Zum Gedenken an den 9. November 1938: Euch fehlt die Phantasie
Daß man euch durch die Straßen jagen wird,
Daß man eure Schränke durchwühlen wird,
Daß man euer Telephon überwachen wird,
Daß man euch Titel und Namen nehmen wird,
Daß eure Freunde euch nicht mehr grüßen werden,
Daß eure Frauen euch nicht mehr lieben werden,
Daß eure Kinder euch nicht mehr achten werden,
Daß eure Diener euch nicht mehr dienen werden;
Euch fehlt die Phantasie, was wahr wird, zu erinnern,
Euch fehlt die Kraft, was wirklich wird, zu glauben,
Euch fehlt der Mut, was klar ist, zu erkennen,
Euch fehlt das Wort, und, was ihr wißt, zu sagen.
Daß man euch hinter Stacheldraht sperren wird,
Daß man euch ins Gesicht speien wird,
Daß man eure Bücher verbrennen wird,
Daß man euer Werk verleugnen wird,
Daß man euch aus dem Lande treiben wird,
Während Glocken läuten und Schafe weiden,
Während Züge pünktlich einlaufen und abfahren,
Während der Bäcker jeden Morgen das Brot bringt,
Ohne daß eine Hand sich erhebt,
Ohne daß ein Sturm sich zusammenzieht,
Ohne daß eine Stimme aufschreit,
Ohne daß eine Träne sich loslöst,
Daß ihr vergessen sein werdet, als wäret ihr nie gewesen,
Daß ihr gekommen sein werdet und davongegangen,
Daß ihr verloren sein werdet und verschollen,
Daß der Tag ohne euch dämmert und dunkeln wie je:
Euch fehlt die Phantasie, um was ihr tut, zu fürchten,
Euch ist die Macht geraubt, euch zu erschrecken,
Euch ist der Ton versagt, um aufzustöhnen,
Euch ist das Glück versagt, vor Scham zu weinen.
Martin Gumpert (1934); aus: „An den Wind geschrieben - Lyrik der Freiheit 1933 - 1945“, gesammelt, ausgewählt und eingeleitet von Manfred Schlösser, Humanistische Schriftenreihe Agora, Darmstadt 1961
Martin Gumpert, geboren 1897 in Berlin, Arzt und Schriftsteller, emigrierte 1936 in die USA, wo er 1955 in New York starb.
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