem Duft des Taus durch
das Fenster an mein Bett,
um mich wachzuküssen.

Nahe jenem Hause
war der geheime Himmel,
und seine Engel sahen
aus wie immer,
einst dort …

Robert K. Staege, 1960 in Niederbayern geboren, lebt im Rheinland. Mit freundlicher Genehmigung. Das Bild ist von Wassily Kandinsky (1866 - 1944)

Dienstag, 11. Juli 2023

Fritz Mangold: Nocturne

 



Nocturne

Wenn sie lächelt,
verfangen sich die Sternbilder in ihren Lippen.
Von meinen Augen pflückt sie das Fest
und gibt es ihren Lippen noch dazu:
Die flammen auf,
werfen der Nacht Diademe ins Haar.
Dann wird sie müde (ihr Lächeln muß ja so weh tun);
Und dankbar gibt sie die Nacht wieder frei.

Fritz Mangold, aus: Die Aktion Nr. 27, 1913, Lyrische Anthologie; das Bild „Nacht“ ist von Edward Robert Hughes (1851 - 1914)

Montag, 10. Juli 2023

Franz Blei: Prolog zu einem Maskenspiel / Stummes Gespräch

 



Prolog zu einem Maskenspiel


In allen Dingen ist das selbe Leben,
und alle träumen wir den gleichen Traum.
An einem Webstuhl sitzen wir und weben
das graue Tuch von Zeit und Ding und Raum
und jedem ist die Täuschung eingegeben,
dass er seinen bunten Faden spinnt,
und glaubt, er leb und sterb ein eignes Leben,
da ich wie du und wir wie alle sind.
Doch Wort und Schweigen lügt uns auseinander
und macht dich fremd zu mir und mich zu dir,
macht den zum Arlekin, den zum Cassander,
zum Helden den, und den zum blöden Tier.
Wir wissen nicht und haben viele Worte,
wir suchen Licht und gehen in die Nacht,
ganz müde leidet´s uns an keinem Orte,
und wissen nicht, was uns so müde macht.
In eine Laune sind wir tief beschlossen,
und drücken fest die Maske vors Gesicht,
das Spiel geht ernst, und oft ist Blut geflossen,
und einer sagt ein rührendes Gedicht
von Scham und Scheu und Herzen wund gestoßen -
So spielt´s mit uns, wir aber spielen nicht.
Wir haben keinen Ort und keine Stunde
und nicht mehr Dauer als ein Traumgesicht,
wir sagen Schmerz und was ist unsre Wunde?
Wir sagen Lust und was ist unser Licht?


Stummes Gespräch

Hier ist der Schlüssel an der Tür
Schließ auf  Tritt ein  Was zögerst du?
Du warst so lange nicht bei mir,
da stand ich immer hier
und wartete.

Was hast du denn! Ach lass nur, lass!
Es ist ja tot  Ich trag es fort
Es ist schon ganz verwelkt und blass -
es ist dein letztes Wort.
Erkennst du´s noch?

Das hauste hier die ganze Zeit
und ließ mich vor der Türe stehn
des Wartens graue Ewigkeit.
Nun lass uns weiter gehen,
den letzten Weg.

Den Hügel noch, dann ists vorbei
Dann ist das Ruhen dein und mein.
O lächle noch! Bald ists vorbei,
und Stein und Licht und Wort und Schrei
hüllt schon der trübe Abend ein.
Was letzter Frage Antwort sei?
  -   Alles ist nichts.

Franz Blei, aus Drei Gedichte, in Hyperion, eine Zweimonatszeitschrift, herausgegeben von Franz Blei und Carl Sternheim, Viertes Heft 1908, Hans von Weber Verlag, München 1908

Franz Blei, geboren am 18. Januar 1871 in Wien; gestorben am 10. Juli 1942 im Exil in Westbury, New York, USA), Schriftsteller, Übersetzer, Herausgeber und Literaturkritiker.

Das Foto zeigt Franz Blei 1924, aufgenommen von Nini und Carry Hess.

Die Schwestern Nini (geb. 21. August 1884; gest. 1943 in Auschwitz) und Carry Hess (geb. 11. November 1889; gest. 1957 in Chur, Schweiz) zählten zu den bedeutendsten Lichtbildkünstlerinnen der Weimarer Republik. Wegen ihrer jüdischen Herkunft wurden die beiden Fotografinnen von den Nationalsozialisten verfolgt und ihr Werk und ihr Leben zerstört.

