Sonntag, 31. Mai 2020

Lili Grün: Elegie bei einer Tasse Mocca




Elegie bei einer Tasse Mocca

Mein letzter Freund war ein Jurist.
Ich bin seit dieser Zeit gegen Juristen.
Juristen sind alle falsch, herzlos und bös,
Ich kann dieses Wort gar nicht hören, es macht mich
nervös.
Darum wünsch‘ ich mir zum nächsten Verehrer
Beispielsweise einen Volksschullehrer.
Ein Mann, der den ganzen Tag kleine Kinder unter-
richtet,
Muß doch, nebst Verstand und anderen Gaben,
So etwas wie eine Seele haben.
Und ich bin so scharf auf Seele!

Jedoch für Stimmung und Poesie
Wäre die einfachste Lösung ja die:
Man könnte einen Landpastor bekommen.
Aber die Leute sagen, es wird so schwer gehen,
Und ich muß ja selbst gestehen:
Durch meinen vergangenen Juristen
Habe ich so wenig Umgang mit Christen.
Und wenn man bedenkt, wie selten sich so ein Landpastor
Ins Romanische Café verirrt,
Muß man zugeben, daß es einigermaßen schwer sein
wird!

Aus: Lili Grün - Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten, gesammelt, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Anke Heimberg, AvivA Verlag, Berlin, 2014

Lili Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern ging sie Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo sie 1931 zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der Künstlerszene ein literarisch-politisches Kabarett eröffnete. Zurück in Wien verarbeitete sie ihre Berlin-Erlebnisse in ihrem Roman "Alles ist Jazz", der erstmals 1933 unter dem Titel "Herz über Bord" im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Mit der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und am 1. Juni 1942 mit anderen Opfern, darunter die Dichterin Alma Johanna Koenig, im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.

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