Montag, 18. Februar 2019

Hilde Meisel: Friede / Sprecht nicht von Mut / Hamburg 1935





Friede

Mit viereinhalb Jahren war ich der Ansicht,
daß Sonntags die Sonne am hellsten scheint,
und mit dem Wort „Sonntag“ hat sich in meinem Kopfe
stets das Wort „Friede“ vereint.

Als Mutter dann sagte, der Krieg sei zu Ende,
schien die Sonne, und ich war froh,
ich wußte genau, auch an Wochentagen
schiene künftig die Sonne ebenso.

Die Enttäuschung fing mit dem ersten Regen,
der nach dem 11. November fiel, an.
Was Friede sonst hieß, konnt’ ich nicht wissen,
weil, als ich zur Welt kam, der Krieg g’rad begann.

Verändert hat sich zuerst nicht viel:
Vorm Bäckerladen standen wir Schlange.
Im Winter herrschte Kohlennot,
und auf Vaters Heimkehr harrten wir lange.

Die Bahnen fuhren zuweilen nicht,
und in den Straßen wurde geschossen.
Es ist, seit der Friede begann,
nicht Regen nur, sondern auch Blut geflossen.

So verstand ich nie, was Friede hieß,
und vergaß, nach dem Sinn des Wortes zu fragen.
Die Menschen hatten im Krieg gestöhnt
Und hörten im Frieden nicht auf zu klagen.

Ich lernte, was Arbeitslosigkeit hieß,
und Putschversuche und Straßenschlachten,
was Wirtschaftskrise hieß, wußte ich gut,
und sah, wie die Nazis die Straße frei machten.

Was Lebensraum heißt, das hab’ ich erfahren,
und was ein Staatsfeind war, wußte man schon;
ich lernte Kanonen statt Butter kennen,
Gestapo, KZ und Emigration.

Was Lebensraum heißt, das hab’ ich erfahren,
und Friedensbereitschaft, Mobilisation,
feindliche Ausländer, Tribunale,
Bombenterror und Deportation.

Was Friede hieß, braucht’ ich nun nicht mehr zu fragen,
doch manchmal, wenn grau der Himmel weint,
denk’ ich zurück an das Kind, das dachte,
daß im Frieden immer die Sonne scheint.



Aus: Lehnert, Hans und Hilde Meisel: Gedichte, Hamburg 1950 (postum)




Sprecht nicht von Mut

Sprecht nicht von Mut,
o sprecht mir nicht von Helden
und Heldentum!
Ich weiß, es gibt auch Helden,
und ihnen gebührt der Ruhm.
Aber bei mir war es anders.
Feiert mich darum nicht so sehr –
Das Leben ist manchmal so drückend,
so beängstigend schwer,
dass man mehr Mut braucht, zu leben,
als für einen großen Zweck
sich selbst hinzugeben
und ist dann über alles hinweg.
So lernt man den Tod verachten,
und das zu lernen, ist gut.
Doch die es dazu brachten,
beweisen erst ihren Mut,
wenn sie dennoch weiterleben,
Jahre – jahrzehntelang.
Feiert den nicht als Helden,
der nicht das Leben bezwang.



Hilde Meisel, 1914 - 1945: „Sprecht nicht von Mut“, unbekanntes Entstehungsdatum, erschienen 1975 in „Die Steine reden“, Hrsg. Erich Fein Wien : Europa-Verlag, 1975
,
1984 in „Das Gewissen steht auf“
und 2007 in der Anthologie „In welcher Sprache träumen Sie?“



Hamburg 1935

Von dieser Brüstung werde ich gleich springen.
Gleich wird mein Körper auf dem Hof zerschellen.
Ich höre noch den Bettler drüben singen,
Ich höre einen Hund ein Pferd anbellen.
Bleich werde ich gestorben sein.

Ich sterbe mitten im Gewühl der Stadt,
und nicht im Kämmerlein mit Veronal,
denn wer den Todessprung verschuldet hat,
wer schuldig ist an meiner Lebensqual,
soll ihren schreckensvollen Ausgang sehn.

Zwei Jahre lebte ich als Emigrant
Und konnte Frau und Kinder nicht ernähren,
und sehnte mich nach meinem Heimatland.
Schliesslich entschloss ich mich, zurückzukehren,
verzweifelt, und verängstigt, und verzagt.

Ein alter Jude, schwach und hoffnungslos,
Kehrt' ich zurück ins Deutschland der Barbaren.
Ich wollte arbeiten. Ich wollte bloss
den Kindern, die so lange hungrig waren,
ein wenig Brot und Kleidung noch verschaffen.

Ihr liesset es nicht zu. Ihr seid so roh!
Ach, wüsstet ihr, wie meine Kinder froren,
als ich von ihnen ging. Sie weinten so . . .
Doch ihr habt eure Seelen längst verloren,
seit euch das Hitlerreich die Freiheit nahm.

Er ist so mächtig! Kann ich meine Kinder schützen
vor Banden, die sich frech Regierung nennen?
Was kann ich alter Jud den kleinen nützen?
Vielleicht wenn sie mich nicht mehr kennen,
wird ihnen irgendwo ein Tor zur Welt.

Drum geh ich fort. Doch geh ich nicht im Stillen.
SA-Mann dort: in einem Augenblick
hörst du die aufgeschreckte Masse brüllen:
"Ein Mann fiel, und er brach sich das Genick.
Und dieser Mann – es war ein armer Jude."

J U D E

Man drängt um seinen Leichnam. Zieht den Hut.
Doch wenn du kommst, weicht angstvoll man zurück.
Dein braunes Hemd, es riecht so stark nach Blut -
und aus dem toten Körper saugt ein Blick
anklagend sich an deinem Auge fest.

Beklommen starrst du auf den toten Mann,
siehst Kinder um den alten Juden weinen,
und selbst die arischdeutsche Marktfrau kann,
so sehr sie sich bemüht, nicht teilnahmslos erscheinen -
Barsch forderst du zum Weitergehen auf.

Man geht. Man wendet sich noch einmal um -
ein letzter Blick – birgt er nicht ein Verstehen?
Birgt er die Frage nicht an diese Zeit: Warum
müssen wir über dieses Juden Leiche gehen?
Und das Geständnis: Unser ist die Schuld?

Ich bin ein Jude. Und ich sterbe hier,
damit ihr denken möget an das Leben
der Abertausend, über die, gleich mir,
ihr euer Todesurteil abgegeben.
Wer seid ihr, dass ihr unsere Richter seid?



Um sich dem physischen und psychischem Terror zu entziehen, nehmen sich damals rund 10 000 Juden in Deutschland das Leben, allein in Hamburg mindestens 319. Einer davon ist Berthold Walter. Sein Sprung in den Lichthof der Finanzbehörde ist ein stummer Protest. Hilde Meisel schreibt noch 1935 ein Gedicht über seinen Tod.



Hilde Meisel, geboren am 31. Juli 1914 in Wien. Aufgewachsen in Berlin veröffentlichte sie Artikel gegen die NS-Diktatur in Deutschland. In Zeitschriften, Büchern und Rundfunksendungen rief sie im englischen Exil, unter dem Pseudonym Hilda Monte, zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus auf.

Am 17. April 1945 wurde sie auf dem Rückweg von Österreich in die Schweiz in der Nähe von Feldkirch, an der „grünen Grenze“ zu Liechtenstein, von einem Grenzwachbeamten angehalten und bei einem anschließenden Fluchtversuch angeschossen. Sie starb unmittelbar an ihrer Verletzung.








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