Sonntag, 9. Juli 2023

Erich Mühsam: In der Zelle / Gefängnis

 



In der Zelle


Scheu glitt ein Tag vorbei - wie gestern heut.
Ein leerer rascher Tropfen sank ins Jahr.
Und wenn sich aus der Nacht geballtem Nichts
der letzte Schatten in den Morgen streut -
du freust dich kaum am kalten Kuß des Lichts.
Und morgen wird es sein, wie's heut und gestern war.

Gefängnis: Leben ohne Gegenwart,
ganz ausgefüllt von der Vergangenheit
und von der Hoffnung ihrer Wiederkehr.
Du fragst nicht, ob du weich ruhst oder hart,
ob deine Schüssel voll ist oder leer.
Betrogen um den Augenblick verrinnt die Zeit.

Du wirst nicht älter und du bleibst nicht jung.
Gewöhnung weckt dich, bettet dich zur Ruh.
Dein Fragewort heißt niemals: Wie? - Nur: Wann?
Doch Wann ist Zukunft, Wann ist Forderung.
Weh dir, wenn dich Gewöhnung töten kann.
Verlern das Warten nicht. Bleib immer Du! Bleib Du!

Erich Mühsam, Erstdruck in: Sammlung 1898-1928, Berlin (J. M. Späth-Verlag), 1928. Eine vom Autor selbst zusammengestellte Lyrik und Prosa-Anthologie.


Gefängnis

Auf dem Meer tanzt die Welle
nach der Freiheit Windmusik.
Raum zum Tanz hat meine Zelle
siebzehn Meter im Kubik.
Aus dem blauen Himmel zittert
Sehnsucht, die die Herzen stillt.
Meine Luke ist vergittert
und ihr dickes Glas gerillt.
Liebe tupft mit bleichen, leisen
Fingern an mein Bett ihr Mal.
Meine Pforte ist aus Eisen,
meine Pritsche hart und schmal.
Tausend Rätsel, tausend Fragen
machen manchen Menschen dumm.
Ich hab eine nur zu tragen:
Warum sitz ich hier? Warum?
Hinterm Auge wohnt die Träne,
und sie weint zu ihrer Zeit.
Eingesperrt sind meine Pläne
namens der Gerechtigkeit.

Erstdruck in: Wüste – Krater – Wolken, Berlin (Paul Cassirer) 1914

Erich Mühsam (6. 4. 1878 - 10. 7. 1934), Dichter, Anarchist, Suchender mit kindlichem Herzen, Mitinitiator der Münchner Räterepublik, dafür von den Nazis gehasst und schließlich im KZ Oranienburg ermordet. Die Erfahrungen für diese Gedichte "durfte" er 1919 - 1924 in Festungshaft machen.

Das Foto zeigt Erich Mühsam 1928; Bundesarchiv, Bild 146-1981-003-08 / Autor/-in unbekannt / CC-BY-SA 3.0

Samstag, 8. Juli 2023

Stefan Zweig: Oft bange ich, vom Tal der Heiterkeit

 



Oft bange ich, vom Tal der Heiterkeit

Oh, come grato ocorre
Nel tempo giovanil, quando ancor lungo
La speme e breve ha la memoria il corso,
Il rimembrar delle passate cose!

(Leopardi)

I

Oft bange ich, vom Tal der Heiterkeit
Biege mein Weg zu Stille schon und Schweigen,
Denn leiser wandelt meiner Stunden Reigen,
Wie Menschen gehn vor naher Müdigkeit.

So war, was ich, ein Kind, ein Träumer nahm
Das Leben schon? Und waren die verfrühten
Geschicke, die ich griff, schon reife Blüten,
Mit denen meine Jugend zu mir kam?

Doch Fragen sind dies, die ich klaglos spreche,
Denn keiner weiß es ganz, was er erlebt,
Da er noch Strom ist und geschnellte Schwinge,

Und erst, wenn alle Unrast fern verbebt,
Malen sich bildhaft auf der stillen Fläche
Die späten Träume der erlebten Dinge.

II

Doch diesen Glanz verlangt es mich, zu halten,
Zu fassen das, was kaum Erlebnis war,
Der Ferne Gruß, der Frauen mattes Haar,
Den lieben Schritt enteilender Gestalten,

Und solche Bilder, ehe sie verschatten,
In heißen Worten formend zu erneuern,
Daß sie, geläutert von den späten Feuern
Ein Glühen geben, das sie einst nicht hatten.

