Samstag, 23. August 2025

Ernst Arnold Frey: Nächtliches Dorf

 


Nächtliches Dorf

Totenstille weit im Raum.
Dunkle Dächer sind wie Mützen,
Unter denen müd vom Traum
Blind und stumpf die Häuser sitzen.

Selbst die Kirche auf dem Hügel
Glotzt verschlafen in die Nacht.
Englein hängen jetzt wohl Flügel
Und ein hölzner Heiland wacht.

Ernst Frey, aus: Sirius, Herausgegeben von Walter Serner, Jahrgang 1915 – 16 Nummer 2

Ernst Arnold Frey, geboren am 27. November 1893 in Zürich; gestorben am  17. August 1971 in Mendrisio, Maler und Lyriker. Er gehörte zur Zürcher Avantgarde.
Das Bild ist von ihm.

Samstag, 5. Juli 2025

Reinhard Goering: Wie in sanftem Kahn. . . / Wir gleichen solchen, die auf hohem Meer. . .

 



Wie in sanftem Kahn. . . 

Wie in sanftem Kahn
An ein Zauberreich
Trieb ich an den Morgen an
Aus der Nacht, dem dunklen Teich.

Zauberhaft die Welt
Neu für mich gemacht
In den Strahl gestellt
aus der andern Nacht.

Wie – ihr tiefster Sinn,
Ich – zur ihr bereit,
Wunderbar gelandet bin
Aus der Nacht Unendlichkeit.


Wir gleichen solchen, die auf hohem Meer. . . 

Wir gleichen solchen, die auf hohem Meer,
Umhüllt von Dunkel, ziehn ins Unbekannte.
Zufall am Steuer, Tod des Schiffes Herr,
Der Hauch im Segel ist das Ungenannte.

Zwei- oder dreimal wird es Licht,
Dann löst Erstarrung sich und alles Grauen
Vor eines andern göttlichem Gesicht,
Daraus noch schön die ewigen Sterne schauen.

Dann grüßt der Gleiche stumm den teuren Gleichen
Und es geschieht, dass, eh das Licht verblich,
Sie sich den Mund zu einem Kusse reichen
Und so ihr Scheiden heißt: Ich liebe dich!

Aus: Reinhard Goering, Prosa, Dramen, Verse, München 1961

Reinhard Goering, geboren am 23. Juni 1887 auf Schloss Bieberstein, Hessen; gestorben Mitte Oktober 1936 in Bucha bei Jena, Schriftsteller des Expressionismus.

1912 erschienen mit einigen Gedichten in einer Anthologie erstmals Texte von Goering, ebenso wie der im Folgejahr 1913 erscheinende Roman Jung Schuk blieben sie aber fast ohne Widerhall bei Publikum und Kritik.

Die Frühsommermonate der Jahre 1915 und 1917 bis 1919 verbrachte er in der Aussteigerkolonie Monte Verità von Ascona, zeitweise als Einsiedler in dem Vogelfängerturm „Roccolo“ lebend. Unter dem Einfluss des Dichters und Naturpropheten Gusto Gräser unternahm er seine „buddhistische Wanderung“. In einem Versuch der Loslösung von allen gesellschaftlichen Bindungen führte Goering für kurze Zeit das Leben eines wandernden Bettlers. Nach seiner Rückkehr zur Familie schrieb er in rascher Folge vier weitere Schauspiele, bevor er fast vollständig verstummte.

Das Bild ist von Karl Wilhelm Diefenbach (1851 - 1913)


Freitag, 4. Juli 2025

Frieda Mehler: Gebet

 



Gebet

Aller Urgrund meiner Ruh’
Bist Du!
Du bist in mir, und weil Du in mir bist.
Bin ich, lebe ich, unsterblich Leben zu jeder Frist,
Und meine Seele jauchzt Dir zu.
Aller Urgrund meiner Unruh’
Bist Du!
Ich bin ein ewig Werden und Vergehen,
Ein rauschend Strömen, Niemals-stille-stehen,
Und meine Seele strömt Dir zu.
Aller Urgrund meines Sein
Ist Dein.
Du nimmst mein Herz in Deine Hände,
Wende und ende
Mein Leid und lass’ mich stille sein.

Dann aber werde ich von hinnen gehen,
Zum großen Tor der Ewigkeit gewandt,
Ich werde zögernd an der Pforte stehen,
Und nach dem Riegel, tastend, sucht die Hand.
Was ich gewesen, fällt von mir herab.
Was ich gewollt, getan, geträumt, gedacht,
Und was ich forderte und was ich gab,
1st die Sekunde einer kurzen Nacht.
Verschwunden ist das irdische Geschehen.
Ich bin ein Teil noch jener großen Macht,
Die mich ins Irdische hinein gesandt,
Um einst zu neuem Leben zu erstehen.
Nicht Ziel und Ende —
Anfang ist das Grab.

Aus: Wir - Gedichte von Frieda Mehler, Berthold Levy / Jüdischer Buchverlag, Berlin 1937

Frieda Mehler, Dichterin und Kinderbuchautorin, geboren am 20. Mai 1871 in Halberstadt. Am 28. Februar 1939 emigrierte sie in die Niederlande. Am 2. Juli 1943 wurde sie vom Lager Westerbork in das Vernichtungslager Sobibor deportiert, wo sie wahrscheinlich am 5. Juli 1943 ermordet wurde.


Donnerstag, 3. Juli 2025

Fritz Brügel: Landschaft in der Ostravica / Fremdes Land / Brief an einen Arbeiterdichter in Dachau

 



Landschaft in der Ostravica


Hier starben viele; Abend ist verschwiegen;
der unerlöste Himmel ist verbrannt!
Es droht der Fluß! Vermeide seinen Strand,
Es wird sein Atem deinen Traum besiegen.

Der Landschaft Schatten habe ich erkannt
und seltene Vögel sah ich sichtbar fliegen;
nie wird sich Licht um diese Berge schmiegen
und ihre Felsen faulen früh im Sand.

Es war ein Wald und Bäume waren nah -
oh, ungeahnten Äthers Tag und Tau -
wie eine Fahne wölbte sich das Blau,
das an dem Himmel dieser Zeit geschah,
Ich war der Dämon, der in trunkener Schau
das Land der Sünde heilig schweigen sah!


Fremdes Land

Oh, fremdes Land der bunten Fahnen
und fremdes Wort, das mich bezwang.
In hellen Fenstern brennt Gesang.
Musik läßt tiefen Kummer ahnen.

Ich werde niemals heimwärts kommen,
mich schlug der Weg ins Labyrinth.
Aus dunkler Kirche bringt der Wind
das stumme Lied der wahrhaft Frommen.

Ich bin im Dunkel und verkünde
zu fremder Uhr die fremde Zeit.
Ich seh´ dich nicht, ich bin zu weit,
ich bin im Dunkel und erblinde.

Fritz Brügel, aus: Drei Gedichte, in Die Wage, 17. III. 1923


Brief an einen Arbeiterdichter in Dachau


Lieber Freund! Wir können uns nicht sprechen,
Weil man dich aus der Gemeinschaft strich,
Um dir Geist und Ehre zu zerbrechen,
Denn - die mächtigen Feinde fürchten sich,
Fürchten sich vor uns, die gar nichts haben
Als der Wahrheit Wort und das Recht,
Das sie täglich töten und begraben,
Das sich täglich aufzustehn erfrecht.
Unsre Feinde fürchten die paar Worte,
Die man nächtens für die Zukunft schrieb,
Und sie hoffen, daß dein Herz verdorrte,
Weil die Mörderfaust dich niederhieb;
Doch ich weiß, was sie auch immer machten,
Was sie dir an Schimpf und Qual verhängt;
Du wirst diese Meute stumm verachten,
Die, bewaffnet, zehn um einen drängt.

Mitten unter euch, wie ihr im Lager,
Hat sich als Genossin euch gesellt:
Mutter Deutschland, aufgereckt und hager,
Wundgeschlagen, aber nicht gefällt.

Sie wie ihr erwartet eine Stunde,
Sie wie ihr ist vor Empörung bleich,
Sie wie ihr weiß, daß sie einst gesunde,
Sie wie ihr harrt auf das freie Reich!
Sie wird eines Tages allen sichtbar
Sich erheben und zum Aufruhr schrein,
Dann ist der Bedränger Meute sichtbar. . .
Und ihr Werk wird nie gewesen sein!

Fritz Brügel, unter dem Pseudonym Wenzel Sladek, in Bunte Woche, Nr. 3, 21. 1. 1934, Wien

Fritz Brügel, geboren am 13. Februar 1897 in Wien; gestorben am 4. Juli 1955 in London. Er wuchs in Prag auf und studierte Geschichte an der Universität Wien. 1921 promovierte er mit einer Arbeit über die Geschichte der Deutschen in Böhmen zum Doktor der Philosophie. Anschließend war er Leiter der Sozialwissenschaftlichen Studienbibliothek der Wiener Arbeiterkammer. Nach dem Scheitern des Februaraufstandes 1934 floh Brügel in die Tschechoslowakei. Nachdem ihm 1935 die österreichische Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, nahm er die tschechoslowakische an. Er war als Legationsrat im Außenministerium der Tschechoslowakei tätig und lieferte Beiträge für verschiedene Zeitschriften. 1936 führte ihn eine Reise in die Sowjetunion. Nach dem Münchner Abkommen vom September 1938 emigrierte Brügel nach Frankreich. Er hielt sich in Paris, später in Südfrankreich auf. 1941 gelang ihm die Flucht über Spanien und Portugal nach Großbritannien. In London war er bis 1945 für die tschechoslowakische Exilregierung und als Autor für die österreichische Exilzeitung Zeitspiegel tätig.


