Samstag, 6. Dezember 2025

Max Zodykow: Einem Proletariermädchen, Den Tag. . .

 



Einem Proletariermädchen

Weißt du noch, wie du dich an mich schmiegtest
Und deine Not mir vertrautest?
Wie du auf meinem Knie dich wiegtest
Und zag an deiner Zukunft bautest?

Weißt du noch , wie wir im dunklen Zimmer,
Gedämpft und voll Vorsicht, dein Leben besprachen
Und in seltsam tönenden Schimmer
Worte des härtesten Grolls dir entbrachen?

Mich rührte deine Stimme, die leisen Worte
Schlugen so sonderbar an meine Seele.
Da war kein Gesicht, kein Atem, keine Kehle,
Da war nur ein Mund und waren Akkorde.

Und ich war das Ohr, die enge Pforte,
Durch die man zur Welt und zum Himmel sich stiehlt.
Hunderte reden so . . . Alltagsworte -
Mir es aber den Atem verhielt;

Denn das ganze Leid und der ganze Mut
All der Millionen brach in mich ein.
Ich wurde durch dich ganz still und rein,
Mir selbst versöhnt und gut.


Den Tag. . .

Den Tag, an dem ich dir zu Füßen saß,
Und du mir weiße Schlingen um die Schläfen wandest,
Die ich, nicht fassend, was in ihnen ruht
Still hinnahm wie der Liebe lächelnd Los und Zeichen. . .

Den Tag, an dem ich inbrünstig erschlossen
Dir alle meine offnen Hüllen, tief und sehnend
Und grenzenlos zu kennen geben wollte. . .
Den Tag haben wir fremd und scheu verschwiegen.

Den Tag, der unser Leben in sich trug,
Erfuhren wir durch Monde erst und bittre Jahre.
Ein langes Leid hat quälend uns gekreuzt,
Bis wir erkoren, reif, uns selbst den Tag ersannen.

Max Zodykow, aus: Stimme aus dem Dunkel, Eine Auswahl von Gedichten und Prosa mit einer Einführung von Stefan Zweig, Felix Lehmann Verlag G.m.b.H., Charlottenburg. Ohne Jahr, wahrscheinlich 1929

Max Zodykow, geboren als Moses Zodykow (den Vornamen Max nutzte ab 1920 für seine Veröffentlichungen) am 12. Juli 1899 in Kaunas / Kowno, deportiert am 7. Dezember von Berlin nach Auschwitz, dort ermordet.

Er wurde blind geboren, nach anderer Aussage erblindete er im Alter von zwei Jahren. Seine Kindheit erlebte er in einer Welt, die wenig Verständnis für Blinde aufbrachte. Sie betrachtete ihn als Last und zeigte es ihm ständig.

Es gab aber auch Ausnahmen; an den Großvater und an ein Nachbarmädchen erinnerte er sich dankbar. Stefan Zweig schreibt im Vorwort zur einzigen Buchpublikation von Max Zodykow: „Seine Eltern flüchteten (…) aus Rußland, und weil sie arm sind, wollen sie nicht die Last eines blind geborenen Kindes in ein fremdes Land mitnehmen. So bleibt in einem jämmerlichen kleinen Dorfe bei der Großmutter ein kleiner blinder Junge zurück. Vollkommen vernachlässigt und verwahrlost von seiner Umgebung und abgeschlossen wie mit stählernen Mauern von der wirklichen Welt“ (Zodykow o. J., 4). Über seine Kindheit schrieb er im autobiographischen Romanfragment „Kindheit im Dunkel, die Geschichte eines Fremden“, das in Fortsetzungen in dem „Israelitischen Familienblatt“ 1933/34 erschien.

Stefan Zweig: „Einem Dienstmädchen dankt er, daß er im dreizehnten Jahre einige wenige Buchstaben abtasten kann, die er – welcher Dichter würde einen solchen Zug so genial erfinden? – von den vorspringenden Glasbuchstaben auf Sodawasserflaschen gelernt hat“

Max Zodykow schieb rückblickend: „Mit dreizehn Jahren in eine Blindenanstalt gekommen, habe ich nie eine Schule gekannt. Mit Heißhunger und Fleiß schlürfte ich in einem Jahr ein Pensum von acht Jahren in mich ein. Mein Erlerntes war nurmehr kaum erhascht und erjagt, als ich mit vierzehn Jahren in die Bürstenbinderei kam.“

Ab Mitte der zwanziger Jahre erscheinen in der Tagespresse einzelne Gedichte und Prosastücke sowie Besprechungen von Veranstaltungen, auf denen Zodykow selbst oder Künstler aus seinen Werken rezitierten. Über seine Heirat mit Bella Bergmann, die am 6. Januar 1902 in Frankfurt am Main geboren war und über ihr gemeinsames Leben schrieb er nichts. Vom März bis Dezember 1943 lebte das Ehepaar Zodykow illegal in einer Wohnküche im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg bei Bertha Cohn. Das Ehepaar Zodykow wurde am 7. Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert, und danach fehlt jede Nachricht. Quelle: 200 Jahre Blindenbildung in Deutschland (1806-2006), edition Bentheim, 2006, Würzburg

Das Foto zeigt Kinder in einem Blindenheim bei Übungen in der tastbaren Punktschrift, es stammt aus einem Artikel in Die Woche, Ausgabe 14 / 1901

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