So wird, was schon verging, mir neu zu eigen
Und reicher nun. Gefangen im Gedicht
Runden die Stunden längst schon welker Lenze

Sich lächelnd wieder in den Lebensreigen,
Und ein – fast träumendes – Besinnen flicht
Die bunten Farben in die frühen Kränze.

Stefan Zweig, aus der Sammlung "Die frühen Kränze", Insel, Leipzig 1906

Stefan Zweig, geboren am 28. November 1881 in Wien; gestorben 23. Februar 1942 im Exil in Petrópolis, Bundesstaat Rio de Janeiro, Brasilien,Schriftsteller, Übersetzer und Pazifist.

Freitag, 7. Juli 2023

Marianne Cohn: Ich werde morgen verraten, heute nicht

 



Ich werde morgen verraten, heute nicht


Ich werde morgen verraten, heute nicht.
Heute reißt mir die Nägel raus.
Ich werde nichts verraten.

Ihr kennt die Grenze meines Mutes nicht.
Ich kenn sie.
Ihr seid fünf harte Pranken mit Ringen.
Ihr habt Schuhe an den Füßen:
Mit Nägeln beschlagen.

Ich werde morgen verraten, heute nicht.
Morgen.
Ich brauch die Nacht, um mich zu entschließen,
Ich brauch wenigstens eine Nacht,
Um zu leugnen, abzuschwören, zu verraten.
Um meine Freunde zu verleugnen,
Um dem Brot und Wein abzuschwören,
Um das Leben zu verraten,
Um zu sterben.

Ich werde morgen verraten, heute nicht.
Die Feile ist unter der Kachel,
Die Feile ist nicht fürs Gitter,
Die Feile ist nicht für den Henker,
Die Feile ist für meine Pulsader.
Heute habe ich nichts zu sagen.
Ich werde morgen verraten.

Marianne Cohn, auch in: Frankreich meines Herzens. Die Résistance in Gedicht und Essay Hg. Irene Selle, Leipzig 1987

Marianne Cohn, geboren am 17. September 1922 in Mannheim, Freistaat Baden; ermordet am 8. Juli 1944 in Ville-la-Grand, Haute Savoie, Frankreich, Kinderfürsorgerin und Widerstandskämpferin. Sie studierte in München Nationalökonomie und war von 1914 bis 1916 mit Walter Benjamin verlobt gewesen. Bis zu seinem Todesjahr 1940 stand stand sie mit ihm in regelmäßigem Briefwechsel.

Am 31. Mai 1944 versuchte sie einen Transport von 32 jüdischen Kindern (zwischen drei und 19 Jahren) von Lyon – damals unter deutscher Besatzungsherrschaft – aus in die sichere Schweiz zu bringen. Auf diese Weise sollte die vorgesehene Deportation der Kinder in ein deutsches KZ (zum Zweck ihrer Tötung) verhindert werden. Kurz vor der Grenze scheiterte die Flucht. Cohn und die Kinder wurden ins Gefängnis gebracht. Der Bürgermeister Jean Deffaugt des Ortes Annemasse bot ihr an, ihr allein zur Flucht zu verhelfen, was sie ablehnte, um bei den Kindern zu bleiben. Schließlich wurden die Kinder gerettet, sie selbst aber bei der Befreiung des Ortes am 23. August 1944 tot unter einem Leichenhaufen gefunden. Mit ihr zusammen wurden am 8. Juli noch mehrere ebenso inhaftierte Widerstandskämpfer ermordet. (Wiki)

Das Foto zeigt sie im Juli 1944

Hier die französische Fassung des Gedichtes: 

Je trahirai demain, pas aujourd'hui
Aujourd'hui, arrachez-moi les ongles
Je ne trahirai pas !
Vous ne savez pas le bout de mon courage.
moi, je sais.
Vous êtes cinq mains dures avec des bagues.
Vous avez aux pieds des chaussures avec des clous.
Je trahirai demain. Pas aujourd'hui,

Demain.
Il me faut la nuit pour me résoudre.
Il ne me faut pas moins d'une nuit
Pour renier, pour abjurer, pour trahir.
Pour renier mes amis,
Pour abjurer le pain et le vin,
Pour trahir la vie,
pour mourir.
Je trahirai demain. pas aujourd'hui.
La lime est sous le carreau,
La lime n'est pas pour le bourreau,
La lime n'est pas pour le barreau,
Le lime est pour mon poignet.
Aujourd'hui, je n'ai rien à dire.
Je trahirai demain

Donnerstag, 6. Juli 2023

Julius Hart: Natur / Fichtenrauschen - Mondscheinleuchten. . .