Chaim Nachman Bialik: Im Grünen

 



Im Grünen

(Aus dem Jüdischen)

Von Blumen und Wundern war ich umgeben,
Wo Tierchen in Strahlennetzen zittern,
Wo die Luft vom Schwirren und Girren bebt -
Umzaubert war ich zu Boden gesunken.

Und warm; und alles schön und mild.
Erstickte Gefühle drängen ans Licht,
Wollen zu Sonne -
Und taumeln, die weichen, schwachen, stillen
Und strecken die Häupter,
Wie Schlangen aus Höhlen die Leiber zieh´n,
Höher und höher -
Und Gottes Sonne blickt mild auf uns
So mild.

Und warm. Und alles gut.
Wie strahlt jetzt Gottes Welt!
Im tiefen Gras, da hüpft es und tanzt.
Der Rasen ist von Blüten voll,
Die Gott mit eigener Hand gepflanzt,
Mit tausend Farben schmückte.
Das weitet sich und breitet sich
Ohn´ Anfang und ohn´ Ende.
Und wie ich einsam lieg´ im Gras,
Fühl ich in mir die ganze Welt.
Das wehet her
Vom freien Feld
Ein Hauch - -

S´ ist still. Und rasch - ein Pfeil! -
So schwebt ein Traum
Von Kindheitstagen -
Und ist schon tausend Meilen fern.
Das war ein Blitz, das war ein Glanz,
So heimatstraut und wundersam,
Es kam durch dumpfe Jahre her,
Versunken und verloren.

Das war ein Blitz! Das war ein Glanz!
Das strömt´ und sprang mir in den Blick -
Ein Tropfen Tau von jungem Glück.
Und schon versiegt? Das war - -
Das blickte so
Der grüne Wald auf mich.

Ch. N. Bialik, aus: Gedichte, aus dem hebräischen übertragen von Ernst Müller, Jüdischer Verlag GmbH, Köln und Leipzig 1911

Chaim Nachman Bialik (jiddisch חיים נחמן ביאַלי , hebräisch חַיִּים נַחְמָן בִּיאָלִי , vereinzelt auch: Chaim Nachum Bialik; geboren am 9. Januar 1873 im Dorf Radin, in der Nähe von Schytomyr, Russisches Kaiserreich; gestorben am 4. Juli 1934 in Wien, war ein russisch-österreichischer jüdischer Dichter, Autor und Journalist, der auf Hebräisch und Jiddisch schrieb. Er ist einer der einflussreichsten hebräischen Dichter und wird in Israel als Nationaldichter angesehen.

Zudem übersetzte Bialik Shakespeares Julius Caesar, Schillers Wilhelm Tell, Cervantes’ Don Quichotte, Gedichte von Heine sowie Der Dybbuk des jiddischen Dichters Salomon An-ski ins Hebräische. Dabei war er sich der Grenzen des Übersetzens sehr bewusst: "Eine Übersetzung zu lesen sei wie die Braut durch den Schleier hindurch zu küssen."

Ein weiteres Gedicht aus diesem Gedichtband hier: Licht


Franz Kafka: Kühl und hart

 



Kühl und hart

Kühl und hart ist der heutige Tag.
Die Wolken erstarren.
Die Winde sind zerrende Taue.
Die Menschen erstarren.
Die Schritte klingen metallen
Auf erzenen Steinen,
Und die Augen schauen
Weite weiße Seen.

In dem alten Städtchen stehn
Kleine helle Weihnachtshäuschen,
Ihre bunte Scheiben sehn
Auf das schneeverwehte Plätzchen.
Auf dem Mondlichtplatze geht
Still ein Mann im Schnee fürbaß,
Seinen großen Schatten weht
Der Wind die Häuschen hinauf.

Menschen, die über dunkle Brücken gehn,
vorüber an Heiligen
mit matten Lichtlein.

Wolken, die über grauen Himmel ziehn
vorüber an Kirchen
mit verdämmernden Türmen.
Einer, der an der Quaderbrüstung lehnt
und in das Abendwasser schaut,
die Hände auf alten Steinen.

Aus einem Brief Franz Kafkas vom 9. November 1903, in dem er als Zwanzigjähriger seinem Schulfreund Oskar Pollak von "einigen Versen" schreibt, die er "in guten Stunden lesen" möge.

Franz Kafka, geboren am 3. Juli 1883 in Prag, Österreich-Ungarn; gestorben am 3. Juni 1924 in Kierling, Österreich

Mittwoch, 2. Juli 2025

Franz Werfel: Benennung

 



Benennung

Noch einmal seh´ und nenn´ ich
Erhabenes Antlitz der Bäuerinnen,
Heiligen Kinderknix in Kirchen,
Riesigen Blick des Priesters - -
Ah, ein Vogel hüpft  -  hüpft über die Straße.
O Menschenschritt! Noch einmal - - -
(Wie unbenannt die Welt noch
Unbenannt, ihr Freunde) - - -
Noch einmal seh´ und nenn´ ich,
Eh´ ich dahin ein Wind bin,
Ich Wolkenzug,
Ich ohne Bindung, Heimat, ich Halbtraum,
Ich Flüchtling aufgebrauchter Städte,
Geborgener ich aus uralter Feuersbrunst,
Schlaf, Wollust und den Namen Gottes rettend. -
Noch einmal weiß ich mich,
Freundin, in deinem Dahingehn,
Das Schicksal weiß ich, Nächte weiß ich,
Die mich in die Schleuder tun,
Daß ich mit euch bin, der ich bin,
Ich erlöschender Fluß,
Hinstickend schon durch die Höhlen,
Daß ich mit euch noch hier bin, ich Oednis,
Daß ich mit euch noch bin, umrollt von Lauf,
Befohlen von Gestirnen,
Kreis und heiliger Zahl,
Daß du Geliebte welkst an mir hinab . . .
So faß ich mich nochmals,
Nenne mich
Ich Heimat-, Höllen., Himmelloser,
Mein Haus aufbauend auf
Zufälligen und flüchtigen Gesängen.

Franz Werfel, aus: Daimon, Eine Monatsschrift, Herausgeber Jakob Moreno Levy, Redakteur E. A. Reinhardt; 2. Heft April 1918, Verlag Brüder Suschitzky, Wien

Franz Werfel, geboren am September 1890 in Prag, Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker, ging 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich ins Exil, zuerst nach Frankreich, dann in die USA. 1941 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er starb am 26. August 1945 in Beverly Hills, Kalifornien.

Das Bild „Le réfugié" ist von Felix Nussbaum (geboren am 11. Dezember 1904 in Osnabrück; gestorben nach dem 20. September 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau)

Montag, 30. Juni 2025

Karl Wolfskehl: zum klaren Berg der blauen Seligkeiten. . . / Du weisst es. . . / Sie schwebt im blau des morgenwindes. . .

 



Zum klaren Berg der blauen Seligkeiten
Vergessene müde pilger schreiten
Die pforte schloss • sie pochen pochen.

Verlorner töne himmlisch sehnend schweifen
Schlingt sich um sie in elfenzauberreifen •
Sie pochen pochen.

An ihrem leibe fremde gluten rinnen
Der berg der Seligkeiten strahlet innen
Sie aber pochen pochen . . .

Karl Wolfskehl, aus: Ulais, Verlag der Blätter für die Kunst, Berlin 1897

* * *

Du weisst es • keine zeichen irrten
Wir schieden unsern heiligen bund.
Nachtvögel unser haupt umschwirrten.
Da wir der trennung rosse schirrten
Log unserm herzen unser mund.

Wir haben uns zurückgefunden
Im herbstlaub • wie's in flammen steht!
Vom höchsten Schicksal überwunden
Sind wir ob aller zeit verbunden
Noch eh das fest zu enden geht.

* * *

Sie schwebt im blau des morgenwindes
Im zweifellicht von tag und nacht
Im aug das lächeln eines kindes
Dem eine krone sie gebracht.

Von ihren lippen fliesst ein schweigen
In schwerer falten heiligem chor
Der sich die lilien schauernd neigen
Die rote rose sich erkor.

Aus: Gesammelte Dichtungen, Georg Bondi Berlin 1903

Karl Wolfskehl, geboren am 17. 9. 1869 in Darmstadt, gestorben am 30. 6. 1948 im Exil in Auckland, Neuseeland. Er war aktiv im Münchner Kreis um Stefan George, mit dem er von 1892 bis 1919 die Zeitschrift „Blätter für die Kunst“ und 1901 bis 1903 die Sammlung „Deutsche Dichtung“ herausgab.

Karl Wolfskehl hat sich über den Charakter des Regimes der Nationalsozialisten nichts vorgemacht. Während andere seiner Freunde, vornehmlich aus dem Georgekreis, noch abwarteten, reiste er am Tage der Machtergreifung über Basel erst ins italienische, 1938 ins neuseeländische Asyl, ins Antithule, wie er die Insel am entgegengesetzten Teil der Erde nannte, so weit von Deutschland weg wie irgendwie möglich.







Freitag, 27. Juni 2025

Zur Erinnerung an Oskar Maria Graf

 


Ohne Bleibe

Der Schnee fällt unablässig still und fein
vom dunklen Himmel nieder.
Die Gaslaternen leuchten arm im gelben Schein
und meine Schritte werden immer müder.
Ich bin den ganzen Tag von Tür zu Tür gelaufen
und konnt´ mir dafür grad´ die Suppe kaufen.

Die langen Straßenfronten sind verstummt.
Ich höre nur mein eig´nes Schnaufen.
Weitum ist alles weiß und schneevermumt
und nirgends kann ich schlafen.
Ich weiß nicht mehr, ist´s kalt, ist´s heiß,
und werde langsam selbst ein Brocken Eis.

Ich will mich einfach auf den Boden legen.
Ich wette, wer dies sieht,
den wird dies Sterben nicht erschrecken.
Es ist ja immer nur das alte Lied:
Die einen werden fett vor lauter Segen,
doch unsereins kommt viel zu spät. . .

