Dienstag, 9. Dezember 2025

Willy Blumenthal: Zwischen Raum und Zeit - Gedichte von Abschied und Aufbruch

 



Zwischen Raum und Zeit

Gedichte von Abschied und Aufbruch

I. Raum und Zeit

Gespenster sind es, Raum und Zeit,
Verschwisterter Dämon, der uns entzweit,
Stecke des Raums, Spanne der Zeit
Bewirken Trennung, Trennung ist Leid.

Riesiger Raum, zaudernde Zeit,
Ewiges Wandern, ziellos und weit. -
Dauer der Fernheit: Lebens Gebot.
Zeitlose Nähe: Erfüllung im Tod.


II. Geahnte Trennung

Unsere Nähe war nur Ferne, die schlief.
Was zwischen wärmenden Worten uns rief,
In die Falten unserer Freuden sich stahl,
Als warnend-weckender Widerhall,
Als langsam-langendes Leid,
War das zögernde Raunen der Zeit.

Im Dunkel unseres Denkens tief
Eine Ader des Ahnens lief,
Ein flüsternder Funke von Qual,
Ein Mahnen an letztes Mal. -
Inmitten unserer Geborgenheit;
Das Erkennen der trennenden Zeit.


III. Abschied und Aufbruch

Wir beugen uns noch den vertrauten Worten,
Die sich ergehn im Sorgen und im Sagen,
Im Geist schon nah den unerkannten Orten,
Den alterprobten aus Urväter Tagen.

Auf Stimmen horchen wir, die um uns ringen:
Mahnung und Warnung, sanfter Trost und Rat,
Dieweilen die Meere uns umringen,
Der Häfen Frische und die junge Saat.

So lauschen wir im janushaftem Drange,
Zurückzufinden zum geliebten Munde,
Und wandern doch auf abgewandtem Hange,
Wir, hingegeben an den Rausch der Stunde.


IV. Vor der Ausreise

Ein neues Heldentum gab Gott den Söhnen:
Sie lächeln ihren alten Müttern zu
Und zaubern ihrem tränenwehen Munde
Die Falten fort in dieser Trennungsstunde
Und härten sich zum schmerzlichen Gewöhnen.

Sie sprechen heitere Worte, voller Ruh´,
Obwohl sie wissen, dass der Augenblick
Unwiederbringlich ist, und letztes Glück
Und ewiger Abschied sich in eins verschlingt.

Ja, unsere Jugend weiß es, und sie singt
Sieghaften Auges zu den grauen Strähnen,
-  Männer, die scheu sich nach der Kindheit sehnen  -,

Und fühlen Kraft in diesem letzten Schauen,
Der alten Heimat Boden neu zu bauen,

Und straffen sich noch fester im Entgleiten
Des Mutterbildes, winkend in die Weiten. . .

Willy Blumenthal, aus: Central- Verein- Zeitung, Allgemeine Zeitung des Judentums, XV. Jahrgang, Nr. 15. Berlin, 9. April 1936

Willy Blumenthal, geboren am 25. 6. 1894 in Berlin, dort auch Studium bis 1920, Lehrer und Schriftsteller, schrieb für verschiedene jüdische Publikationen Lyrik und Prosatexte. Am 7. 10. 1941 wurde er zur Zwangsarbeit im Reichsarbeitsdienst eingezogen, Deportation nach Auschwitz am 29. 1. 1943, dort ermordet.

Das Foto zeigt eine ausgewanderte jüdische Familie November 1938

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