Montag, 17. März 2025

Käthe Leichter: An meine Brüder in den Konzentrationslagern

 


An meine Brüder in den Konzentrationslagern

Bruder, stehst auch Du des Morgens frierend beim Appell
Wir stehen stumm in Zehnerreihen, im Osten wird es langsam hell,
Steil ragt der Wald, wir atmen die Luft in vollen Zügen,
Um Kräfte zu sammeln für den Tag, denn keiner von uns will unterliegen.
Da flammt’s im Osten seltsam auf, als stünde die Welt in Flammen,
Wir nehmen es als gutes Zeichen – bricht wirklich bald alles zusammen?

Und dann stehen wir wieder stumm, nur die Fäuste geballt,
Ich in Ravensbrück, du in Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald.
Bruder stehst auch Du des Tags mit der Schaufel in der Hand?
Wird es denn nicht Mittag, nimmt denn heut kein Ende der Sand?
Oder schleppst auch Du wie ich große, schwere Steine?
Schmerzt auch Dich der Rücken, brennen Dir Arme und Beine?
Sieh, Du bist doch Mann, bist gewohnt ans harte Schlagen,
Ich bin schwächer, und mein Leib hat Kinder schon getragen.
Wie denkst Du, Bruder, über sie, über unser Kinder Leben?
Werden Schläge und Strafblock stets als Ordnung darüber schweben?
Ach, schon geht es weiter – doch im Herzen Hoffnung und Halt,
Ich in Ravensbrück, Du in Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald.

Oh, Bruder, einmal kommt der Morgen, wo uns kein Appell mehr hält,
Wo weit offen die Tore, und vor uns liegt die große, freie Welt,
Und dann werden wir KZler auf der breiten Straße wandern,
Draußen stehn die Befreier, auf uns warten schon die andern,
Und wer uns sieht, sieht die Furchen, die das Leid uns ins Antlitz geschrieben,
Sieht Spuren von Körper- und Seelenqual, die uns als Mal geblieben.
Und wer uns sieht, sieht den Zorn, der hell in den Augen blitzt,
sieht den juchzenden Freiheitsjubel, der ganz unsere Herzen besitzt.
Und dann reihen wir uns ein in die letzte große Kolonne,
Dann heißt es zum letzten Mal „Vorwärts marsch“ –
doch dann führt der Weg zum Licht und zur Sonne.
Oh, Bruder, siehst Du gleich mir diesen Tag, Du mußt doch denken, er kommt bald-
Und dann ziehen wir, ich aus Ravensbrück, Du aus Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald.

Käthe Leichter (* 20. August 1895 als Marianne Katharina Pick in Wien; † 17. März 1942 in der NS-Tötungsanstalt Bernburg, Deutsches Reich) war eine österreichische Sozialwissenschaftlerin, sozialistische Gewerkschafterin und Gründerin und Leiterin des Frauenreferats der Wiener Arbeiterkammer.

Samstag, 8. Februar 2025

Hans Ostwald: Schicksenliebe / Ada Christen: Not

 




Schicksenliebe

Er fand sie beim Dorfe im Straßengraben:
Mädel, dich möchte ich zur Schickse haben!
Sie lachte.

Sie lachte laut und hängte sich an:
Ach, endlich habe auch ich einen Mann!
Und lachte.

Und lachte, als er ihr suchend gebot,
zu betteln um Geld, zu betteln um Brot.
Und lachte.

Er hat sie nach Rußland hinein verschleppt,
wo man wohl hängt, doch keinen köppt.
Sie lachte.

Sie lachte, als ihr das Tuch fortgenommen
und sie vor Kälte fast umgekommen.
Oh, lachte!

Oh - lachte, als er sie mit Füßen trat
und sie den letzten Atemzug tat.
Ja - lachte - - -

Hans Ostwald, aus: Lieder aus dem Rinnstein, gesammelt von Hans Ostwald, Karl Henckell & Co, Berlin 1903

Hans Otto August Ostwald, geboren am 31. Juli 1873 in Berlin; gestorben am 8. Februar 1940 ebendort), Journalist, Erzähler und Kulturhistoriker.