Aus: Arbeiter-Zeitung, Wien 22. 12. 1933

Oskar Maria Graf (* 22. Juli 1894 als Oskar Graf in Berg; † 28. Juni 1967 in New York City), krachlederner Anarchist und Heimatdichter. 1911 verließ er sein Elternhaus Richtung München. Durch Zufall kam er mit Vertretern der anarchistischen Gruppe „Tat“ um Erich Mühsam und Gustav Landauer in Kontakt. In den Jahren 1912/13 vagabundierte er durch Oberitalien, begleitet vom Maler Georg Schrimpf, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Zeitweise arbeiteten beide auch in der Künstler- und Reformerkolonie Monte Verità bei Ascona. 1914 erschienen erste Gedichte von Oskar Graf in der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion. 1919 kam er wegen der Teilnahme an den revolutionären Bewegungen in München erneut für einige Wochen ins Gefängnis.
1927 gelang Graf mit seinem autobiografischen Werk Wir sind Gefangene der literarische Durchbruch, der ihm eine Existenz als freischaffender Schriftsteller ermöglichte. In den darauffolgenden Jahren konnte er mit dem Bayerischen Dekameron (1928) und dem Roman Bolwieser (1931) weitere Publikumserfolge verbuchen.

Am 17. Februar 1933 fuhr er zu einer Vortragsreise nach Wien, wo er Mitglied der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller wurde. Dies war der Beginn seines anfangs freiwilligen Exils. Als Graf aufgrund einer Meldung im Berliner Börsen-Courier den Eindruck gewann, dass seine Bücher nicht der Bücherverbrennung durch die Nazis am 10. Mai 1933 zum Opfer gefallen seien und ihre Lektüre sogar empfohlen würde (tatsächlich standen fast alle seine Werke auf der „Schwarzen Liste“ zur „Säuberung der Volksbüchereien“), veröffentlichte er am 12. Mai 1933 in der Wiener Arbeiter-Zeitung den Artikel Verbrennt mich!

„Verbrennt mich! Ein Protest von Oskar Maria Graf.

[…] Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, daß meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbanden gelangen!
Verbrennt die Werke des deutschen Geistes! Er selber wird unauslöschlich sein, wie eure Schmach!
(Alle anständigen Zeitungen werden um Abdruck dieses Protestes ersucht. Oskar Maria Graf.)“

Im Dezember 1957 erhielt Oskar Maria Graf die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Wegen seines kompromisslosen Pazifismus wurde aus der dabei abzulegenden Eidesformel der Absatz „Über die Verteidigungsbereitschaft mit der Waffe in der Hand“ gestrichen. Erst als er im Januar 1958 seine Einbürgerungsurkunde in Händen hielt, wagte er im Juni desselben Jahres erstmals nach dem Krieg wieder eine Europareise. Bis dahin befürchtete er, dass ihm bei seiner Rückkehr die Einreise in die USA verweigert würde. Nach seiner Ankunft in München sollte er im Cuvilliés-Theater in der Münchner Residenz eine Lesung halten. Da er darauf bestand, dort in der kurzen Trachtenlederhose aufzutreten, verursachte er einen „mittleren Skandal“ in der Kulturszene der bayerischen Landeshauptstadt. Oskar Maria Graf starb im Juni 1967 im Mount Sinai Hospital in New York City. (Wiki)

Das Portrait (1927) ist von Georg Schrimpf (1889 - 1938)

Donnerstag, 26. Juni 2025

Peter Hammerschlag: Abrüstung

 



Abrüstung


Sieben kleine Mäuschen
Gehn zum Mittagsbrot,
Silberweiße Fläuschen,
Schwänzchen rosenrot.

Sieben schwarze Kätzchen
Machen auf sie Jagd.
Gibt es ein Gesetzchen,
Das dies untersagt?

Mäuschen sie erbleichen
Jäh im Todesschreck:
«Wollen uns vergleichen!
Lösegeld sei Speck!»

Sieben Katzenmäulchen
Schlecken ungeniert,
Und nach einem Weilchen
Sind sie saturiert.

Nichts vom Speck geblieben –
Kätzchen wollen mehr! –
Speisen drum die sieben
Mäuschen zum Dessert.

Peter Hammerschlag, Dichter, Kabarettist und Graphiker, geboren am 17. Juni 1902 in Wien, ermordet 1942 im Konzentrationslager Auschwitz

Cäsar Flaischlen: Gedichte in Prosa

 



Ganz still einmal …

Ganz still einmal im Grünen liegen dürfen ... zu einem sommerblauen Himmel sehn, mit weißen Wolken ... und auf das Zwitschern in den Wipfeln hören ... auf das Geriesel heimlicher Quellen ... den Duft der Luft einschlürfen und des blühenden Laubes, die selige Ruhe rings des vollen, reifen Lebens ... ganz still, und nicht zu denken haben an all die hundert nichtigen Notwendigkeiten, die so und so viel Sorglichkeit und Müh erfordern, und nur: damit das Pendelwerk des Tags nicht stehen bleibt ... ganz still einmal im Grünen liegen können
und alles
vergessen dürfen, was man soll und muß ... und will! für andere und für sich! und will und soll und muß!
und seine Träume
gleich Schmetterlingen gaukeln lassen,
sonnenselig,
von Rosenstrauch zu Rosenstrauch, mit schimmernden Flügeln, das flimmernde Tal hin, über goldene Felder und wallende Flüsse zu duftverlorenen fernen Höhn und weiter, tief und immer tiefer, ins uferlose Blau des Himmels ... sonnenselig ...
ganz still einmal so liegen können
und ohne daß
auch diesem Tag dann wieder vom Kirchturm drüben eine Glocke klingt
und ohne daß
auch dieser Tag dann wieder im Grau der Abenddämmerung untersinkt!


Ende

Verträumt und müde wie ein Schmetterling im September taumelt der Sommer das Gelände entlang. Altweiberfäden wirren sich um seine zerrissenen Flügel und die Blumen, die noch blühen, haben keinen Honig mehr.

Am Hochwald drüben, hinter dem die Sonne glutet, lauert die Nacht, gleich einer großen Spinne, und wie ein engmaschiges Netz hängt sie die Dämmerung vor das verflackernde Abendrot, nach dem der Schmetterling seinen Flug nimmt.


So still und ruhig …

So still und ruhig, so erfüllten Wunsches froh gingen auch wir einst durch die lauten Straßen, langsam, Arm in Arm, und plaudernd, wie man so plaudert, wenn man Sommerabends durch die Straßen schlendert ... ein bißchen aus den Häusern rauszukommen und die Sonne untergehn zu sehen,
draußen, über der Heide, braun und rot ...
es ist so schön, die Sonne untergehn zu sehn und Hand in Hand so, eines stillen Glückes ruhig, im schattenlosen, weichen Licht der Dämmerung zu stehen.

Und nun ist alles, wie vor jenem Sommer:
in Hast und Unruh hetz ich durch den Tag und suche mich in Arbeit zu vergessen und nenne das: Sieg! und nenn es Knabentorheit: seine Zeit an solche Stimmungen und Liebesträume zu vertrödeln!
Und dennoch, wenn ich auf den Straßen dann und wann Zwei gehen sehe, unbekümmert um den Lärm rings plaudernd und so still und ruhig, wie auch wir einst gingen ...
da packt es mich und wie ein Bettler folg ich ihnen, irgend ein paar Worte zu erhorchen, und wie ein Dieb, von ihrem stillen Glück mir was zu stehlen.


Sonnentage


Einzig schöne Tage, Sonnentage der Seele ...
da sie stille liegt in wunschlosem Traum, wie der Märchensee hoch oben in stiller Schwarzwaldberge grüner Einsamkeit!

Keine Welle kräuselt seinen klaren Spiegel ...
nur wenn eine weiße Wasserrose in froher Sonnensehnsucht sich aus seiner Tiefe hebt
oder wenn ein kleiner Vogel, ein Liedchen zwitschernd, über ihn streift, mit leichtem Flügel
oder wenn
ein braunes Reh wo aus den Tannen tritt, an ihm zu trinken.


Aus: Gedichte in Prosa, 1897 Cäsar Flaischlen (* 12. Mai 1864 in Stuttgart; † 16. Oktober 1920 im Sanatorium Horneck in Gundelsheim) war Anfang des 20. Jahrhunderts ein bekannter Lyriker und Mundartdichter.

Das Bild ist von Alseli Gallen-Kallela (1865 - 1931)


Dienstag, 24. Juni 2025

Jura Soyfer: Genfer Abrüstungsrede

 



Genfer Abrüstungsrede

Messieurs! Die Welt hört ab Montag bereits
Außer dem faden Schlachtengetümmel
Lieblich aus der französischen Schweiz
Unserer Friedensglocken Gebimmel.

Verehrte Herren! In heißem Dank
Wird die Menschheit auf uns schauen:
Wir werden der Welt, die vom Rüsten so krank,
Endlich das richtige Pulver brauen!

Wir sitzen bei trautem Kanonengebrumm,
Und in den Lüften (Sie werden's kaum glauben)
Flattern Bombenflugzeuge herum
Und gurren wie richtige Friedenstauben!

Die Friedenspalmen schütteln sich leis ...
Prosit, meine Herren, Sie sollen leben!
(Der Toast gilt zwar nicht den Toten Schanghais,
Doch würde auch sie dieser Anblick erheben.)

Ein Halleluja dem Völkerbund!
Die Kommission wirkt energisch im Osten,
Sie macht bei Gefallnen den Leichenbefund
Und berechnet bei Bombardements die Kosten!

Schluss mit den langen Kriegen ab heut!
Ich höre die Englein Schalmeien blasen ...
Bald ist der menschliche Fortschritt so weit,
Dass wir, meine Herren, mit Sicherheit
Die Menschheit in sechzig Minuten vergasen . . . 

Jura Soyfer, aus: Das Gesamtwerk, Hrsg. Horst Jarka. Europa, Wien 1980

Jura Soyfer wurde am 8. Dezember 1912 in Charkow, Ukraine geboren und starb am 16. Februar 1939 im KZ Buchenwald an Typhus. Er war einer der bedeutendsten politischen Schriftsteller Österreichs in den 1930er Jahren.

Die Genfer Abrüstungskonferenz war eine internationale Konferenz, die vom 2. Februar 1932 bis zum 11. Juni 1934 mit Unterbrechungen in Genf tagte. Das Bestreben der Konferenz, die im Anschluss an die seit 1925 im Jahresturnus tagende Vorbereitende Abrüstungskommission einberufen wurde, bestand darin, das Rüstungsniveau ihrer Teilnehmer „in dem höchsten, mit der jeweiligen nationalen Sicherheit vereinbaren Maße“, zurückzufahren. Das Foto ist vom Februar 1932


Montag, 23. Juni 2025

Emmy Hennings: Verlorenes Paradies

 



Verlorenes Paradies

I

Einmal deuteten unsere Prisma-Augen den Regenbogen.
Offenbarten Gott, der über Bergeskurven ging im Abendfrieden.
Sahen die Engel in den tiefen Tälern leuchten.
Wir verstanden das Murmeln der Geister in den Goldquellen
Und erwiderten die Schneeflockensprache, die aus der Höhe sank.
Wir lugten hell durch die sieben Schleier der Himmel,
Unsere Zärtlichkeit belauschte die keimende Saat,
Blütenverliebt fiel von unseren Lippen das Lob des Schöpfers
Im Namen aller Wälder. . .
Der Morgen sang im Lied der Lerche,
Die frühe Stunde brachte der Sonne den Dank,
Noch im Sinken waren wir lächelnde Osterkinder.

II

Alle lebenden Wesen trugen die süße Bürgschaft der Verkündigung.
Das Tier war unser freundlich Geschwister, demütig und lieb.
O Spielen in den Schlehdornhecken mit Zaunkönig und Schäfchen!
Das Lamm war Kind und neigte schüchtern den Kopf,
Wenn wir vorübergehend grüßten:
„O du weißes Bekenntnis der Menschheit!“
Dann lächelten die braunen Pferde so treu verträumt,
Und in ihren warmen Augen winkte weiches Wünschen.
Da beschützten wir die zarte Hingebung aller Wesen.
Der Mensch, ein Hirtenlied, sang der Sanftmut süße Macht.
Die Welt war Gottes Gruß und Weide.
Des Schlafes grüner Abhang Thron und Traum der ruhenden Natur.

III

Im Nachtschatten aber wuchs der Baum der Erkenntnis.
Kein Tag lieh Licht seiner Irrwischschönheit.
Zwielicht war ihm gegeben zur Versuchung.
Der heimliche Baum, in düsterer Pracht, lockte zweifelumwoben:
„Ihr werdet sein wie Gott.“
Da bezauberten schon die Früchte, lügenrot, ein lohend giftig Züngeln,
Und in verschwiegener Dämmerung ging lüstern das Bedenken durch die Welt.
Da fiel der Sinn, mit ihm versank der Garten Eden.

IV

Jetzt hast du, Menschenkind, dein Glück versagt.
O Suchersehnsucht, warum hast du „Warum“ gefragt.
Die Sonnen grübeln nicht „Woher, wohin?“
Wir tiefen Gräber suchen überall und immer Sinn.
Wir rechnen Tage, und vermessen uns,
Wir sagen Sage und versagen uns.
Wir suchen Wahrheit und versuchen uns.
Wir sind Gedicht und siebenfacher Wahn,
Wir hohen Sternendeuter unsrer Sternenbahn.

Emmy Hennings, aus: Helle Nacht, Gedichte, verlegt bei Erich Reiss, Berlin 1922

Emmy Hennings, geboren am 17. Januar 1885 in Flensburg; gestorben am 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano, Dichterin, unter anderem Mitbegründerin des legendären Cabaret Voltaire 1916 in Zürich.

„Niemals hat die Dichterin auf der Sonnenseite gelebt und es leicht gehabt, vielleicht hat sie es auch niemals ernstlich sich gewünscht. Sie lebt lieber unter den Kämpfenden, Armen, Bedrückten, sie liebt die Leidenden, sie fühlt für die Verfolgten und Rechtlosen. Sie bejaht das Leben auch in seiner Härte und Grausamkeit und liebt die Menschen bis in alle Verirrung und Not hinein.“ Hermann Hesse über Emmy Hennings

Das Bild „Das Paradies“ ist von Augusto Giacometti (1877 - 1947)

René Schickele: Gedichte im Garten

 



Gedichte im Garten


Die Arche

Ich wandere
Am schwarzen Wald entlang
Nachhaus.
Aus einem einzigen Stern am Himmel
Bläst der Wind
Immer den gleichen Funken,
Als fürchte er die Nacht im Wald
Und hüte für das Tal, das sie bedroht,
Dies Lichtlein in der Not.

Plötzlich gießt der Mond
Sein Füllhorn aus!
Der Hügel blüht als Weißdornhecke
An einem See,
Darinnen Dorf und Tal versunken.
Mein weißes Haus, die Arche,
Schwimmt darauf
In atemvoller Stille.
Nicht einmal die Hunde rühren sich,
Da ich den Hof betrete,
Im Traum nur hören sie mich kommen.
Süß beklommen
Öffne ich die Tür und trete
In ein Geheimnis ein . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Im dunklen Zimmer,
Im dunklen Bett,
Die Augen geschlossen,
Im dreifachen Sarg,
Sehe ich den Weißdornhügel,
Von seinem Licht umflossen,
Und, wie es sich von ihm löst,
Mein Haus, meine Arche,
Auf dem breiten Tale schwimmend,
Das wiederum ein See ist
Wie vor tausenden von Jahren.


Weiße Herbstastern

Kleine Nebel, nachtentbunden,
Schwebtet ihr frühmorgens aus dem Tal?
Von der Erde überwunden,
Blühn sie wie ein Stern, doch tausendmal!

Von der Erde angezogen,
Spiegeln Himmel sie am lichten Tag,
Sind dem Tage schon entflogen,
Wo an Nacht kein Herz noch denken mag.

Bebend, wenn der Abendstern aufreitet,
Steigen, schwärmen sie zuhauf,
Und, indes die Nacht sich vorbereitet,
Nehmen sie der Erde Lauf:

Blenden fast, bevor sie blassen,
Weil der Sterne Donnerlicht erscheint,
Weil des Todes Schauer sie umfassen,
Der sie doch dem höhern Bild vereint.


Schicksal

Ich liebe dich -
Das ist wie die Blume,
Die jedes Jahr wiederkommt,
In Treue beflissen,
Sobald der Specht, klopfend,
Sie an ihr Versprechen gemahnt.

Ich liebe dich -
Das ist wie die Blume,
Die vergeht, wenn der Wind,
Ein Bote der Sterne,
Die Vögel, ihre Spielgefährten,
Auf einmal entführt.

René Schickele, aus: Klingsor, Siebenbürgische Zeitschrift, Erstes Jahr April bis Dezember 1924, Klingsor Verlag Kronstadt

René Schickele (1883 – 1940); Dichter aus dem Elsass, setzte sich nach dem ersten Weltkrieg engagiert für die deutsch-französische Aussöhnung ein. Schon 1932 ahnte er, was sich in Deutschland anbahnte und emigrierte nach Südfrankreich. Dort lebte er, bis er einige Monate nach Einmarsch der Wehrmacht am 31. 1. 1940 an Herzversagen starb. Auch seine Werke wurden von den Nationalsozialisten den Flammen übergeben.

Das Bild ist von Else Berg, einer niederländischen Malerin, geboren am 19. Februar 1877, die am 19. November 1942 im KZ Auschwitz Birkenau ermordet wurde.

Freitag, 20. Juni 2025

Hans Schiebelhuth: Liebeslieder

 



Liebeslieder

I.

Für die letzte Erkühnung bleibt noch,
Daß einer über sich wächst,
Die Sonn stürmt,
Des Mondes sich bemächtigt,
Die Sterne einfängt wie Fliegen . . .
Aber was dann?

O, ich liebe die Erde;
Auf ihr will ich bleiben
Jeglichem Wesen gut.
Und wo kein Ausweg mehr ist,
Ist ein Inweg
Und ein Entgegengeschehn,
Dunkel und hell von Begegnung.

O, ich liebe die Erde;
Auf ihr will ich bleiben,
Ihr Glück kommt zu mir,
Ein Kind,
Das mich unschuldig küßt -
Unversehens ists Deine Lippe.


II.

In meiner Brust brennt ein Stück von einem zersprungenen Stern,
Der schien schöner vordem, wenn deine Sonne vorübergeht
Und ich leide Heimweh.
Vielleicht bin ich auch nur eine Waldsage: Das Geflüster des Laubs nach dir,
Oder die leise Bewegung der Blumen gegen den wandernden Strahl
Oder irgend ein letztes verlornes Geschöpf in den Ozeanen des Lichts,
Das für eine Sekund aus Sehnsucht nach dir das Begreifliche streift. . .
Aber Liebe will nicht was ich bin, sondern daß du bist.


Hans Schiebelhuth, aus: Klingsor, Siebenbürgische Zeitschrift, Erstes Jahr April bis Dezember 1924, Klingsor Verlag Kronstadt

Hans Schiebelhuth, 11. Oktober 1895 in Darmstadt; gestorben am 14. Januar 1944 in East Hampton, New York, USA, expressionistischer deutscher Schriftsteller und Übersetzer. Er übersetzte unter anderem sehr früh den amerikanischen Schriftsteller Thomas Wolfe (Schau heimwärts Engel) und sorgte mit seinen Übertragungen dafür, dass Wolfe in Deutschland bekannter war, als in seinem Heimatland.



Das Bild ist von Edvard Munch (1863 - 1944)

Donnerstag, 19. Juni 2025

Christian Friedrich Wagner: Sommersonnenwende

 


Sommersonnenwende

Sag, was kündest du mir, Sonnenwendkraut, leuchtender Busch du?
Nicht Johanniskraut, nein, Lichtheiliger mögest du heißen!
Sommerverkünder, so weit das Auge erfasset die Landschaft.
Lichthell stehet der Rain und sommerlich glühet der Wegsaum,
Borget den Nächten sogar ein mitternachtsonniges Dämmern.

* * *

Stets sich steigert die Glut, daß glitzern die Blätter des Eichwalds
Wie in metallischem Glanz. - Gott! Rosen, ja Rosen in Menge!
Rot und röter und weiß. - Ach, wie ermüdet die Fülle!
Silbrig flimmert die Luft und goldgleich zittert der Sonnball.

Aus: Späte Garben, Gedichte von Christian Wagner, München und Leipzig bei Georg Müller, 1909

Christian Friedrich Wagner, geboren am 5. August 1835 in Warmbronn, Baden-Württemberg; gestorben am 15. Februar 1918 ebenda, Kleinbauer und Dichter.

Seine Stellung zur Kriegslyrik seiner Zeit war eindeutig, wie aus einem Brief an Hermann Hesse hervorgeht: Nachdem er schon mehrfach „um Kriegslieder angegangen worden“ sei, schreibt er weiter: „das Heldentum des Nitroglyzerins erkennen wir [Dichter] nicht an!“ Als der befreundete Dichter und Kriegsdienstverweigerer Gusto Gräser aus Deutschland ausgewiesen werden sollte, setzte er sich für ihn ein. 

Er leidet sehr unter dem fortgesetzten Kämpfen und Töten und wünscht sich, Eremit zu werden. „Ich beklage, dass es in Deutschland keine Wälder mehr gibt, wie im Mittelalter, zur Zeit der Eremiten, in die hinein ich mich verkriechen könnte, um dort nur noch mit frommen Tieren zu leben.“

„Lieber ein barmherziger Heide als ein unbarmherziger Christ“

Emil Arnold-Holm: Die Judengasse

 


Die Judengasse

Um diese Gasse wehn der Schwermut Schwingen.
Schwer lastet auf ihr Vergangenheit.
Zuweilen hörst du alte Lieder singen,
dann ist’s, als weinte tiefes, müdes Leid.
Aus schmalen Fenstern schauen manchmal Kinder
Mit Augen, die traurig und wissend sind.
An einer Straßenecke steht ein Blinder.
Sein flüsterndes Gebet erstirbt im Wind.
Der schwarzen Mädchen rote Lippen dürsten
Nach Glück und Liebe, die sie nie gekannt.
Manchmal siehst Greise du wie stolze Fürsten,
Die man in das Exil verbannt.
Am Sabbat glühn aus allen Fenstern Kerzen,
Bevor die Nacht noch schreitet durch das Tor,
Und flackern leise, wie flammende Herzen,
Im stillen Feierglanz zu Gott empor.

Emil Arnold-Holm, aus: Colin, Amy und Kittner, Alfred (Hrsg.): Versunkene Dichtung der Bukowina, München 1994

Emil Arnold-Holm ist das Pseudonym eines österreichischen Schriftstellers aus den 30er Jahren, dessen Identität nicht völlig geklärt ist; geb. vermutlich 1911 in der Bukowina, 1938 in Wien ermordet. 1955 erscheint der Anthologieband Dein Herz ist deine Heimat, in dem ein Gedicht Arnold-Holms vertreten ist, und wo angegeben wird, es handle sich um einen jungen österreichischen Autor, der bei einem der ersten Pogrome des Jahres 1938 in Wien getötet wurde.

Das Bild „Die Judengasse in Wien“ ist von Hans Götzinger (1867 - 1941)

Mittwoch, 18. Juni 2025

Marianne Dora Rein: Stiller Tag

 



Stiller Tag

Silbern rinnt des Wassers Kühle,
lautlos rauscht die Mittagsschwüle,
und dazwischen
flüstert Wind in den Gebüschen.

Hingelagert ruht die Herde.
Wollnes Vlies schmiegt sich zur Erde.
Über Gräsern
schwebt der Himmel hoch und gläsern.

An den Halmen paarweis hangen
Falter, die sich spielend fangen:
Bunte Waage,
schwer von Liebe, schwer vom Tage.

Abendröte kommt geflossen,
Blumenkelch hat sich geschlossen.
In der Ferne
blinken auf die ersten Sterne.

Marianne Dora Rein, aus: Vier Gedichte, in Der Morgen, Zweimonatschrift der Juden in Deutschland, herausgegeben von Julius Goldstein, Philo-Verlag, Berlin, Heft 5 August 1938

Marianne Dora Rein, geboren am 2. Januar 1911, war eine junge hoffnungsvolle jüdische Dichterin aus Würzburg. Am 27. November 1941 wurde Marianne Rein zusammen mit ihrer Mutter mit dem ersten aus Würzburg abgehenden Transport zusammen mit weiteren 200 Personen, darunter 40 Kindern und Jugendlichen, deportiert. Der Transport ging über Nürnberg nach Riga. Die Deportierten wurden, so eine Überlebende, in den eiskalten Wirtschaftsgebäuden des Jungfernhofes bei Riga untergebracht. Von dort gingen ab Februar 1942 Transporte ab, zuletzt am 26. März 1942 ein Transport mit ca. 1700 Menschen. Alle Abtransportierten wurden am gleichen Tag in einem Wald bei Riga erschossen. Von den im November 1941 aus Franken nach Riga Deportierten haben, soweit bekannt, zwei Personen überlebt.

Das Bild ist von Paul Ranson (1864 - 1909)


Dienstag, 17. Juni 2025

René Schickele: Primavera

 



Primavera

Die Politik des Herzens, sagt, wie nenn ich sie?
Den Geist. Verwirklichung des Herzens? Utopie.

*
Ihr meint, da sei ich weit entfernt von diesen Zeiten?
Seht, wie die Herrn von gestern Arme breiten
Und möchten in die bessre Welt eingehn,
Ein Wind aus Rosenhagen ihrer Narben,
Um reich an Demut wehrlos zu bestehn,
Die elend sie in ihrer Rüstung starben.

René Schickele, aus: Die weißen Blätter, der Novemberausgabe 1918 vorangestellt.

Die weißen Blätter waren eine Monatsschrift, die in ihrem Erscheinungszeitraum von 1913 bis 1920 zu einer der wichtigsten Zeitschriften des literarischen Expressionismus wurde.

1915 übernahm René Schickele die Herausgabe. Von 1916 bis 1917 gab der Verlag Rascher in Zürich die Zeitschrift heraus, 1918 der Verlag der weißen Blätter in Bern, von 1919 bis 1920 publizierte Paul Cassirer die Zeitschrift in Berlin.

René Schickele (1883 – 1940); Dichter aus dem Elsass, setzte sich nach dem ersten Weltkrieg engagiert für die deutsch-französische Aussöhnung ein. Schon 1932 ahnte er, was sich in Deutschland anbahnte und emigrierte nach Südfrankreich. Dort lebte er, bis er einige Monate nach Einmarsch der Wehrmacht am 31. 1. 1940 an Herzversagen starb. Auch seine Werke wurden von den Nationalsozialisten den Flammen übergeben.

Das Foto zeigt den Autor auf der Rheinbrücke in Neuenburg /Literaturmuseum Badenweiler 

Montag, 16. Juni 2025

Rudolf Fuchs: Der Flüchtling

 



Der Flüchtling

Das Haus war starr von Nacht und scharfen Waffen,
und Brandgeruch belagerte den Zaun,
als er, das Schicksal sich vom Hals zu schaffen,
sich unter blasse Sterne konnte traun.
Und als die Schritte langsamer sich fanden
und böser Aufruhr wie ein Traum verblich,
erblickte er sich bange auferstanden,
und seine wehen Worte sangen sich:

„Wie vieles nannt ich Du vor diesen Tagen!
Und wieder harrt die Pforte angelweit,
nichts wehrt mir, mich mit Kränzen umzutragen
für Mädchen, Himmel, Baum und Abendzeit,
für bunte Fahnen, die im Taumel wehen
und für die Schatten, welche immerzu
den Feiertagen sich entgegendrehen -
Ich aber zu mir selber sage: Du!“

Und also ausgestoßen aus der Mitte
berührte er den steilen Küstenstrich,
Gerölle taumelte um seine Schritte,
und unten schrie die Brandung.
Dem Sturme überließ er seine Schwelle
(die arme Wohnung atemlos und leer)
und mündete im Augenblick der Welle
aus seiner Wunde in das große Meer.

Rudolf Fuchs, aus: Die weißen Blätter, Dezember 1916

Rudolf Fuchs, geboren am 5. März 1890 in Poděbrady, Mittelböhmen, Österreich-Ungarn; gestorben am 17. Februar 1942 in London war deutsch-tschechoslowakischer Dichter und Übersetzer. Sein erster Gedichtband erschien 1913 in Heidelberg, bis zu seinem Tod im Exil in London, wo er bei einem Bombenangriff starb, sollten noch zwei weitere folgen. Sein letzter war "Gedichte aus Reigate", dessen erstes Gedicht die "Variationen nach Heinrich Heine" waren. Dass er ausgerechnet am Todestag des von ihm verehrten Dichters selber starb, und auch im Exil, wenn auch nicht in Paris, sondern in London, ist vielleicht eine Ironie der Geschichte. . .

Die weißen Blätter waren eine Monatsschrift, die in ihrem Erscheinungszeitraum von 1913 bis 1920 zu einer der wichtigsten Zeitschriften des literarischen Expressionismus wurde.