 



Natur


Nacht fließt in Tag und Tag in Nacht,
der Bach zum Strom, der Strom zum Meer -
in Tod zerrinnt des Lebens Pracht,
und Tod zeugt Leben licht und her.
Und jeder Geist, der brünstig strebt,
dringt wie ein Quell in alle Welt,
was du erlebst, hab ich erlebt,
was mich erhellt, hat dich erhellt.
All´ sind wir eines Baums Getrieb,
ob Ast, ob Zweig, ob Mark, ob Blatt -
gleich hat Natur uns alle lieb,
sie, unser aller Ruhestatt.

Julius Hart, aus: Gedichte des Naturalismus, lernhelfer de


Fichtenrauschen – Mondscheinleuchten
heben an ein seltsam Singen,
und im lichten Glaste flimmert´s
wie von weißen Geisterschwingen ...

Wirfst du endlich ab die Hülle,
kehrst du wieder heim, Verlorner?
wachst du auf aus deinen Träumen,
nie Gestorbner – nie Geborner?!

Siehst du dich im goldnen Kahne
durch des Lebens Fluten gleiten,
nur gewichen sind die Ufer,
und erweitert sind die Weiten ...

Deine Flügel sind entfaltet
über Raum und alle Zeiten,
Tod und Leben sind nur Formen,
Träume dunkler Sinnlichkeiten.
Julius Hart, aus Totentanz

Julius Hart, geboren am 9. April 1859 in Münster; gestorben am 7. Juli 1930 in Berlin, Dichter und Literaturkritiker.

Zusammen mit seinem Bruder Heinrich Hart gab er die die Zeitschrift Kritische Waffengänge (1882–1884) heraus, die als ein Quellpunkt des literarischen Naturalismus in Deutschland angesehen werden kann. Weitere Zeitschriftengründungen dieser Jahre waren die Berliner Monatshefte für Literatur, Kritik und Theater (1885) und Kritisches Jahrbuch (1889–1890). Als Verfasser von Lyrik (Stimmen in der Nacht, 1898) und lyrischer Prosa (Träume der Mittsommernacht, 1905) war Julius Hart weniger erfolgreich. Seine Stärke lag in der Fähigkeit, Gleichgesinnte um sich zu scharen. (Wiki)

So waren die Brüder Hart zusammen mit Gustav Landauer Mitbegründer der Neuen Gemeinschaft in Berlin Schlachtensee, die von 1900 - 1904 bestand. Diese sollte eine freireligiöse und anarchistische Kommune bilden. Zu der kurzlebigen aber wirkungsreichen Gemeinschaft gehörten unter anderem Peter Hille, Else Lasker-Schüler und Erich Mühsam an. Die Neue Gemeinschaft wurde zu einem der wesentlichen Anreger der alternativen Lebensgemeinschaften, die sich nahe Ascona am Monte Verità entwickelten.

Mittwoch, 5. Juli 2023

Aus: Wir - Gedichte von Frieda Mehler

 



Ich aber habe Sehnsucht,
Sehnsucht nach Menschen,
Nicht nach dem maskenhaften Gaukelspiel,
Das uns umgibt.
Nach Menschen, blutvolll lebendig,
Die leiden, lieben und schaffen können,
Die wissen, dass sie leben.
Ich aber habe Sehnsucht, Sehnsucht nach Worten,
Die nicht abgegriffene Worte sind,
Nicht hunderttausend Mal gehörte,
Nach Worten, die überschäumen
Von Inhalt, von klingenden, singenden Tönen,
Die Gedanken haben und geben.
Ich aber habe Sehnsucht, Sehnsucht nach Liebe.
Nach stiller, leiser, feiner Zärtlichkeit,
Nach einer Seele, die meiner verwandt,
Die mich in ihrem Spiegel aufnimmt und zurückwirft
Und mit mir lacht und klagt.

