Montag, 22. Dezember 2014

Gertrud Kolmar - Wunschlied




                            Wunschlied


Du solltest zu mir kommen in der langen Nacht.
Sie hätt aus Silberseide dir ein Bett gemacht.

Drum solltest du bei mir schlafen die ganze lange Nacht;
Mein kleines dunkles Auge war ein tiefer, tiefer Schacht.

Mein Auge war ein Brunnen, im Grunde Geisterlicht,
Da schautest du unter der Wirklichkeit allen Glückes Gesicht.

Träume blieben in Stunden stehn und sahn dich an: Es ist wahr.
Sehnsucht würf den Flügelhut aus ihrem brennenden Haar.

Alles was süß ist und warm ist, leis deine Lider nur streift,
Hätt Nacht in roter gespaltener Frucht für deine Lippen gereift.

Meine Locken wären feines braunes Gras und Kraut,
Aus den Halmen sprängen Blüten, wie du sie nie geschaut.

Blüten von so fremdem Duft, Blüten von so seltnem Schein
Schüteten mit unaufhörlich sachtem Rieseln ganz dich ein.

Aber meine Arme kröchen, listigen Schlangen gleich,
Durch den Blumenwald zu dir, schön und schwellend, bunt und weich.

In schillernde Schlingen verstrickt, in Blütenwehe verschneit -
Könntest du noch erwachen vor lauter Seligkeit?


Anfang März 1943 wurde die am 10. 12. 1894 geborene Dichterin Gertrud Kolmar im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. 

Ich entdeckte ihre Gedichte nach und nach, und ich entdeckte einen einzigartigen lyrischen Kosmos.. Einige ihrer Gedichte begleiten mich seit langem. Der Wallsteinverlag aus Göttingen brachte 2003 "Sämtliche Gedichte" von Gertrud Kolmar in einer dreibändigen Ausgabe heraus.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen