Donnerstag, 17. August 2023

Johannes Theodor Baargeld: Es war einmal ein rares Kind. . . / O dieser Stunde

 



Es war einmal ein rares Kind,
Das war, wie solche Vöglein sind:
Sie wachsen und gedeihen
Und füttern ihre Eigenart
Vom alten Jahr zum neuen.

Es irrt der Mensch, solang er lebt,
Und Manches seltsam an ihm klebt,
Zumal wenn er nach Geistigem strebt;
Doch peinlich ist es immer,
Besteht sein ganzer Geistesschwanz
Aus allerfaulstem Flimmer.

Gib Mensch, solang Du geben kannst,
Bedenk zuletzt den eignen Wanst!
Wie schön wär's unter Christen,
Lenkt nicht solch Vöglein eigner Art
Ins saubre Christennest die Fahrt:
Die Frucht aus seinem Nisten
darf dann der Christe misten.

Drum Mensch, siehst Du solch Vöglein ziehn
Dank Gott, wenn Winde er verliehn,
Die in die Täler streichen:
Denn zieht das Tierchen bei Dir ein,
So ist's zum Herzerweichen.

Johannes Theodor Baargeld, zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht. Zuerst publiziert 1985 in: Walter Vitt (Hrsg.), Bagage de Baargeld, Starnberg. Es gehört zu den vier sogenannten ›Engadiner Gedichten‹, die sich im Hüttenbuch der ›Carl von Salis-Hütte‹ im Oberengadin finden ließen. Baargeld, der sich als Bergsteiger Jesaias nannte, unternahm in den zwanziger Jahren von hier aus zahlreiche Bergtouren und trug sich insgesamt viermal mit einem Gedicht ins Hüttenbuch ein. ›Es war einmal ein rares Kind‹ entstand während eines Aufenthaltes dort vom 24.8. bis 9.9.1922 und ist mit ›Jesaias‹ unterzeichnet.


O dieser Stunde

Jetzt sind durch Stadt
Lange Wege von Suchenden.
Häuser rauschen heran
Unbestimmter Erregtheit.
Pferd wartet um sich dunkle Höfe
Und ein Lied aus Kanal oder Lichtschacht.
Über asphaltenen Zeilen
Kreuzen sich Suchaugen
Ungenau.
Aufschwelen Brauen
In denen Tag nachzittert
Und etwas wie
Erwartung steht auf –

O dieser Stunde –
Wo ist
Der sich wühlt unter die kündende Liebe
Eures Tagverhaltenseins,
Brüder Gelegenheitsmenschen?
Ich balle meine Tausendbedürftigkeit vor euch
Fragend bittend Euch Tiefhändigen bald.
Ich tanze den durstigen Narr in den Trug unserer
Schläfe aus zweiter Hand,
Ich bettle mich durch
Zu uns.

Aus: Die Aktion, Berlin. 1.6.1918, 8. Jahrgang, Heft 21/22. Autorenangabe: Alfred Gruenwald.

Johannes Theodor Baargeld 1920, der Künstlername von Alfred Ferdinand Gruenwald, Grafiker, Maler, Dadaist, Dichter und leidenschaftlicher Bergsteiger, geboren am 9. 10. 1892 in Stettin; verunglückte tödlich am 18. 8. 1927 am Mont Blanc.

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