Nach einer Lehre als Goldschmied arbeitete er nur für kurze Zeit in diesem Beruf, bis er 1893 arbeitslos wurde. Danach vagabundierte er als wandernder Handwerksbursche für ungefähr 18 Monate durch Deutschland. Über seine Erlebnisse im Landstreichermilieu führte er ein Tagebuch, das er später, ermuntert durch Felix Holländer, zu dem Roman Vagabonden (später unter: Vagabunden. Ein autobiographischer Roman) umarbeitete.

Bedeutend für die Schaffung eines eigenständigen sozialen deutschen Chansons war die Sammlung der Lieder aus dem Rinnstein, in der die Ausgestoßenen der Gesellschaft mit ihren meist anonymen Liedern zu Wort kamen. Hier wurden Sprachschichten für die Lyrik erschlossen, die bisher auch in den Volksliedersammlungen nicht vertreten waren.

Lieder aus dem Rinnstein ist der Titel einer deutschsprachigen Lied- und Gedichtsammlung, die in drei Einzelbänden 1903, 1904, 1906 von Hans Ostwald herausgegeben wurde. Ein Auswahlband erschien 1920.

Die Textsammlung der Lieder aus dem Rinnstein beginnt mit der Zeit der Bauernkriege. Es folgen Gedichte von Schiller, Goethe, Heine, von damals bekannten Autoren wie Frank Wedekind, Karl Henckell, Peter Hille und anderen. Ebenso aber auch Texte von (damals weniger bekannten) jungen Talenten wie Else Lasker-Schüler: „…ich bin 1876 zu Elberfeld geboren. Mein Buch ‚Styx‘ (Gedichte) kam 1902 bei Axel Juncker, Berlin, heraus…“ und Erich Mühsam. Sein erstes veröffentlichtes Gedicht Amanda ist darin auch zu finden. Über ihn steht zu lesen: „…1902–1903 Redakteur des „Armen Teufel“ in Friedrichshagen. Lebt jetzt in Wilmersdorf … Ein Buch ist bisher noch nicht erschienen.“ Weitere heute weniger bekannte Autoren waren Margarete Beutler, Ada Christen und Martin Drescher.

Zu den „Liedern aus dem Rinnstein“ gehören weit mehr als nur Dirnenlieder, (so benannt nach Hans Ostwalds Buch Das Berliner Dirnentum, Leipzig 1905–1907). Es finden sich auch Liebeslieder, Lieder aus der Not und aus den unteren sozialen Klassen und gesellschaftlichen Randgruppen, Moritaten, im weitesten Sinne Naturalismus, Expressionismus und Verfemung. (Wiki)

Not

All euer girrendes Herzeleid
tut lange nicht so weh
wie Winterkälte im dünnen Kleid,
die bloßen Füße im Schnee.
All eure romantische Seelennot
schafft nicht so herbe Pein
wie ohne Dach und ohne Brot
sich betten auf einen Stein.

Ada Christen (1839 - 1901), aus: Lieder aus dem Rinnstein, gesammelt von Hans Ostwald, Karl Henckell & Co, Berlin 1903. Die Dichterin Ada Christen wusste, wovon sie schreibt, hatte sie doch selbst mehrmals im Leben bittere Not kennen lernen müssen.


Samstag, 25. Januar 2025

Lessie Sachs: Unzureichend

 


Unzureichend

Lass mich in Ruhe, Du bist kein junger Gott.
Ich muß mit Dir mich auseinandersetzen.
Du bist, das glaube mir, für mich zu flott.
Du wirst bald kühl; dann wirst Du mich verletzen.

Du bist sehr schön; sehr schillernd, glatt, gewandt,
Doch, leider Gottes, hast Du Deine Grenzen.
Für einen Abend warst Du interessant. -
Sei mir nicht bös´! Ich zieh´ die Konsequenzen. . .

