Sonntag, 29. Oktober 2023

Ernst Stadler: Dämmerung in der Stadt

 



Dämmerung in der Stadt

Der Abend spricht mit lindem Schmeichelwort die Gassen
In Schlummer und der Süße alter Wiegenlieder,
Die Dämmerung hat breit mit hüllendem Gefieder
Ein Riesenvogel sich auf blaue Firste hingelassen.

Nun hat das Dunkel von den Fenstern allen Glanz gerissen,
Die eben noch beströmt wie veilchenfarbne Spiegel standen,
Die Häuser sind in Grau, durch das die ersten Lichter branden
Wie Rümpfe großer Schiffe, die im Meer die Nachtsignale hissen.

In späten Himmel tauchen Türme zart und ohne Schwere,
Die Ufer hütend, die im Schoß der kühlen Schatten schlafen,
Nun schwimmt die Nacht auf dunkel starrender Galeere
Mit schwarzem Segel in den lichtgepflügten Hafen.

Der Lyriker Ernst Stadler, geboren am 11. August 1883 in Colmar, Elsass; starb am 30. Oktober 1914 bei Zandvoorde nahe Ypern in Belgien („Flandernschlacht“). Leider wurde er, bevor er eine Gastprofessur in Toronto annehmen konnte zum Militärdienst eingezogen. Aus: Dichtungen, Band 1, Hamburg o. J. (1954)

Das Bild ist vom Harold Burkedin, Fotograf (1899 - 1944)


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