Donnerstag, 26. Januar 2023

Lessie Sachs: Ich habe Sehnsucht

 


Ich habe Sehnsucht

Ich wäre gerne möglichst unbekannt,
In einer neuen Stadt, in neuer Atmosphäre;
Vielleicht sogar in einem fremden Land,
Wo alles anders als zu Haue wäre.

Ich lebte gern in einem neuen Kreis;
Ich würde mir recht viel davon erhoffen.
Man hat bei neuen Freunden, wie man weiss,
So viele neue Möglichkeiten offen.

Ich möchte fremd auf fremden Strassen gehn;
Und, wo ich bin, das sollte keiner wissen.
Und, wo ich hingeh, sollte keiner sehn.
Ich lebte gern ganz im Ungewissen.

Ich möchte einen Dunstkreis um mich ziehn.
Ich möchte fortgehn; fort. - Ich möchte wandern.
Die neue Stadt singt neue Melodien.
Ich ginge still für mich im Strom der andern.

Ich möchte wittern; ahnen; zögern; schaun.
Ich möchte wieder die Gefahren spüren,
Wenn wir bezaubert halb, und halb mit Graun,
Uns mit dem Dasein allzu nah berühren.

Mir scheint, so kommt die schöpferische Kraft
Aus den gefühlsbetonten Augenblicken;
Aus Traumgeist, Sehnsucht, und aus Leidenschaft ...
- Ich will die Sachlichkeit gern strafverschicken.

Aus: Lessie Sachs Collection 2

Lessie Sachs, geboren am 5. September 1897 in Breslau, gestorben Anfang 1942 in New York City/ USA, Dichterin und Malerin.

Nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule in Breslau geht die Tochter des Neurologen Heinrich Sachs nach München. Hier wird sie während der Räterepublik nach Ende des Ersten Weltkrieges aufgrund ihres pazifistischen Engagements vorübergehend als “jugendlicher Hochverräter“ inhaftiert.

Sie kehrt nach Breslau zurück und leitet dort ein Atelier für Seidenmalerei.
Ihre Gedichte und Prosatexte erscheinen in Zeitschriften wie dem Simplizissimus, Uhu und der Vossischen Zeitung, als auch in Anthologien. 1933 heiratet sie den 12 Jahre jüngeren Breslauer Pianisten Josef Wagner. Im Dezember 1932 präsentiert Josef Wagner in Breslau seine Kompositionen zu Gedichten von Lessie Sachs.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kann Josef Wagner seinen Beruf nicht mehr ausüben; Gedichte von Lessie Sachs dürfen nicht mehr erscheinen. 1937 verlassen beide Deutschland und emigrieren nach Amerika.

Über die wenigen Jahre bis zu ihrem frühen Tod 1942 gibt es kaum biographische Hinweise. In den USA schreibt Lessie Sachs für die deutschsprachige jüdische Wochenzeitung Aufbau.
Lessie Sachs stirbt Anfang 1942 nach langjähriger Krankheit.

Zwei Jahre später veröffentlicht das von Friederike Zweig geleitete "Writers Service Center" posthum die Tag- und Nachtgedichte, eine kleine Auswahl aus ihrem lyrischen Werk.

2019 kam eine Zusammenstellung von Texten von ihr heraus: Jürgen Krämer/Christiana Puschak (Hrsg.), Lessie Sachs, Das launische Gehirn. Lyrik und Kurzprosa, Nachwort, Berlin 2019

Das Bild ist von Hans Baluschek (1870 - 1935)

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