Freitag, 30. Oktober 2015

Ernst Stadler - Botschaft - Aufbruch



Am 30. 10. 1914 starb der aus dem Elsass stammende deutschsprachige Dichter bei Ypern. Er wurde eines der vielen Opfer unter den Lyrikern des Expressionismus, die im ersten Weltkrieg „fielen“.

Seine Gedichtsammlung „Der Aufbruch“ von 1914 war der Höhepunkt seines kurzen Schaffens und sein bekanntestes Werk. Er war mit René Schickele befreundet.

Botschaft

Du sollst wieder fühlen, daß alle stark und jungen Kräfte dich umschweifen,
Daß nichts stille steht, daß Gold des Himmels um dich kreist und Sterne dich umwehn,
Daß Sonne und Abend niederfällt und Winde über blaue Meeressteppen gehn,
Du sollst durch Sturz und Bruch der Wolken wilder in die hellgestürmten Himmel greifen.

Meintest du, die sanften Hafenlichter könnten deine Segel halten,
Die sich blähen wie junge Brüste, ungebärdig drängend unter dünner Linnenhut?
Horch, im Dunkel, geisterhafte Liebesstimme, strömt und lallt dein Blut –
Und du wolltest deine Hände müde zur Ergebung falten?

Fühle: Licht und Regen deines Traumes sind zergangen,
Welt ist aufgerissen, Abgrund zieht und Himmelsbläue loht,
Sturm ist los und weht dein Herz in schmelzendes Umfangen,
Bis es grenzenlos zusammensinkt im Schrei von Lust und Glück und Tod.


Der Aufbruch Die Flucht - Betörung

Nun bist du, Seele, wieder deinem Traum
Und deiner Sehnsucht selig hingegeben.
In holdem Feuer glühend fühlst du kaum,
Daß Schatten alle Bilder sind, die um dich leben.

Denn nächtelang war deine Kammer leer.
Nun grüßen dich, wie über Nacht die Zeichen
Des jungen Frühlings durch die Fenster her,
Die neuen Schauer, die durch deine Seele streichen.

Und weißt doch: niemals wird Erfüllung sein
Den Schwachen, die ihr Blut dem Traum verpfänden,
Und höhnend schlägt das Schicksal Krug und Wein
Den ewig Dürstenden aus hochgehobnen Händen.


Der Aufbruch Die Flucht - Ende

Nur eines noch: viel Stille um sich her wie weiche Decken schlagen,
Irgendwo im Alltag versinken, in Gewöhnlichkeit, seine Sehnsucht in die Enge bürgerlicher Stuben tragen,
Hingebückt, ins Dunkel gekniet, nicht anders sein wollen, geschränkt und gestillt, von Tag und Nacht überblüht, heimgekehrt von Reisen
Ins Metaphysische – Licht sanfter Augen über sich, weit, tief ins Herz geglänzt, den Rest von irrem Himmelsdurst zu speisen –

Kühlung Wehendes, Musik vieler gewöhnlicher Stimmen, die sich so wie Wurzeln stiller Birken stark ins Blut dir schlagen,
Vorbei die umtaumelten Fanfaren, die in Abenteuer und Ermattung tragen,
Morgens erwachen, seine Arbeit wissen, sein Tagewerk, festbezirkt, stumm aller Lockung, erblindet allem, was berauscht und trunken macht,
Keine Ausflüge mehr ins Wolkige, nur im Nächsten noch sich finden, einfach wie ein Kind, das weint und lacht,

Aus seinen Träumen fliehen, Helle auf sich richten, jedem Kleinsten sich verweben,
Aufgefrischt wie vom Bad, ins Leben eingeblüht, dunkel dem großen Dasein hingegeben.


Der Aufbruch Die Flucht - Reinigung

Lösche alle deine Tag’ und Nächte aus!
Räume alle fremden Bilder fort aus deinem Haus!
Laß Regendunkel über deine Schollen niedergehn!
Lausche: dein Blut will klingend in dir auferstehn!
Fühlst du: schon schwemmt die starke Flut dich neu und rein,
Schon bist du selig in dir selbst allein
Und wie mit Auferstehungslicht umhangen –
Hörst du: schon ist die Erde um dich leer und weit
Und deine Seele atemlose Trunkenheit,
Die Morgenstimme deines Gottes zu umfangen.


Der Aufbruch Die Rast - Herrad

Welt reichte nur vom kleinen Garten, drin die Dahlien blühten, bis zur Zelle
Und durch die Gänge nach dem Hof und früh und Abends zur Kapelle’
Aber unter mir war Ebene, ins Grün versenkt, mit vielen Kirchen und weiß blühenden Obstbäumen,
Hingedrängten Dörfern, weit ins Land gerückt, bis übern Rhein, wo wieder blaue Berge sie umsäumen.
An ganz stillen Nachmittagen meinte man die Stimmen von den Straßen heraufwehen zu hören, und Abends kam Geläute,
Das hoch den blau ziehenden Rauch der Kamine überflog und mich in meinem Nachsinnen erfreute.

Wenn dann die Nacht herabsank und über meinem Fenster die Sterne erglommen,
War eine fremde Welt aus Büchern auf mich hergesenkt und hat mich hingenommen.
Ich las von Torheit dieser Welt, Bedrängnis, Späßen, Trug und Leiden,
Fromme Heiligengeschichten, grausenvoll und lieblich, und die alte Weisheit der Heiden.
Sinnen und Suchen vieler Menschenseelen war vor meine Augen hingestellt,
Und Wunder der Schöpfung und Leben, das ich liebte, und die Herrlichkeit der Welt.

Und ich beschloß, all das Krause, das ich seit so viel Jahren
Aus Büchern und Wald und Menschenherzen und einsamen Stunden erfahren,
Alles Gute, das ich in diesem Erdenleben empfangen,
Treu und künstlich in Bild und Schrift zu bewahren und einzufangen.
Später, wenn die Augen schwächer würden, in den alten Tagen,
Würd ich in meiner Zelle sitzen und übers Elsaß hinblicken und mein Buch aufschlagen,
Und meiner Seele sprängen wie am Heiligenquell im Wald den Blinden Wunderbronnen,
Und still erging ich mich und lächelnd in dem Garten meiner Wonnen.

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