1915 übernahm René Schickele die Herausgabe. Von 1916 bis 1917 gab der Verlag Rascher in Zürich die Zeitschrift heraus, 1918 der Verlag der weißen Blätter in Bern, von 1919 bis 1920 publizierte Paul Cassirer die Zeitschrift in Berlin.



Das Bild ist von John Macallan Swan (1846 - 1910)

Sonntag, 15. Juni 2025

Carl Wolff: Leg eine Muschel an dein Ohr / Franziska Stoecklin: Die singende Muschel

 



Leg eine Muschel an dein Ohr

Leg eine Muschel an dein Ohr,
wie Kinder tun und lächelnd lauschen —
du hörst der Wellen singenden Chor,
Du hörst das Meer
von altersher
noch immer leise rauschen.

So lebt in deinem Innern auch
von deiner Jugend Spiel und Singen
doch immer noch ein seliger Hauch.
Lausch' nur zurück,
du hörst das Glück
noch immer leise klingen.

Carl Wolff (1884 - 1938), aus der Sammlung „Auf stillen Wegen“ Gedichte. Verlag Chr. Adolff, Altona-Ottensen 1920


Die singende Muschel

Als Kind sang eine Muschel
mir das Meer.
Ich konnte träumelang
an ihrem kühlen Munde lauschen.
Und meine Sehnsucht wuchs
und blühte schwer,
und stellte Wünsche und Gestalten
in das ferne Rauschen.

Franziska Stoecklin, aus: Die singende Muschel, 1. Auflage 1925

Franziska Stoecklin, Lyrikerin, Erzählerin, Malerin, wurde am 11. 9. 1894 in Basel geboren und starb am 1.9.1931 ebendort.

1920 hatte sie einen ersten Gedichtband veröffentlicht. Es folgten zwei Bände mit lyrischer Prosa und 1925 ein weiterer Gedichtband Die singende Muschel. Die Themen ihrer Lyrik sind Traum, Liebe, Tod und Natur, wobei im ersten Band die Liebeslyrik dominiert, während im zweiten Band das Thema Tod in den Vordergrund tritt. Sie war unter anderem mit der Dichterin Emmy Hennings befreundet.

Das Bild ist von Étienne Adolphe Piot (1831 – 1910)

Freitag, 13. Juni 2025

Lisa Baumfeld: Rosen

 



Rosen


Es drängt mein Selbst, das blütenlose,
Voll Sehnsucht ewig nach der Rose,
Die schlank in blonde Lüfte taucht,
Und tiefe, süße Freude haucht!

Ich wollt' an ihrem Kelche singen,
Von Brisen, Thau und Schmetterlingen;
Und all das weite, bange Leben
Sollt' mich ein Rosenduft umschweben ...

Lisa Baumfeld, geboren am 27. April 1877 in Wien; gestorben am 3. Februar 1897 ebenda)

Lisa Baumfeld erkrankte schwer und verstarb innerhalb weniger Tage im Alter von 19 Jahren in Wien. Postum gab Ferdinand Groß 1899 eine Sammlung ihrer Gedichte unter dem Titel Gedichte heraus.

Donnerstag, 5. Juni 2025

Margarete Beutler: Abwehr

 


Abwehr

Wer bin ich, daß sich tausend Hände strecken,
Begehrliche und grobe Männerhände,
Nach meinem Leib, der nur zu blühen trachtet,
Selig zu blühen, wenn der Geist ihn segnet,
Und seine goldene Zeit sich still erfüllt! -

Wer bin ich, daß sich tausend Hände strecken,
Gierige und verschmutzte Alltagshände,
Nach meiner Seele, die der Feinsten eine,
Die mit dem Grase zittert unterm Weste,
Und Andacht hält in einem Lerchenliede! -

Aus: Neue Gedichte von Margarete Beutler
Bruno Cassirer Verlag Berlin 1908

Margarete Beutler, geboren am 13. Januar 1876 in Gollnow, Provinz Pommern; starb am 3. Juni 1949 in Gammertingen auf der Schwäbischen Alb. Sie wirkte als Lyrikerin und Übersetzerin aus dem Französischen. In den Schriften zum „Café Größenwahn“ und zum „Romanischen Café“, wo sie gerne verkehrte und bekannt war, wird erwähnt, dass sie 1925 „verschollen“ sei. Nach der Geburt ihres Sohnes lebte sie mit ihrem Mann, Friedrich Freksa, einem Roman- und Krimiautor, in München. Beutler war unter aanderem befreundet mit den Autoren Christian Morgenstern und Frank Wedekind. Nach ihrer Scheidung lebte sie zurückgezogen. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten entschied sie sich gegen einen Eintritt in die Reichsschrifttumskammer. Sie zählte sich selbst zur Bohème. Gedichte aus ihrem ersten Gedichtband (1902) sind auch in die Gedichtsammlung Lieder aus dem Rinnstein von Hans Ostwald (Hrsg.) aufgenommen worden.

Montag, 17. März 2025

Käthe Leichter: An meine Brüder in den Konzentrationslagern

 


An meine Brüder in den Konzentrationslagern

Bruder, stehst auch Du des Morgens frierend beim Appell
Wir stehen stumm in Zehnerreihen, im Osten wird es langsam hell,
Steil ragt der Wald, wir atmen die Luft in vollen Zügen,
Um Kräfte zu sammeln für den Tag, denn keiner von uns will unterliegen.
Da flammt’s im Osten seltsam auf, als stünde die Welt in Flammen,
Wir nehmen es als gutes Zeichen – bricht wirklich bald alles zusammen?

Und dann stehen wir wieder stumm, nur die Fäuste geballt,
Ich in Ravensbrück, du in Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald.
Bruder stehst auch Du des Tags mit der Schaufel in der Hand?
Wird es denn nicht Mittag, nimmt denn heut kein Ende der Sand?
Oder schleppst auch Du wie ich große, schwere Steine?
Schmerzt auch Dich der Rücken, brennen Dir Arme und Beine?
Sieh, Du bist doch Mann, bist gewohnt ans harte Schlagen,
Ich bin schwächer, und mein Leib hat Kinder schon getragen.
Wie denkst Du, Bruder, über sie, über unser Kinder Leben?
Werden Schläge und Strafblock stets als Ordnung darüber schweben?
Ach, schon geht es weiter – doch im Herzen Hoffnung und Halt,
Ich in Ravensbrück, Du in Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald.

Oh, Bruder, einmal kommt der Morgen, wo uns kein Appell mehr hält,
Wo weit offen die Tore, und vor uns liegt die große, freie Welt,
Und dann werden wir KZler auf der breiten Straße wandern,
Draußen stehn die Befreier, auf uns warten schon die andern,
Und wer uns sieht, sieht die Furchen, die das Leid uns ins Antlitz geschrieben,
Sieht Spuren von Körper- und Seelenqual, die uns als Mal geblieben.
Und wer uns sieht, sieht den Zorn, der hell in den Augen blitzt,
sieht den juchzenden Freiheitsjubel, der ganz unsere Herzen besitzt.
Und dann reihen wir uns ein in die letzte große Kolonne,
Dann heißt es zum letzten Mal „Vorwärts marsch“ –
doch dann führt der Weg zum Licht und zur Sonne.
Oh, Bruder, siehst Du gleich mir diesen Tag, Du mußt doch denken, er kommt bald-
Und dann ziehen wir, ich aus Ravensbrück, Du aus Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald.

Käthe Leichter (* 20. August 1895 als Marianne Katharina Pick in Wien; † 17. März 1942 in der NS-Tötungsanstalt Bernburg, Deutsches Reich) war eine österreichische Sozialwissenschaftlerin, sozialistische Gewerkschafterin und Gründerin und Leiterin des Frauenreferats der Wiener Arbeiterkammer.

Samstag, 8. Februar 2025

Hans Ostwald: Schicksenliebe / Ada Christen: Not

 




Schicksenliebe

Er fand sie beim Dorfe im Straßengraben:
Mädel, dich möchte ich zur Schickse haben!
Sie lachte.

Sie lachte laut und hängte sich an:
Ach, endlich habe auch ich einen Mann!
Und lachte.

Und lachte, als er ihr suchend gebot,
zu betteln um Geld, zu betteln um Brot.
Und lachte.

Er hat sie nach Rußland hinein verschleppt,
wo man wohl hängt, doch keinen köppt.
Sie lachte.

Sie lachte, als ihr das Tuch fortgenommen
und sie vor Kälte fast umgekommen.
Oh, lachte!

Oh - lachte, als er sie mit Füßen trat
und sie den letzten Atemzug tat.
Ja - lachte - - -

Hans Ostwald, aus: Lieder aus dem Rinnstein, gesammelt von Hans Ostwald, Karl Henckell & Co, Berlin 1903

Hans Otto August Ostwald, geboren am 31. Juli 1873 in Berlin; gestorben am 8. Februar 1940 ebendort), Journalist, Erzähler und Kulturhistoriker.

Nach einer Lehre als Goldschmied arbeitete er nur für kurze Zeit in diesem Beruf, bis er 1893 arbeitslos wurde. Danach vagabundierte er als wandernder Handwerksbursche für ungefähr 18 Monate durch Deutschland. Über seine Erlebnisse im Landstreichermilieu führte er ein Tagebuch, das er später, ermuntert durch Felix Holländer, zu dem Roman Vagabonden (später unter: Vagabunden. Ein autobiographischer Roman) umarbeitete.

Bedeutend für die Schaffung eines eigenständigen sozialen deutschen Chansons war die Sammlung der Lieder aus dem Rinnstein, in der die Ausgestoßenen der Gesellschaft mit ihren meist anonymen Liedern zu Wort kamen. Hier wurden Sprachschichten für die Lyrik erschlossen, die bisher auch in den Volksliedersammlungen nicht vertreten waren.

