Sonntag, 30. November 2014

Erich Mühsam - Bohème (Auszug)


Gefunden im Skulpturenpark Bremen Gröpelingen
Bohème


Nur mit dem Künstler gerät der Spießer in die Brüche. Ich will hier bemerken, daß ich unter „Künstlern“ nur solche verstanden wissen will, die ihre Kunst nicht zum Gewerbe erniedrigen, die es also unter allen Umständen ablehnen, ohne künstlerischen Antrieb zu produzieren. Dagegen gehören zu den Künstlern, die ich als Outsider der Gesellschaft behandle, auch solche, die ohne künstlerisch überhaupt produktiv zu sein, in allen Lebensäußerungen von künstlerischen Impulsen geleitet werden.

Hier sind Menschen, die die gesellschaftliche Nutzarbeit verweigern, die in ihrem Gehaben vielfach die Schranken des philiströsen Horizonts durchbrechen, denen man aber doch nicht beikommen kann, weil hier und da ein Dichter, ein Maler, ein Bildhauer, ein Komponist darunter ist, den Autoritäten anerkennen  -  auf den man seine Kulturfreundlichkeit loslassen kann, in den man ihn feiert und verhungern läßt. Den Künstlern gegenüber tritt die bleiche Angst des Philisters vor dem Außergewöhnlichen am jammervollsten in die Erscheinung. Dieses Hosenschlottern von Respekt und Furchtsamkeit ist nämlich nicht nur der Ausdruck der Besorgtheit um das korrekte Benehmen der anderen, sondern hier wirkt auch ein instinktives Gefühl für die kritische Überlegenheit des Künstlers mit, die die Nichtigkeit des Philisters durchschauen könnte.

So hilft denn die Gesellschaftsstütze dadurch, daß sie dieser Art Künstlern einen Freibrief für unkonventionelle Schaustellungen ausstellt und sie unter einen Sammelbegriff registriert: Bohème. Da aber dem braven Mann des besitzenden Bürgerstandes jede künstlerische Betätigung, weil brotlos, verächtlich erscheint und er auf der anderen Seite doch ganz gern einmal so ein Monstrum um sich sieht  -  nur aus der eigenen Familie darfs keiner sein; der würde schonungslos verstoßen werden  -, so dünkt ihn in seiner Unterscheidungsunfähigkeit bald jeder pinselnde Millionärssprößling als „Bohémien“  (. . . )

Was in Wahrheit den Bohémien ausmacht, ist die radikale Skepsis in der Weltbetrachtung, die gründliche Negation aller konventionellen Werte, das nihilistische Temperament, wie es etwa in Turgenjews „Väter und Söhne“ zum Ausdruck kommt, und wie es Peter Kropotkin als das Charakteristikum der russischen Nihilisten in den „Memoiren eines Revolutionärs“ schildert.

Gewiß offenbart sich dieses Temperament, das alle Anpassung an die uniformierte Lebensart des Philisters fanatisch perhorresziert, äußerlich in der Methode, die der Bohémien wählt, um sein eigenes Ich gegen die Masseninstinkte der Gesellschaft durchzusetzen. Immer wird der Bohémien ein Sonderling sein, und schon deshalb wäre es lächerlich, ein Schema für die Lebensweise der Bohème aufzeigen zu wollen. Ganz allgemein läßt sich über die Anpackung des Lebens seitens des Bohémiens kaum mehr sagen, als was ich früher einmal in der Broschüre („Ascona  -  Locarno 1905) so ausgedrückt habe: ein Bohémien ist ein Mensch, „der aus der großen Verzweiflung heraus, mit der Masse der Mitmenschen innerlich nie Fühlung gewinnen zu können  -  und diese Verzweiflung ist die eigentliche Künstlernot  -,  drauf losgeht ins Leben, mit dem Zufall experimentiert, mit dem Augenblick Fangball spielt und der allzeit gegenwärtigen Ewigkeit sich verschwistert. „

Die Verzweiflung über die Unüberbrückbarkeit der Kluft zwischen sich und der Masse, die Wut gegen den vertrottelten Konventionsdrill der Gesellschaft mag natürlich den Bohémien oft genug zum bewußten Auftrotzen gegen das Gewöhnliche verführen, das sich in der brutal zur Schau getragenen Unterstreichung des Anderseins äußert. Den Schluß, den Julius Bub in seiner Arbeit über die Berliner Bohème zieht, indem er den Bohémien „asozial“ nennt, halte ich für falsch. Im Gegenteil wird die schroffe Ablehnung der bestehenden Zustände mit allen ihren Ausdrucksformen in den allermeisten Fällen mit der sehr sozialen Sehnsucht nach einer idealen Menschheitskultur verbunden sein.

Sehr verdienstvoll ist dagegen die Parallele, die Bab zwischen der Bohème und dem Anarchismus zieht. Der Haß gegen alle zentralistischen Organisationen, der den Anarchismus zugrunde liegt, die antipolitische Tendenz des Anarchismus und das anarchistische Prinzip der sozialen Selbsthilfe sind wesentliche Eigenschaften der Bohèmenaturen. Daher stammt denn auch das innige Solidaritätsgefühl zum sogenannten fünften Stande, zum Lumpenproletariat, das fast jedem Bohémien eigen ist.

Es ist die selbe Sehnsucht, die die Ausgestoßenen der Gesellschaft verbindet, seien sie nun ausgestoßen von der kaltherzigen Brutalität des Philistertums, oder seien sie Verworfene aus eigener, vom Temperament diktierter Machtvollkommenheit. Die Mitmenschen, die mit lachendem Munde und weinendem Herzen die Kaschemmen und Bordells, die Herbergen der Landstraßen und die Wärmehallen der Großstadt bevölkern, der Janhagel und Mob, von dem selbst die patentierte Vertretung des sogenannten Proletariats weit abrückt  -  sie sind die eigenen Verwandten der gutmütig belächelten, als Folie philistösen Größenwahns spöttisch geduldeten Künstlerschaft, die in ihrer verzweifelten Verlassenheit mit der Sehnsucht eines erhabenen Zukunftsideals die Welt befruchtet.

Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler  -  das ist die Bohème, die einer neuen Kultur die Wege weist. 

Veröffentlicht 30. April 1908 in der Zeitschrift "Die Fackel"

Erich Mühsam (6. 4. 1878 - 10. 7. 1934), Dichter, Anarchist, Suchender mit kindlichem Herzen, Mitinitiator der Münchner Räterepublik, dafür von den Nazis gehasst und schließlich im KZ Oranienburg ermordet.

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