Die Jahreszeiten der Kastanie
I
Geborsten sind die Kupfersiegel
Der Knospenkuppeln vor dem grünen Drängen
Der Blättchen, die, unflügge Flügel,
Noch lichtbetäubt, schon zart befiedert hängen.
Noch beugt sie jeder Tropfen Regen
Und überrieselt ihre dünnen Rippen.
Sie furchen, bäumen sich entgegen
Und werden Rinnen, Zungen, Regenlippen.
Starr steht der Stamm, schwarz trieft die Rinde,
Tief tönt der Wurzel Durst im Rausch der Tropfen:
In jedem Zweig pulst himmlisches Herzklopfen, -
Gib, dass auch ich so eine Flut empfinde!
II
Schwarz steht der Stamm und reckt die Knorrenarme
Der Äste in das Mittagsfächeln,
Die grün gefächert, hochgewölbt im Schwarme
Der Schmeichelwinde flüsternd lächeln.
Der Zweige Flüstern zwitschert silbergolden
Frohlockmusik aus Amselkehlen;
Zu rosenweiß entflammten Blütendolden
Erblühn des Baumelächelns Seelen.
Aus jedem Zweig, Blatt, Kelch und Blütenstaube
Strömt´s in ein Blütgejauchz zusammen,
Lichtdunkel, lichtsatt strotzt der Baum im Laube:
So lass mich flüstern, lächeln, flammen!
III
Noch lugen alle Waldrandhecken
Mit Brombeer-Augen in die Welt,
Noch sonnen sich die Weinbergschnecken
Und gelbe Gräser recken
Die Köpfe aus dem Stoppelfeld.
Die mahagoniroten, kecken
Kastanien sprengen überall
Die Wölbung grüner Stacheldecken
Und fallen wie vor Schrecken
Und schlagen auf mit leisem Prall.
Die ersten reifen Früchte fallen
Und glühen dunkelrot im Grün
Des Grasmeers, riesige Korallen.
Der Baum steht auf den Knien
Inmitten, betend: Nimm mir alle!
IV
Stumpfe Stämme stützen
Dumpf die regenzernetzten
Äste gegen den Wind.
Rostwelk modern die letzten
Blätter in den Pfützen,
Die am Fuß der Gehetzten
Wie Blutlachen sind.
Die Blutlachen zieren
Morgens Eisblumensäume,
Bis das Blut starr gerann.
Schnee fällt. Nachts wird es frieren.
Tode werden dann Träume.
Heiter ziehen die Bäume
Schneetotenkittel an.
Leo Hirsch, aus: Central- Verein- Zeitung, Allgemeine Zeitung des Judentums, XVI. Jahrgang, Nr. 27. Berlin, 8. Juli 1937
Jizchak Arjei Leo Hirsch, geboren am18. Januar 1903 in Posen; gestorben am 6. Januar 1943 in Berlin, Journalist und Schriftsteller.
Leo Hirsch war Sohn des Kolonialwarenhändlers Zwi Hirsch und der Bertha Selka. Er wuchs in die Kleinstadt Ostrowo auf, in der Deutsch, Polnisch und Jiddisch gesprochen wurde. Die Stadt wurde 1918 polnisch, wobei die Familie bei den Pogromen ihr Ladengeschäft verlor und nach Berlin flüchtete. Hirsch musste sein in München angefangenes Studium abbrechen und zum Familienunterhalt beitragen. Er arbeitete beim Berliner Mosse-Verlag als schlecht bezahlter Journalist am Berliner Tageblatt.
Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten arbeitete er im Feuilleton des Jüdischen Nachrichtenblatts, des letzten jüdischen Kommunikationsorgans, das in der Zeit des Nationalsozialismus in Berlin von 1938 bis 1943 erscheinen konnte. Hirsch war außerdem im Kulturbund Deutscher Juden tätig. Er starb – geschwächt durch schwere Zwangsarbeit – im Jüdischen Krankenhaus Berlin.
Das Bild Kastanienblüten ist von Vincent van Gogh (1853 - 1890)
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