Lieder aus dem Rinnstein ist der Titel einer deutschsprachigen Lied- und Gedichtsammlung, die in drei Einzelbänden 1903, 1904, 1906 von Hans Ostwald herausgegeben wurde. Ein Auswahlband erschien 1920.

Die Textsammlung der Lieder aus dem Rinnstein beginnt mit der Zeit der Bauernkriege. Es folgen Gedichte von Schiller, Goethe, Heine, von damals bekannten Autoren wie Frank Wedekind, Karl Henckell, Peter Hille und anderen. Ebenso aber auch Texte von (damals weniger bekannten) jungen Talenten wie Else Lasker-Schüler: „…ich bin 1876 zu Elberfeld geboren. Mein Buch ‚Styx‘ (Gedichte) kam 1902 bei Axel Juncker, Berlin, heraus…“ und Erich Mühsam. Sein erstes veröffentlichtes Gedicht Amanda ist darin auch zu finden. Über ihn steht zu lesen: „…1902–1903 Redakteur des „Armen Teufel“ in Friedrichshagen. Lebt jetzt in Wilmersdorf … Ein Buch ist bisher noch nicht erschienen.“ Weitere heute weniger bekannte Autoren waren Margarete Beutler, Ada Christen und Martin Drescher.

Zu den „Liedern aus dem Rinnstein“ gehören weit mehr als nur Dirnenlieder, (so benannt nach Hans Ostwalds Buch Das Berliner Dirnentum, Leipzig 1905–1907). Es finden sich auch Liebeslieder, Lieder aus der Not und aus den unteren sozialen Klassen und gesellschaftlichen Randgruppen, Moritaten, im weitesten Sinne Naturalismus, Expressionismus und Verfemung. (Wiki)

Not

All euer girrendes Herzeleid
tut lange nicht so weh
wie Winterkälte im dünnen Kleid,
die bloßen Füße im Schnee.
All eure romantische Seelennot
schafft nicht so herbe Pein
wie ohne Dach und ohne Brot
sich betten auf einen Stein.

Ada Christen (1839 - 1901), aus: Lieder aus dem Rinnstein, gesammelt von Hans Ostwald, Karl Henckell & Co, Berlin 1903. Die Dichterin Ada Christen wusste, wovon sie schreibt, hatte sie doch selbst mehrmals im Leben bittere Not kennen lernen müssen.


Samstag, 25. Januar 2025

Lessie Sachs: Unzureichend

 


Unzureichend

Lass mich in Ruhe, Du bist kein junger Gott.
Ich muß mit Dir mich auseinandersetzen.
Du bist, das glaube mir, für mich zu flott.
Du wirst bald kühl; dann wirst Du mich verletzen.

Du bist sehr schön; sehr schillernd, glatt, gewandt,
Doch, leider Gottes, hast Du Deine Grenzen.
Für einen Abend warst Du interessant. -
Sei mir nicht bös´! Ich zieh´ die Konsequenzen. . .

Und folglich wirst Du mich nicht wiedersehn;
Ich mochte sonst Dich wirklich recht gut leiden;
Jedoch wer möchte über Glatteis gehn?
Solange man nicht muß - soll man´s vermeiden.

Aus: Lessie Sachs Collection 1, Leo Baeck Institute New York

Lessie Sachs, geboren am 5. September 1897 in Breslau, gestorben Anfang 1942 in New York City/ USA, Dichterin und Malerin.

Am 5. 9. 1897 wird die Dichterin Lessie Sachs in Breslau geboren. Sie besuchte zunächst die Kunstgewerbeschule in ihrer Heimatstadt Breslau, dann in München. Dort wird sie wegen pazifistischer Aktionen in der Zeit der Räterepublik vorübergehend inhaftier. Sie kehrt nach Breslau zurück und leitet dort ein Atelier für Seidenmalerei.

Ihre Gedichte und Prosatexte erscheinen in Zeitschriften wie dem Simplizissimus, Uhu und der Vossischen Zeitung, als auch in Anthologien. 1933 heiratet sie den 12 Jahre jüngeren Breslauer Pianisten Josef Wagner.

Im Dezember 1932 präsentiert Josef Wagner in Breslau seine Kompositionen zu Gedichten von Lessie Sachs.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kann Josef Wagner seinen Beruf nicht mehr ausüben; Gedichte von Lessie Sachs dürfen nicht mehr erscheinen. 1937 verlassen beide Deutschland und emigrieren nach Amerika.

Über die wenigen Jahre bis zu ihrem frühen Tod 1942 gibt es kaum biographische Hinweise. In den USA schreibt Lessie Sachs für die deutschsprachige jüdische Wochenzeitung Aufbau.
Lessie Sachs stirbt Anfang 1942 nach langjähriger Krankheit.

Zwei Jahre später veröffentlicht das von Friederike Zweig geleitete "Writers Service Center" posthum die Tag- und Nachtgedichte, eine kleine Auswahl aus ihrem lyrischen Werk.

Das Leo Baeck Institut (LBI) ist eine unabhängige Forschungs- und Dokumentationseinrichtung für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums mit drei Teilinstituten in Jerusalem, London und New York City mit Zweigstelle in Berlin. Es wurde 1955 von Hannah Arendt, Martin Buber, Siegfried Moses, Gershom Sholem, Ernst Simon und Robert Weltsch gegründet und setzt sich zum Ziel, deutsch-jüdische Geschichte und Kultur wissenschaftlich zu erforschen und ihr Erbe zu bewahren.

Das Bild „Der Mann“ ist von 1920 ist von Hugo Scheiber (1873 - 1950)

Mittwoch, 22. Januar 2025

Else Lasker-Schüler: Ballade

 



Ballade

Aus dem Sauerländischen

Er hat sich in ein verteufeltes Weib vergafft.
    In sing Schwester!

Wie ein lauerndes Katzentier
kauerte sie vor einer Tür
    und leckte am Geld seiner Schwielen.

Im Wirtshaus bei wildem Zechgelag´
saß er und sie und zechten am Tag
    mit rohen Gesellen.

Und aus dem roten, lodernden Saft
stieg er, ein Riese, aus zwergenhaft
    verkümmerten Gesellen.

Und ihm war, als blickte er meilenweit,
und sie schlürfte den Wahn seiner Trunkenheit
    und lachte!

Und eine Krone von Felsgestein
von golddurchadertem Felsgestein,
    wuchs ihm aus seinem Kopf.

Und die Säufer kreischten über den Spaß:
„Gott verdamm mich, ich bin der Santanas!“
    Und der Wein sprühte Feuer der Hölle.

Und die Stürme brausten wie Weltuntergang,
und die Bäume brannten am Bergeshang,
    es sang die Blutschande. . .

Und sie holten ihn um die Dämmerzeit,
und die Gassenkinder schrie´n vor Freud´
    und bewarfen ihn mit Unrat.

Seitdem spukt es in dieser Nacht,
und Geister erscheinen in dieser Nacht,
    und die frommen Leute beten. -

Sie schmückte mit Trauer ihren Leib,
und der reiche Schankwirt nahm sie zum Weib,
    gelockt vom Sumpf ihrer Tränen.

- Und mit der schweren Rotsucht im Blut
wankt um die stöhnende Dämmerglut
    gespenstisch durch die Gassen,

wie leidender Frevel,
wie das frevelnde Leid,
    überaltert dem lässigen Leben.

Und er sieht die Weiber so eigen an,
und sie fürchten sich vor dem Stillen Mann
    mit dem Totenkopf.

Else Lasker-Schüler, geboren am 11. Februar 1869 in Elberfeld, gestorben am 22. 1. 1945 in Jerusalem, aus: Lieder aus dem Rinnstein, gesammelt von Hans Ostwald, Karl Henckell & Co, Berlin 1903

Das Bild ist von Ernst Stoehr (1860 - 1917)

Sonntag, 19. Januar 2025

Gertrud Epstein: In fremder Stadt

 



In fremder Stadt

Dies lieb ich: In fremder Stadt zu gehn,
Menschen, Fenster, Häuser zu sehn,
Die nicht Schmerz, Enttäuschung, Erwartung für mich tragen,
Keine Tür düster, wo ich einst glaubte: Licht.
Keine Leere, wo ich glaubte: Quelle, Gesicht.
Museen, Dome. Zur Seite geht
Der Schließer. Sprache, die man nicht versteht.
Träumerisch, gut, tropft der fremde Laut,
Ein Altar dunkelt, ein Gottesmantel blaut.
Museen, Marmor, Thorwaldsen, Dante,
Mailand, Verona oder Kopenhagen,
„Plade“ oder „Pizza“, alle tragen
Weite, barmherzige Fremde im Gesicht.
Da: Leute mit bedrängtem Eigengesicht -
Gibt´s das hier auch? Konflikt, Bindung, Beruf -
Eine Treppe, die man mit Bangen besteigt?
Gesichter, die Glück oder Enttäuschung bergen?
Nähe, Nächstes in Stuben und Särgen - ?
Doch nicht für mich! Am Tischchen im Café,
Ganz vor, wo ich den Hafen überseh´,
Oder das Rathaus mit den Lurebläsern davor:
Kommt mir alles als gnädige Ferne vor.
Die Heimat, die irgend hinüberlangt
Ist fern; und wiegend erfüllt und verklärt.
Alles Distanz - der Fremde gütige Einsamkeit.
Eines Tages steht sein Schiff, ein Zug bereit.
Zwölf oder zwanzig Stunden, dann ist man da.
Menschen, Beruf, Hochbahn - alles wieder nah.
Gesichter, die Enttäuschung bringen -
Treppen, die man bedrängt besteigt.
Gesichter, die doch vielleicht Erfüllung klingen?
Aller Besitz, aller Verlust ist wieder bereit,
Alles Nähe, und - der Nähe Einsamkeit.