Und folglich wirst Du mich nicht wiedersehn;
Ich mochte sonst Dich wirklich recht gut leiden;
Jedoch wer möchte über Glatteis gehn?
Solange man nicht muß - soll man´s vermeiden.

Aus: Lessie Sachs Collection 1, Leo Baeck Institute New York

Lessie Sachs, geboren am 5. September 1897 in Breslau, gestorben Anfang 1942 in New York City/ USA, Dichterin und Malerin.

Am 5. 9. 1897 wird die Dichterin Lessie Sachs in Breslau geboren. Sie besuchte zunächst die Kunstgewerbeschule in ihrer Heimatstadt Breslau, dann in München. Dort wird sie wegen pazifistischer Aktionen in der Zeit der Räterepublik vorübergehend inhaftier. Sie kehrt nach Breslau zurück und leitet dort ein Atelier für Seidenmalerei.

Ihre Gedichte und Prosatexte erscheinen in Zeitschriften wie dem Simplizissimus, Uhu und der Vossischen Zeitung, als auch in Anthologien. 1933 heiratet sie den 12 Jahre jüngeren Breslauer Pianisten Josef Wagner.

Im Dezember 1932 präsentiert Josef Wagner in Breslau seine Kompositionen zu Gedichten von Lessie Sachs.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kann Josef Wagner seinen Beruf nicht mehr ausüben; Gedichte von Lessie Sachs dürfen nicht mehr erscheinen. 1937 verlassen beide Deutschland und emigrieren nach Amerika.

Über die wenigen Jahre bis zu ihrem frühen Tod 1942 gibt es kaum biographische Hinweise. In den USA schreibt Lessie Sachs für die deutschsprachige jüdische Wochenzeitung Aufbau.
Lessie Sachs stirbt Anfang 1942 nach langjähriger Krankheit.

Zwei Jahre später veröffentlicht das von Friederike Zweig geleitete "Writers Service Center" posthum die Tag- und Nachtgedichte, eine kleine Auswahl aus ihrem lyrischen Werk.

Das Leo Baeck Institut (LBI) ist eine unabhängige Forschungs- und Dokumentationseinrichtung für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums mit drei Teilinstituten in Jerusalem, London und New York City mit Zweigstelle in Berlin. Es wurde 1955 von Hannah Arendt, Martin Buber, Siegfried Moses, Gershom Sholem, Ernst Simon und Robert Weltsch gegründet und setzt sich zum Ziel, deutsch-jüdische Geschichte und Kultur wissenschaftlich zu erforschen und ihr Erbe zu bewahren.

Das Bild „Der Mann“ ist von 1920 ist von Hugo Scheiber (1873 - 1950)

Mittwoch, 22. Januar 2025

Else Lasker-Schüler: Ballade

 



Ballade

Aus dem Sauerländischen

Er hat sich in ein verteufeltes Weib vergafft.
    In sing Schwester!

Wie ein lauerndes Katzentier
kauerte sie vor einer Tür
    und leckte am Geld seiner Schwielen.

Im Wirtshaus bei wildem Zechgelag´
saß er und sie und zechten am Tag
    mit rohen Gesellen.

Und aus dem roten, lodernden Saft
stieg er, ein Riese, aus zwergenhaft
    verkümmerten Gesellen.

Und ihm war, als blickte er meilenweit,
und sie schlürfte den Wahn seiner Trunkenheit
    und lachte!

Und eine Krone von Felsgestein
von golddurchadertem Felsgestein,
    wuchs ihm aus seinem Kopf.

Und die Säufer kreischten über den Spaß:
„Gott verdamm mich, ich bin der Santanas!“
    Und der Wein sprühte Feuer der Hölle.

Und die Stürme brausten wie Weltuntergang,
und die Bäume brannten am Bergeshang,
    es sang die Blutschande. . .

Und sie holten ihn um die Dämmerzeit,
und die Gassenkinder schrie´n vor Freud´
    und bewarfen ihn mit Unrat.

Seitdem spukt es in dieser Nacht,
und Geister erscheinen in dieser Nacht,
    und die frommen Leute beten. -

Sie schmückte mit Trauer ihren Leib,
und der reiche Schankwirt nahm sie zum Weib,
    gelockt vom Sumpf ihrer Tränen.

- Und mit der schweren Rotsucht im Blut
wankt um die stöhnende Dämmerglut
    gespenstisch durch die Gassen,

wie leidender Frevel,
wie das frevelnde Leid,
    überaltert dem lässigen Leben.

Und er sieht die Weiber so eigen an,
und sie fürchten sich vor dem Stillen Mann
    mit dem Totenkopf.

Else Lasker-Schüler, geboren am 11. Februar 1869 in Elberfeld, gestorben am 22. 1. 1945 in Jerusalem, aus: Lieder aus dem Rinnstein, gesammelt von Hans Ostwald, Karl Henckell & Co, Berlin 1903

Das Bild ist von Ernst Stoehr (1860 - 1917)

Sonntag, 19. Januar 2025

Gertrud Epstein: In fremder Stadt

 



In fremder Stadt

Dies lieb ich: In fremder Stadt zu gehn,
Menschen, Fenster, Häuser zu sehn,
Die nicht Schmerz, Enttäuschung, Erwartung für mich tragen,
Keine Tür düster, wo ich einst glaubte: Licht.
Keine Leere, wo ich glaubte: Quelle, Gesicht.
Museen, Dome. Zur Seite geht
Der Schließer. Sprache, die man nicht versteht.
Träumerisch, gut, tropft der fremde Laut,
Ein Altar dunkelt, ein Gottesmantel blaut.
Museen, Marmor, Thorwaldsen, Dante,
Mailand, Verona oder Kopenhagen,
„Plade“ oder „Pizza“, alle tragen
Weite, barmherzige Fremde im Gesicht.
Da: Leute mit bedrängtem Eigengesicht -
Gibt´s das hier auch? Konflikt, Bindung, Beruf -
Eine Treppe, die man mit Bangen besteigt?
Gesichter, die Glück oder Enttäuschung bergen?
Nähe, Nächstes in Stuben und Särgen - ?
Doch nicht für mich! Am Tischchen im Café,
Ganz vor, wo ich den Hafen überseh´,
Oder das Rathaus mit den Lurebläsern davor:
Kommt mir alles als gnädige Ferne vor.
Die Heimat, die irgend hinüberlangt
Ist fern; und wiegend erfüllt und verklärt.
Alles Distanz - der Fremde gütige Einsamkeit.
Eines Tages steht sein Schiff, ein Zug bereit.
Zwölf oder zwanzig Stunden, dann ist man da.
Menschen, Beruf, Hochbahn - alles wieder nah.
Gesichter, die Enttäuschung bringen -
Treppen, die man bedrängt besteigt.
Gesichter, die doch vielleicht Erfüllung klingen?
Aller Besitz, aller Verlust ist wieder bereit,
Alles Nähe, und - der Nähe Einsamkeit.

Gertrud Epstein, aus: Vossische Zeitung, 23. September 1932

Im „Buch der Erinnerung“ der ins Baltikum deportierten Juden sind unter den Berliner Deportierten nach Riga vom 19. Januar 1942 Gertrud Epstein verzeichnet, geboren am 24. August 1885, wohnhaft Uhlandstraße 60 (Wilmersdorf), sowie vom 25. Januar Margarete Eloesser, geboren am 13. Mai 1881, wohnhaft Marburger Straße 9a (Charlottenburg), Witwe des 1938 verstorbenen Berliner Germanisten und Journalisten Arthur Eloesser. Es waren die dritte und vierte Deportation

