Meine Seele ist leiderprobt.
Sie schritt durch ein tiefes Meer von Leid;
Tausend Tropfen blieben
An ihren Fittichen hängen.
Wenn meine Seele ihre Schwingen hebt
Über Euch, meine Brüder,
Fallen die Tropfen im Sonnenschein
Leuchtend nieder.
Mögen sie sanfter kühlender Tau
Allen brennenden Wunden sein -
Dann will ich segnen den dunklen Weg,
Segnen das tiefe Meer.
* * *
So in die still verschneite Nacht
Blick´ ich hinaus;
Die alte Sehnsucht ist erwacht
Und singt und flüstert, weint und lacht
Und lacht mich aus.
Sie zieht um mich den Zauberkreis
Von Wunsch und Wahn;
Sie spricht wie Du so scheu und leis;
Sie starrt mich an so traurig heiß,
Wie Du getan.
Aus: Mein Land, Gedichte von Margarete Susman, Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig 1901
Margarete Susman, geboren am 14. Oktober 1872 in Hamburg; gestorben am 16. Januar 1966 in Zürich, Religionsphilosophin, Kultur-Essayistin und Poetin. Sie schrieb zuerst Lyrik, dann Bücher und Essays über Dichtung, Feminismus, die Revolution sowie über das Judentum, seine Religion und seine Stellung in einer christlichen Umwelt.
1901 erschien ihr erster Gedichtband Mein Land. Bereits 1907 war ihr zweiter Lyrikband Neue Gedichte erschienen. 1912 zog sie in die Schweiz nach Rüschlikon bei Zürich, wohin sie nach einem Aufenthalt in Frankfurt von 1915 bis 1917, zurückkehrte. 1907 erschien Die Liebenden. Nach der Trennung von ihrem Ehemann, mit dem sie eine Zeit bei Säckingen in einem Bauernhaus gelebt hatte, zog sie nach Arosa, von wo sie später nach Deutschland zurückkehrte.
Nach dem I. Weltkrieg engagierte sie sich für die sozialen und politischen Ziele der Frauenbewegung und forderte in kritischer Wendung gegen das Frauenbild der jüdisch-christlichen Tradition, aber auch gegen die männerbündische Ausrichtung des Georgekreises die Schaffung eines weiblichen Selbstbildes.1918 erschien ihr Vortrag Die Revolution und die Frau. Ab 1926 war sie ständige Mitarbeiterin von „Der Morgen. Monatsschrift der deutschen Juden“.
Nach der Machtübernahme Adolf Hitlers emigrierte sie sofort in die Schweiz, wo sie im Kreis des Theologen Leonhard Ragaz mitwirkte und ab 1935 für dessen Zeitschrift „Neue Wege“ schrieb. Die Erfahrung des radikalen Antisemitismus und des Holocaust – ihre bereits seit 1934 verwitwete Schwester Paula Hammerschlag (1870–1942) hatte sich, als die Deportationen begannen, das Leben genommen – verstärkte noch ihre bereits in den 20er Jahren in die Wege geleitete religiös motivierte Hinwendung zur jüdischen Spiritualität. Bis zu ihrem Tod lebte sie in einer kleinen Dachwohnung in Zürich. Ihre politischen Aktivitäten gegen den Nationalsozialismus riefen die Schweizer Fremdenpolizei auf den Plan, die ihr, einer Ausländerin, ein Rede- und Publikationsverbot auferlegten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen