Dienstag, 23. Mai 2023

Gutti Alsen: Einfache Weise / Rainer Maria Rilke: Volksweise

 



Einfache Weise


Es ist soviel Leid in der Welt,
Einer kann es nicht tragen,
Es geht bis ans Ende der Welt
Ein Weinen und Klagen.
Kann’s einer - nicht tragen allein,
Reicht euch alle die Hände
Über Meere, über Felsgestein
Dann kommt die Wende!

Gutti Alsen, aus: Oberbarnimer Kreiskalender 1930

Gutti Alsen (Gustava Aschkanasy), geboren am 4. September 1869 in Königsberg (heute Kaliningrad), gestorben am 24. Mai 1929 ebendort, Erzählerin, Lyrikerin und Übersetzerin. Einer angesehenen Kaufmannsfamilie entstammend, machte sie sich als Künstlerin und Förderin der Literatur – durch literarische Salons und durch die Unterstützung von Autorinnen und Autoren – einen Namen. Sie veröffentlichte Texte in der Zeitschrift Die Flöte und darüber hinaus einen Roman und zwei Novellenbände. Posthum erschienen zwei weitere Publikationen, darunter 1929 Requiem. Das schwarze Lied, ein Roman, der ihrer Tochter gewidmet ist, die im Alter von zwanzig Jahren verstarb. Dieser Roman wurde 2019 im homunculus-Verlag neu herausgegeben.

»Die trübe Melodie der Harmonika ist zum kleinen Kinderlied geworden, das in mein aufschreiendes Herz schlägt. So will ich versuchen, dich heraufzubeschwören aus deinem Verschwundensein. So will ich versuchen, dein Wesen widerzuspiegeln. Dass ein Buch dich durch die vielen Jahrzehnte trage, die dir geraubt sind. Dass du auferstehst, wenn auch als Schatten, für dieses Geschlecht. Und vielleicht die überdauerst, die heute stark sind an Leben und Gut.«

Auch ihr Tagebuch-Roman Die Mutter – Blätter aus dunklen Tagen wurde 2020 bei Hofenburg, Berlin, von Karl-Maria Guth neu herausgegeben

„Uhren und Glocken gingen dann und wann leise in kurzer Zwiesprache nebeneinander. Wir saßen auf gläsernem Vorbau des Hauses, nippten von alten Weinen, redeten von Kunst und Sehnsüchtigkeiten und schwiegen lange, vom Dichten, vom Getöne und von den Bildern des Heute durchklungen.

Da stieg vom Küchengeschoß ein Lied zu uns auf, fremd und zehrend und leidbeschwert. Der Hausherr richtete sich stehend hoch auf und ging zum Fenster. Gequältheit über den sonst so beherrschten Zügen, lauschte er in den Traumglanz des Mondgartens, lauschte. . . Dann schob er seinen Lehnstuhl uns nahe, und ich hörte ihn die Rilkeschen Verse klagen:

Mich rühret so sehr
Böhmischen Volkes Weise;
Schleicht in das Herz sich leise,
Macht sie es schwer.

Wenn ein Kind sacht
Singt beim Kartoffeljäten,
Klingt dir sein Lied im späten
Traum noch in der Nacht.

Magst du auch sein
Weit über Land gefahren,
Fällt es dir doch nach Jahren
Stets wieder ein

Langsam entquollen die Silben seiner zerquälten Stimme, als müsse der Schönheit dieser Nacht eine Opferung werden.“

Gutti Alsen, aus: Die Mutter - Blätter aus dunklen Tagen, Im Wir Verlag, Berlin 1922

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