Als „schüchterne, dunkle, junge Frau“ beschreibt die Vossische Zeitung Gertrud Epstein 1928, als ihre Erzählung „Hiob“ im Rahmen der „Morgenfeier der Jugend“ in der Funkstunde übertragen wurde14 . Die Erzählung ist bereits 15 Jahre vorher erschienen, Gertrud Epstein 43 Jahre alt. Es ist ihr einziger bekannter Auftritt in der Öffentlichkeit. Weitere Buchveröffentlichungen nach „Hiob“ sind bisher nicht nachweisbar, auch kein Bild von ihr, Einzelheiten über ihr Leben nur sehr spärlich überliefert. Dass sie vom Judentum zum Christentum konvertiert sei, meldet das „literarische Echo“ in seiner Besprechung von Hiob 1913. Dass sie Kindergärtnerin ist, kann man dem Fragebogen zu ihren Vermögensverhältnissen entnehmen, den sie ein paar Tage vor ihrer Deportation am 2. Januar 1942 ausfüllen musste.

Was bleibt sind zwei Bücher mit Erzählungen, etwas mehr als 20 Texte und Gedichte in der Vossischen Zeitung und Andeutungen darüber, dass es mehr Texte geben muss, irgendwo in alten Zeitungen verborgen.

Das Bild ist von Hans Balutschek (1870 - 1935)

Mittwoch, 15. Januar 2025

Georg Heym: Die Ruhigen; Ernst Balcke: Sommertage noch im Herbst

 



Die Ruhigen


Ernst Balcke gewidmet


Ein altes Boot, das in dem stillen Hafen
Am Nachmittag an seiner Kette wiegt.
Die Liebenden die nach den Küssen schlafen.
Ein Stein, der tief im grünen Brunnen liegt.

Der Pythia Ruhen, das dem Schlummer gleicht
Der hohen Götter nach dem langen Mahl.
Die weiße Kerze, die den Toten bleicht.
Der Wolken Löwenhäupter um ein Tal.

Dass Stein gewordene Lächeln eines Blöden.
Verstaubte Krüge, drin wohnt noch der Duft.
Zerbrochne Geigen in dem Kram der Böden.
Vor dem Gewittersturm die träge Luft.

Ein Segel, das vom Horizonte glänzt.
Der Duft der Heiden, der die Bienen führt.
Des Herbstes Gold, das Laub und Stamm bekränzt.
Der Dichter, der des Toren Bosheit spürt.

Georg Heym, aus: Dichtungen, Kurt Wolff Verlag, München 1922


Sommertage noch im Herbst

Das ist das Wunderbare dieser Tage,
Dass sie uns rühren wie geliebter Kranker
Genesungen und Wiederblühendwerden.

Wie wenn ein Vogel, der de Sommer lang
Die süßen Lieder seines Lebens sang,
Noch einmal sich aus dem Gebüsche höbe,
Wir aber meinten, dass der feuchte Wind
Des ersten Herbstes ihn schön längst getragen
zu wärmerer Länder lächelnden Gestaden.

Und doch ist dieser letzten Tage Gold
So müde uns, als ob ein letztes Echo,
Das tot wir glaubten, plötzlich sich noch einmal
In einem tiefen, fernen Grund entschleiert
Um unsere fast vergessene Rufe rollt.

Das ist wie Sonnenlicht auf ganz verfallenen
Gemäuern düsterer Burgen, das den Ruhm
Der großen Zeit aus seinen Winkeln weckt,
Den Gang der Frauen an hellen Märztagen,
Die ganz verlorenen Klängen alter Harfen,
Und eine Bangigkeit vor Leben.