* * *

Ich bin nur eine von den vielen,
Die unbeachtet ihres Weges ziehen,
Die unverzagt nach fernen, stillen Zielen
Sich sehnen, schreiten, unentwegt sich mühen.
Ich bin nur eine von den Frauen,
Die in der großen, dumpfen Masse gehen,
Verträumten Auges in die Weite schauen
Und dieser Zeiten Nöte nicht verstehen.
Ich bin nur eine von den allen,
Die eines Tages still am Wege bleiben,
Schatten, die schwinden, Schritte, die verhallen,
Wie Spuren, die im Sand wir spielend schreiben.

* * *

Wir sind der Menschheit Dünger,
Der zur Blüte treibt
Die kommenden Geschlechter, wenn wir gingen.
Wir sind die Asche, die von wilden Feuern bleibt,
Die wir gebrannt, das Schicksal und zu zwingen.
Wir sind ein Staub, der an den Wegen rastet,
Wenn wild in Stürmen junge Scharen ziehen.
Am Fuße haftend, der vorüberhastet,
Dem allgemeinen Sterben zu entfliehen.
Ihr seid der Keim, wir sind die warme Hülle,
Die Eure Wurzel mütterlich umschließt,
Wenn Ihr getrieben von der Kräfte Überfülle,
Der Zukunftssonne zu in Blüten schießt.
Wir müssen enden, dass Ihr werden könnt.
Den Fortschritt stark und kräftig sucht.
Wir sterben, dass zu leben Euch vergönnt.
Wir sind der Boden und Ihr seid die Frucht.

* * *

Einmal, ehe ich herniederstieg zu dieser Welt,
War ich der Sternenwelt verschwistert,
Wenn ein Stern aus seiner Höhe fällt,
Fühle ich sein Bruderwort mir zugeflüstert.
Was mir blieb, seitdem mich diese Erde trägt,
Ist die Sehnsucht nach dem ganz Erhabenen,
Wenn mein Herz im Gleichtakt mit den Sternen schlägt,
Fühl´ die Last ich des in Staub begrabenen.
Mensch ist höchstes, Mensch ist tiefstes Sein,
Mensch ist unvergänglich und doch endlich,
Menschsein schließet alle Höllen ein,
Mensch ist, was ewig unverständlich.

* * *

Man sollte geizen mit den letzten Stunden,
Die uns das Leben, die der Tod uns gönnt,
Man sollte eilen, bis man heimgefunden,
Eh´ noch der Lampe letztes Öl verbrennt.
Es blieb noch vieles ungetan am Wege,
Man hetzt ihm nach und holt es nicht mehr ein
Und fühlt: des Herzens letzte, wilde Schläge,
Sie werden immer um Versäumtes sein.
Ein Mund verstummt, ein Auge bleibt verschlossen,
Was Du auch bringen magst, es ist zu spät,
Und Du stehst schweigend vor dem Weggenossen,
Der Deinen Blick, Dein Wort nicht mehr versteht.

Aus: Wir - Gedichte von Frieda Mehler, Berthold Levy / Jüdischer Buchverlag, Berlin 1937

Frieda Mehler, Dichterin und Kinderbuchautorin, geboren am 20. Mai 1871 in Halberstadt. Am 28. Februar 1939 emigrierte sie in die Niederlande. Am 2. Juli 1943 wurde sie vom Lager Westerbork in das Vernichtungslager Sobibor deportiert, wo sie wahrscheinlich am 5. Juli 1943 ermordet wurde.

„Zu herzlichen Glückwünschen und Geburtstagsgrüßen scharen sich daher am 20. Mai viele große und kleine Kinder, die Märchengestalten ihrer Chanukahsagen, echt deutsche Feen und magische aus Phantasieländern, Luftgeister in wundersamer Schwebe zwischen Orient und Occident, Rehe aus den Heimatwäldern der Dichterin und die biblischen Herden, deren Urenkel noch heute am Kamelhang weiden, sowie unter zahlreichen Freunden aus Vergangenheit und Gegenwart auch als alter Märchenfreund.“

Auszug aus der Würdigung in den Posener Heimatblättern zu Frieda Mehlers 65. Geburtstag, von Arthur Silbergleit, Dichter der Breslauer Dichterschule, geboren Mai 1881 in Gleiwitz, ermordet März 1943 in Auschwitz.

Dienstag, 4. Juli 2023

Jean de Bourgeois (Carl Einstein): Ick sitze da un esse Klops. . .

 



Ick sitze da un esse Klops.
Uff eemal klopp’s.
Ick kieke, staune, wundre mir,
Uff eemal jeht se uff, de Tür.
Nanu denk’ ick, ick denk’ nanu,
Jetzt is se uff, erscht war se zu?
Un ick jeh raus un blicke
Un wer steht draußen? – Icke!

Mit dem Verfassernamen Jean de Bourgeois wurde dieses so volkstümlich wirkende Gedicht im Europa-Almanach, herausgegeben 1925 von Paul Westheim und Carl Einstein, veröffentlicht. Danach bekam es ein Eigenleben, und es wurde als original Berliner-Schnauze-Werk viel und gern nachgedruckt. Zuletzt 2017 im Band 387 in Die andere Bibliothek „Ich kieke, staune, wundre mir. . . - Berlinerische Gedichte von 1830 bis heute“, herausgegeben von Thilo Bock, Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki.

Doch es ist anzunehmen, dass hinter dem Pseudonym Jean de Bourgeois einer der Herausgeber des Almanaches von 1925 selber steckt: Der Dichter und Kulturphilosoph Carl Einstein.

Carl Einstein, eigentlich Karl Einstein, geboren am 26. April 1885 in Neuwied; gestorben am 5. Juli 1940 in Boeil-Bezing in Frankreich nahe der spanischen Grenze, Kunsthistoriker und Schriftsteller.

Einstein war mit dem Dichter und Kritiker Ludwig Rubiner seit der Universitätszeit befreundet, um 1910 machte ihn Franz Blei mit Kurt Hiller und Franz Pfemfert bekannt. Einstein veröffentlichte seine erste Kunstkritik in dem von Pfemfert betreuten Demokraten (1910), theoretische und literarische Texte erschienen seit 1912 regelmäßig in der berühmten politisch-expressionistischen Zeitschrift Pfemferts, der Aktion. Der Roman Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders (1912) löste eine kleine philosophisch-literarische Sensation aus (akausale „absolute Prosa“). Parallel zur literarischen Arbeit verfasste er zahlreiche kunstwissenschaftliche Studien.

Nach einigen Reisen durch Italien zog Einstein 1928 nach Paris. 1932 heiratete Einstein die Französin Lyda Guévrékian. Nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges ging er im Sommer 1936 nach Barcelona, seine Frau folgte ihm. Nach dem Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg floh Einstein 1939 nach Paris. Einstein und seine zweite Frau kamen für eine Weile bei den Leiris unter. Als deutscher Staatsangehöriger im Frühjahr 1940 bei Bordeaux interniert und im Juni entlassen, nahm er sich nach der Niederlage Frankreichs das Leben. (Wiki)

Lili Grün: Man kann so tun. . . / Einzelhaftpsychose

 



Man kann so tun. . .

Man kann mit unerhörter Energie sich in die Arbeit stürzen,
Denn Arbeit ist, wie jeder weiß,
Die beste Medizin.
Man kann mit ungeheuer klugen Mienen sprechen:
Es gibt wahrhaftig wichtigeres als ihn.

Man kann stundenlang Gespräche führen
Mit Leuten, die uns fremd sind und egal,
Man kann mit einem halben Dutzend Männern kokettieren,
Zuguterletzt ist alles peinlich und fatal.

Man kann den Mund an fremde Lippen pressen,
Man kann versuchen in den Armen eines andren zu vergessen.
Das Resultat ist leider bloß, dass man sich doch an ihn erinnern muss,
Denn nichts ist schlimmer für gebrochene Herzen,
als ein fremder Kuss.

Man kann sich selber auf die Schulter klopfen
Und zu sich sagen: „Na siehst du, Kind, es geht ganz gut,
Was kann uns schließlich viel passieren
Wenn wir nur etwas nicht verlieren
Und das ist der Verstand und noch ein bisschen Mut.“

Man kann so tun, als ob schon alles ganz in Ordnung wäre,
Nur eines stört, und das ist, dass man Nachts nicht schlafen kann,
Und dass man weinen muss, so schrecklich weinen,
Als gäb es auf der ganzen weiten Welt nur einen,
Nur den Einen!

