Sonntag, 19. Januar 2025

Gertrud Epstein: In fremder Stadt

 



In fremder Stadt

Dies lieb ich: In fremder Stadt zu gehn,
Menschen, Fenster, Häuser zu sehn,
Die nicht Schmerz, Enttäuschung, Erwartung für mich tragen,
Keine Tür düster, wo ich einst glaubte: Licht.
Keine Leere, wo ich glaubte: Quelle, Gesicht.
Museen, Dome. Zur Seite geht
Der Schließer. Sprache, die man nicht versteht.
Träumerisch, gut, tropft der fremde Laut,
Ein Altar dunkelt, ein Gottesmantel blaut.
Museen, Marmor, Thorwaldsen, Dante,
Mailand, Verona oder Kopenhagen,
„Plade“ oder „Pizza“, alle tragen
Weite, barmherzige Fremde im Gesicht.
Da: Leute mit bedrängtem Eigengesicht -
Gibt´s das hier auch? Konflikt, Bindung, Beruf -
Eine Treppe, die man mit Bangen besteigt?
Gesichter, die Glück oder Enttäuschung bergen?
Nähe, Nächstes in Stuben und Särgen - ?
Doch nicht für mich! Am Tischchen im Café,
Ganz vor, wo ich den Hafen überseh´,
Oder das Rathaus mit den Lurebläsern davor:
Kommt mir alles als gnädige Ferne vor.
Die Heimat, die irgend hinüberlangt
Ist fern; und wiegend erfüllt und verklärt.
Alles Distanz - der Fremde gütige Einsamkeit.
Eines Tages steht sein Schiff, ein Zug bereit.
Zwölf oder zwanzig Stunden, dann ist man da.
Menschen, Beruf, Hochbahn - alles wieder nah.
Gesichter, die Enttäuschung bringen -
Treppen, die man bedrängt besteigt.
Gesichter, die doch vielleicht Erfüllung klingen?
Aller Besitz, aller Verlust ist wieder bereit,
Alles Nähe, und - der Nähe Einsamkeit.

Gertrud Epstein, aus: Vossische Zeitung, 23. September 1932

Im „Buch der Erinnerung“ der ins Baltikum deportierten Juden sind unter den Berliner Deportierten nach Riga vom 19. Januar 1942 Gertrud Epstein verzeichnet, geboren am 24. August 1885, wohnhaft Uhlandstraße 60 (Wilmersdorf), sowie vom 25. Januar Margarete Eloesser, geboren am 13. Mai 1881, wohnhaft Marburger Straße 9a (Charlottenburg), Witwe des 1938 verstorbenen Berliner Germanisten und Journalisten Arthur Eloesser. Es waren die dritte und vierte Deportation

Als „schüchterne, dunkle, junge Frau“ beschreibt die Vossische Zeitung Gertrud Epstein 1928, als ihre Erzählung „Hiob“ im Rahmen der „Morgenfeier der Jugend“ in der Funkstunde übertragen wurde14 . Die Erzählung ist bereits 15 Jahre vorher erschienen, Gertrud Epstein 43 Jahre alt. Es ist ihr einziger bekannter Auftritt in der Öffentlichkeit. Weitere Buchveröffentlichungen nach „Hiob“ sind bisher nicht nachweisbar, auch kein Bild von ihr, Einzelheiten über ihr Leben nur sehr spärlich überliefert. Dass sie vom Judentum zum Christentum konvertiert sei, meldet das „literarische Echo“ in seiner Besprechung von Hiob 1913. Dass sie Kindergärtnerin ist, kann man dem Fragebogen zu ihren Vermögensverhältnissen entnehmen, den sie ein paar Tage vor ihrer Deportation am 2. Januar 1942 ausfüllen musste.

Was bleibt sind zwei Bücher mit Erzählungen, etwas mehr als 20 Texte und Gedichte in der Vossischen Zeitung und Andeutungen darüber, dass es mehr Texte geben muss, irgendwo in alten Zeitungen verborgen.

Das Bild ist von Hans Balutschek (1870 - 1935)

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