Ernst Balcke, aus: Die Aktion 03, Jahrgang 1913

„Er (Ernst Balcke) ist der einzige Mensch, der hinter der äußeren Schale meines kindischen Wesens, das Höhere herausfühlt. Auch ist er gut und ist auch ein Ringender zur Schönheit.“ Georg Heym in seinem Tagebuch vom 15. Mai 1905

Als am 16. Januar 1912 Ernst Balcke und Georg Heym auf der Havel Schlittschuhlaufen waren, verließen sie den markierten Sicherheitsbereich. Balcke geriet in ein Loch, das für Eisvögel in das Eis geschlagen worden war, schlug mit dem Hinterkopf auf und verlor das Bewusstsein. Der ihm zu Hilfe eilende Heym brach ebenfalls ins Eis ein und kämpfte noch eine halbe Stunde lang ums Überleben, bevor er selber im Eis versank.

Zur Erinnerung an Margarete Susman

 



Meine Seele ist leiderprobt.
Sie schritt durch ein tiefes Meer von Leid;
Tausend Tropfen blieben
An ihren Fittichen hängen.

Wenn meine Seele ihre Schwingen hebt
Über Euch, meine Brüder,
Fallen die Tropfen im Sonnenschein
Leuchtend nieder.
Mögen sie sanfter kühlender Tau
Allen brennenden Wunden sein -
Dann will ich segnen den dunklen Weg,
Segnen das tiefe Meer.

* * *

So in die still verschneite Nacht
Blick´ ich hinaus;
Die alte Sehnsucht ist erwacht
Und singt und flüstert, weint und lacht
Und lacht mich aus.

Sie zieht um mich den Zauberkreis
Von Wunsch und Wahn;
Sie spricht wie Du so scheu und leis;
Sie starrt mich an so traurig heiß,
Wie Du getan.

Aus: Mein Land, Gedichte von Margarete Susman, Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig 1901

Margarete Susman, geboren am 14. Oktober 1872 in Hamburg; gestorben am 16. Januar 1966 in Zürich, Religionsphilosophin, Kultur-Essayistin und Poetin. Sie schrieb zuerst Lyrik, dann Bücher und Essays über Dichtung, Feminismus, die Revolution sowie über das Judentum, seine Religion und seine Stellung in einer christlichen Umwelt.

1901 erschien ihr erster Gedichtband Mein Land. Bereits 1907 war ihr zweiter Lyrikband Neue Gedichte erschienen. 1912 zog sie in die Schweiz nach Rüschlikon bei Zürich, wohin sie nach einem Aufenthalt in Frankfurt von 1915 bis 1917, zurückkehrte. 1907 erschien Die Liebenden. Nach der Trennung von ihrem Ehemann, mit dem sie eine Zeit bei Säckingen in einem Bauernhaus gelebt hatte, zog sie nach Arosa, von wo sie später nach Deutschland zurückkehrte.

Nach dem I. Weltkrieg engagierte sie sich für die sozialen und politischen Ziele der Frauenbewegung und forderte in kritischer Wendung gegen das Frauenbild der jüdisch-christlichen Tradition, aber auch gegen die männerbündische Ausrichtung des Georgekreises die Schaffung eines weiblichen Selbstbildes.1918 erschien ihr Vortrag Die Revolution und die Frau. Ab 1926 war sie ständige Mitarbeiterin von „Der Morgen. Monatsschrift der deutschen Juden“.

Nach der Machtübernahme Adolf Hitlers emigrierte sie sofort in die Schweiz, wo sie im Kreis des Theologen Leonhard Ragaz mitwirkte und ab 1935 für dessen Zeitschrift „Neue Wege“ schrieb. Die Erfahrung des radikalen Antisemitismus und des Holocaust – ihre bereits seit 1934 verwitwete Schwester Paula Hammerschlag (1870–1942) hatte sich, als die Deportationen begannen, das Leben genommen – verstärkte noch ihre bereits in den 20er Jahren in die Wege geleitete religiös motivierte Hinwendung zur jüdischen Spiritualität. Bis zu ihrem Tod lebte sie in einer kleinen Dachwohnung in Zürich. Ihre politischen Aktivitäten gegen den Nationalsozialismus riefen die Schweizer Fremdenpolizei auf den Plan, die ihr, einer Ausländerin, ein Rede- und Publikationsverbot auferlegten.