Gertrud Epstein, aus: Vossische Zeitung, 23. September 1932

Im „Buch der Erinnerung“ der ins Baltikum deportierten Juden sind unter den Berliner Deportierten nach Riga vom 19. Januar 1942 Gertrud Epstein verzeichnet, geboren am 24. August 1885, wohnhaft Uhlandstraße 60 (Wilmersdorf), sowie vom 25. Januar Margarete Eloesser, geboren am 13. Mai 1881, wohnhaft Marburger Straße 9a (Charlottenburg), Witwe des 1938 verstorbenen Berliner Germanisten und Journalisten Arthur Eloesser. Es waren die dritte und vierte Deportation

Als „schüchterne, dunkle, junge Frau“ beschreibt die Vossische Zeitung Gertrud Epstein 1928, als ihre Erzählung „Hiob“ im Rahmen der „Morgenfeier der Jugend“ in der Funkstunde übertragen wurde14 . Die Erzählung ist bereits 15 Jahre vorher erschienen, Gertrud Epstein 43 Jahre alt. Es ist ihr einziger bekannter Auftritt in der Öffentlichkeit. Weitere Buchveröffentlichungen nach „Hiob“ sind bisher nicht nachweisbar, auch kein Bild von ihr, Einzelheiten über ihr Leben nur sehr spärlich überliefert. Dass sie vom Judentum zum Christentum konvertiert sei, meldet das „literarische Echo“ in seiner Besprechung von Hiob 1913. Dass sie Kindergärtnerin ist, kann man dem Fragebogen zu ihren Vermögensverhältnissen entnehmen, den sie ein paar Tage vor ihrer Deportation am 2. Januar 1942 ausfüllen musste.

Was bleibt sind zwei Bücher mit Erzählungen, etwas mehr als 20 Texte und Gedichte in der Vossischen Zeitung und Andeutungen darüber, dass es mehr Texte geben muss, irgendwo in alten Zeitungen verborgen.

Das Bild ist von Hans Balutschek (1870 - 1935)

Mittwoch, 15. Januar 2025

Georg Heym: Die Ruhigen; Ernst Balcke: Sommertage noch im Herbst

 



Die Ruhigen


Ernst Balcke gewidmet


Ein altes Boot, das in dem stillen Hafen
Am Nachmittag an seiner Kette wiegt.
Die Liebenden die nach den Küssen schlafen.
Ein Stein, der tief im grünen Brunnen liegt.

Der Pythia Ruhen, das dem Schlummer gleicht
Der hohen Götter nach dem langen Mahl.
Die weiße Kerze, die den Toten bleicht.
Der Wolken Löwenhäupter um ein Tal.

Dass Stein gewordene Lächeln eines Blöden.
Verstaubte Krüge, drin wohnt noch der Duft.
Zerbrochne Geigen in dem Kram der Böden.
Vor dem Gewittersturm die träge Luft.

Ein Segel, das vom Horizonte glänzt.
Der Duft der Heiden, der die Bienen führt.
Des Herbstes Gold, das Laub und Stamm bekränzt.
Der Dichter, der des Toren Bosheit spürt.

Georg Heym, aus: Dichtungen, Kurt Wolff Verlag, München 1922


Sommertage noch im Herbst

Das ist das Wunderbare dieser Tage,
Dass sie uns rühren wie geliebter Kranker
Genesungen und Wiederblühendwerden.

Wie wenn ein Vogel, der de Sommer lang
Die süßen Lieder seines Lebens sang,
Noch einmal sich aus dem Gebüsche höbe,
Wir aber meinten, dass der feuchte Wind
Des ersten Herbstes ihn schön längst getragen
zu wärmerer Länder lächelnden Gestaden.

Und doch ist dieser letzten Tage Gold
So müde uns, als ob ein letztes Echo,
Das tot wir glaubten, plötzlich sich noch einmal
In einem tiefen, fernen Grund entschleiert
Um unsere fast vergessene Rufe rollt.

Das ist wie Sonnenlicht auf ganz verfallenen
Gemäuern düsterer Burgen, das den Ruhm
Der großen Zeit aus seinen Winkeln weckt,
Den Gang der Frauen an hellen Märztagen,
Die ganz verlorenen Klängen alter Harfen,
Und eine Bangigkeit vor Leben.

Ernst Balcke, aus: Die Aktion 03, Jahrgang 1913

„Er (Ernst Balcke) ist der einzige Mensch, der hinter der äußeren Schale meines kindischen Wesens, das Höhere herausfühlt. Auch ist er gut und ist auch ein Ringender zur Schönheit.“ Georg Heym in seinem Tagebuch vom 15. Mai 1905

Als am 16. Januar 1912 Ernst Balcke und Georg Heym auf der Havel Schlittschuhlaufen waren, verließen sie den markierten Sicherheitsbereich. Balcke geriet in ein Loch, das für Eisvögel in das Eis geschlagen worden war, schlug mit dem Hinterkopf auf und verlor das Bewusstsein. Der ihm zu Hilfe eilende Heym brach ebenfalls ins Eis ein und kämpfte noch eine halbe Stunde lang ums Überleben, bevor er selber im Eis versank.

Zur Erinnerung an Margarete Susman

 



Meine Seele ist leiderprobt.
Sie schritt durch ein tiefes Meer von Leid;
Tausend Tropfen blieben
An ihren Fittichen hängen.

Wenn meine Seele ihre Schwingen hebt
Über Euch, meine Brüder,
Fallen die Tropfen im Sonnenschein
Leuchtend nieder.
Mögen sie sanfter kühlender Tau
Allen brennenden Wunden sein -
Dann will ich segnen den dunklen Weg,
Segnen das tiefe Meer.

* * *

So in die still verschneite Nacht
Blick´ ich hinaus;
Die alte Sehnsucht ist erwacht
Und singt und flüstert, weint und lacht
Und lacht mich aus.

Sie zieht um mich den Zauberkreis
Von Wunsch und Wahn;
Sie spricht wie Du so scheu und leis;
Sie starrt mich an so traurig heiß,
Wie Du getan.

Aus: Mein Land, Gedichte von Margarete Susman, Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig 1901

Margarete Susman, geboren am 14. Oktober 1872 in Hamburg; gestorben am 16. Januar 1966 in Zürich, Religionsphilosophin, Kultur-Essayistin und Poetin. Sie schrieb zuerst Lyrik, dann Bücher und Essays über Dichtung, Feminismus, die Revolution sowie über das Judentum, seine Religion und seine Stellung in einer christlichen Umwelt.

1901 erschien ihr erster Gedichtband Mein Land. Bereits 1907 war ihr zweiter Lyrikband Neue Gedichte erschienen. 1912 zog sie in die Schweiz nach Rüschlikon bei Zürich, wohin sie nach einem Aufenthalt in Frankfurt von 1915 bis 1917, zurückkehrte. 1907 erschien Die Liebenden. Nach der Trennung von ihrem Ehemann, mit dem sie eine Zeit bei Säckingen in einem Bauernhaus gelebt hatte, zog sie nach Arosa, von wo sie später nach Deutschland zurückkehrte.

Nach dem I. Weltkrieg engagierte sie sich für die sozialen und politischen Ziele der Frauenbewegung und forderte in kritischer Wendung gegen das Frauenbild der jüdisch-christlichen Tradition, aber auch gegen die männerbündische Ausrichtung des Georgekreises die Schaffung eines weiblichen Selbstbildes.1918 erschien ihr Vortrag Die Revolution und die Frau. Ab 1926 war sie ständige Mitarbeiterin von „Der Morgen. Monatsschrift der deutschen Juden“.

Nach der Machtübernahme Adolf Hitlers emigrierte sie sofort in die Schweiz, wo sie im Kreis des Theologen Leonhard Ragaz mitwirkte und ab 1935 für dessen Zeitschrift „Neue Wege“ schrieb. Die Erfahrung des radikalen Antisemitismus und des Holocaust – ihre bereits seit 1934 verwitwete Schwester Paula Hammerschlag (1870–1942) hatte sich, als die Deportationen begannen, das Leben genommen – verstärkte noch ihre bereits in den 20er Jahren in die Wege geleitete religiös motivierte Hinwendung zur jüdischen Spiritualität. Bis zu ihrem Tod lebte sie in einer kleinen Dachwohnung in Zürich. Ihre politischen Aktivitäten gegen den Nationalsozialismus riefen die Schweizer Fremdenpolizei auf den Plan, die ihr, einer Ausländerin, ein Rede- und Publikationsverbot auferlegten.


Samstag, 11. Januar 2025

Annette von Droste-Hülshoff: Ein milder Wintertag

 



Ein milder Wintertag

An jenes Waldes Enden,
Wo still der Weiher liegt
Und längs den Fichtenwänden
Sich lind Gemurmel wiegt;

Wo in der Sonnenhelle
So matt und kalt sie ist,
Doch immerfort die Welle
Das Ufer flammend küßt:

Da weiß ich, schön zum Malen,
Noch eine schmale Schlucht,
Wo all die kleinen Strahlen
Sich fangen in der Bucht;

Ein trocken, windstill Eckchen
Und so an Grüne reich,
Daß auf dem ganzen Fleckchen
Mich kränkt kein dürrer Zweig.

Will ich den Mantel dichte
Nun legen übers Moos,
Mich lehnen an die Fichte
Und dann auf meinen Schoß

Gezweig' und Kräuter breiten,
So gut ich's finden mag:
Wer will mir's übel deuten,
Spiel ich den Sommertag!

Will nicht die Grille hallen,
So säuselt doch die Ried;
Sind stumm die Nachtigallen,
So sing' ich selbst ein Lied.

Und hat Natur zum Feste
Nur wenig dargebracht:
Die Lust ist stets die beste,
Die man sich selber macht.

Annette von Droste- Hülshoff (geboren am 12., nach anderen Quellen am 10. Januar 1797, gestorben am 24. Mai 1848), aus: Die schönsten Gedichte, I
nsel Taschenbuch 4525

Bild: Caspar David Friedrich (1774  -  1840)