Montag, 4. Februar 2019

Hugo Salus: Abendlied / Altes Gettholiedchen





Abendlied

Nun schweigt das laute Treiben,
Und still wird Dorf und Rain,
In allen Fensterscheiben
Verglüht der Sonnenschein.

Die Abendglocken freuen
Sich hoch im Gotteshaus,
Wie Weihrauchfässer streuen
Sie ihren Segen aus.

Die Wellen rauschen leise,
Schlaftrunken träumt der Fluß;
Die Blätter tauschen leise
Den letzten Schlummerkuß.

Die Abendenglein zünden
Schon Stern und Sternlein an,
Auf lauen Abendwinden
Schwebt mild die Nacht heran ..



Altes Gettholiedchen

Estherl, mein Schwesterl, was ist mir gescheh'n!
Ein Judenkind soll unter Christen nicht geh'n!
Die Mutter hat recht; aber jetzt ist's zu spät,
Sie hab'n mich erkannt und gehöhnt und geschmäht
Und gezerrt am Haar und das Kleid zerrissen
Und Unflat und Steine nach mir geschmissen,
Estherl!

Estherl, mein Schwesterl, da ist es gescheh'n,
Da hab' ich den Ritter kommen geseh'n,
Mit dem Schwert an der Seite, mit dem Kreuz auf der Brust,
Und ich hab' nur immer ihn anschau'n gemußt,
Und sein Blick hat die Christen von dannen getrieben,
Und er ist bis ans Tor bei mir geblieben,
Estherl!

Estherl, mein Schwesterl, was ist mir gescheh'n?
Ich werd' wieder, ich weiß, in die Christenstadt geh'n,
Und wenn sie mich stoßen, was liegt mir daran,
Wenn ich ihn nur noch einmal anschau'n kann,
Nur einmal! Dann sollen sie mich erschlagen.
Nur der Mutter, hörst du, darfst du nichts sagen,
Estherl!





Hugo Salus, geboren am 3. August 1866 in Böhmisch-Leipa; gestorben am 4. Februar 1929 in Prag.
  
„Salus ist den meisten Lesern besser aus Beiträgen für die `Jugend` und andre Zeitschriften bekannt als aus seinen Gedichtsammlungen. Das ist schade, denn gerade seine schönsten Gedichte eignen sich nicht für Zeitschriften, und die sich dafür eignen, verzerren sein dichterisches Bild. Er  ist ein Sänger und ein Bildner, und die Beimischung des goldigen Humors gibt keinen schlechten Dreiklang. . .“

Karl Kraus

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