Lili Grün, aus: Der Tag, Wien 16. Juni 1937


Einzelhaftpsychose


Ich weiß nicht mehr, wie meine Stimme klingt,
Ich glaub, ich habe seit Tagen nicht gesprochen.
Ob man sich etwas aus der Zeitung liest?
„In Neukölln hat einer seine Frau erstochen - -“
Ach nein, es ist schon besser, wenn man etwas singt.

Ich lege fest meine beiden Arme um mich
Und sage ins dunkle Zimmer: Ich liebe dich -
Weißt du, es war an einem Sonntagnachmittag wie heut,
Da war ich ganz allein - und ich tat mir so leid -
Doch jetzt ist alles gut, denn jetzt bist du da -
Und du bist so gut und du bist so nah. . .

Ich warte, ob drauf niemand was sagen will,
Aber im Zimmer ist´s immer noch still,
Und ich höre keinen.
Da leg ich meine beiden Hände vors Gesicht
Und kann endlich weinen. . .

Lili Grün, aus der Zeitschrift Das Leben, Oktober 1930, das Foto wurde dem Gedicht vorangestellt.

Lili Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern ging sie Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo sie 1931 zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der Künstlerszene ein literarisch-politisches Kabarett eröffnete. Zurück in Wien verarbeitete sie ihre Berlin-Erlebnisse in ihrem Roman "Alles ist Jazz", der erstmals 1933 unter dem Titel "Herz über Bord" im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Mit der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und am 1. Juni 1942 mit anderen Opfern, darunter die Dichterin Alma Johanna Koenig, im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.

Sonntag, 2. Juli 2023

Nadja Strasser: Die Einsame

 



Die Einsame

Ich habe mich nach Dir den langen Tag gesehnt - und Du? . . .
Hast Du auch träumend  -  wachend  -  bang gehorcht
wie die Sekunden rannen
eine nach der andern, müden Tropfen gleich? . . .
Spannten sich auch Deine Arme zuckend in der Luft?
                                  und bebten Deine Lippen
den Schatten anderer Lippen suchend?
Fühltest Du, wie Deine Nerven riefen: komm, ach komm!
Saßest Du, die Augen müd geschlossen,
im weichen Lehnstuhl  -  wartend  -  wartend  -
schauernd bei jedem leisen Klang . . .
Und hörtest Du wie Deine Sinne rauschten  -
gleich ferner Meeresbrandung  -
so tief, so weit. . .

Ich sehne mich nach Dir, wie sich der heiße Tag
nach Abendkühle sehnt  -
 -  und Du?. . .

Nadja Strasser, aus: Die Aktion, Heft 30, 12. Juli 1913

Nadja Strasser, geboren als Noema Ramm am 25. September 1871 in Starodub, Russisches Kaiserreich; gestorben am 19. August 1955 in Berlin, deutsch-russische Feministin, Schriftstellerin und Übersetzerin.

Das Bild ist von William McGregor Paxton (1869 - 1941)

Peter Baum: Wenn oft ich staune

 



Wenn oft ich staune

Wenn oft ich staune, daß ich nicht
Wie jener Baum im Winde bebe,
Daß selbst ich Stirn und Arme hebe
Und wandle wie das Sonnenlicht -

Dann ist ein Lachen über mir,
Und staunend fühl ich, was mich biegt
Und auf und nieder wiegt
Das helle Lachen über mir.

Peter Baum, aus: Aus seinen Werken, in Die weißen Blätter, Juli 1916, anlässlich seines Todes am 6. Juni 1916

Peter Baum (* 30. September 1869 in Elberfeld; † 6. Juni 1916 bei Keckau/Riga)

In Berlin gehörte er von 1892 bis zur Auflösung des Dichtervereins 1898 dem „Tunnel über der Spree“ an. Seit 1898 stand Baum in Verbindung zum Autorenkreis um Peter Hille. Eine Freundschaft verband ihn mit Herwarth Walden, an dessen Zeitschrift „Der Sturm“ er mitwirkte. Baum war Mitglied der lebensreformerischen Vereinigung „Die Kommenden“ und stand der „Neuen Gemeinschaft“ nahe. Er galt als engster Vertrauter von Else Lasker-Schüler. Nach der Scheidung seiner ersten Ehe mit Johanna Mathilde Stivarius im Jahre 1913 war er mit der Künstlerin Jenny Boese verheiratet. Peter Baum, der sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges als Freiwilliger gemeldet hatte, „fiel“ 1916 im Baltikum.

Das Bild ist von Julius Sergius von Klever (1850 - 1924)