Mittwoch, 31. Mai 2023

Lili Grün: Notschrei einer allzu Braven / Mädchenhimmel; Alma Johanna Koenig: Trennung / Bahnfahrt am Abend

 



Notschrei einer allzu Braven


Ach, ich geh mir selber auf die Nerven,
Weil ich gar so artig bin,
Und voll unentwegter Pflichterfüllung
Steck ich stets in meiner Arbeit drin.

Niemals tu ich einen Schritt vom Wege,
Nicht einmal in meinen Träumen hintergeh
Meinen Mann ich, und die Leute sagen,
Dass man sowas nur begeisternd finden kann.

Doch dies ew´ge Schulterklopfen
Find´ ich unerträglich und gemein,
Und ich fleh zum blauen Sommerhimmel:
Herrgott, lass mich einmal anders sein!

Lass mich tolle Kapriolen schlagen,
Lass mich lasterhafte Dinge sagen,
Lass mit angeklebten Wimpern
Meine Äuglein herzlos klimpern,
Lass mich faul auf meinem Diwan liegen,
- Und in diesem Zeichen - Herrgott! -
Lass mich siegen!

Niemand kann sich selbst entrinnen,
Brav bleibt brav und schlimm bleibt schlimm -
Und die andern sind die Schlimmen -
- Wenn ich noch so neidisch bin!

Lili Grün, aus: Prager Montagsblatt 1935


Mädchenhimmel

Wenn ich auch nichts von den Dingen versteh´,
Eins weiß ich ganz genau:
Es gibt ein eigenes Paradies für die Frau.
Für uns, die wir den ganzen Tag dienen
In dunklen Büros bei den Schreibmaschinen.

Dort sind wir denn ganzen Tag ausgeschlafen,
Und schon zum Frühstück gibt’s Sahne und Kuchen,
Und da soll einer versuchen, uns was zu schaffen!
Na, ich danke, der hat nichts zu lachen!

Und in der ewigen Seligkeit
Bekommen wir täglich ein neues Kleid.
Und jeden Abend wird ausgegangen
In einem Kleid mit richtigem Dekolleté
In ein Theater oder Konzertcafé
Und statt der verfluchten Schreibmaschine
Bekommt jede von uns eine Limousine!

Dort ziehen wir mit einer Jazzbandkapelle mal ein,
Und die Frau vom Chef darf nicht hinein!
Au fein!

Lili Grün, aus der Zeitschrift Das Leben, Oktober 1930, auch in: Lili Grün - Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten, gesammelt, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Anke Heimberg, AvivA Verlag, Berlin, 2014








Trennung

Jeden stillen Abend bet ich für dich,
sonst fänd ich nicht Schlaf noch Rast.
Mit gefalteten Händen nehm ich auf mich,
was vielleicht du gesündigt hast.

Jeden stillen Abend küss ich dein Bild,
- ich hab mich bescheiden gelernt -
dein Antlitz, das als mein Himmel mir gilt,
ist ganz von Küssen besternt.

Du schreibst mir: "- ich lieb dich, so wahr und so tief,
wie's jeden nur einmal trifft ..."
Es malt sich dein lieber, zerknitterter Brief
mir am Herzen in Spiegelschrift.

Aus: Alma Johanna Koenig Liebesgedichte, F. G. Speidel'sche Verlagsbuchhandlung Wien und Leipzig 1930


Bahnfahrt am Abend

Ich sehe die Schattenrisse
der Häuschen auf stiller Flur,
der Pappeln ungewisse,
windschwankende Kontur,

Rauchwolken aus nahen Schloten
bezeugen spätfeiernden Brand,
Gewitter, die lang schon drohten,
hängen tief überm Land.

Kirchtürme sind vor die Bläue
schwarzrandiger Wolken gestellt,
der Abend wird langsam durch scheue
aufglimmende Lichter erhellt.

Die Funkenbänder flattern
zischend an mir vorbei.
Ich höre der Räder Rattern,
ich höre des Dampfes Schrei,

Sturm in den wehenden Haaren,
das Antlitz von Tropfen kühl
ist dies nur mein Gefühl:
dies Dir-Entgegenfahren!

Aus: Alma Johanna Koenig Liebesgedichte, F. G. Speidel'sche Verlagsbuchhandlung Wien und Leipzig 1930

Lili Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern ging sie Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo sie 1931 zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der Künstlerszene ein literarisch-politisches Kabarett eröffnete. Zurück in Wien verarbeitete sie ihre Berlin-Erlebnisse in ihrem Roman "Alles ist Jazz", der erstmals 1933 unter dem Titel "Herz über Bord" im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Mit der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und am 1. Juni 1942 mit anderen Opfern, darunter die Dichterin Alma Johanna Koenig, im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.

Das Portrait von ihr ist aus Der Wiener Tag, 5. 4. 1933


Alma Johanna Koenig, geboren am 18. August 1887 in Prag; ermordet am 1. Juni 1942 im Vernichtungslager Maly Trostinez (bei Minsk), Lyrikerin und Erzählerin.

Das Foto zeigt die Dichterin um 1927

Dienstag, 30. Mai 2023

Aus dem Antiquariat - Eva Strittmatter: Die eine Rose überwältigt alles

 



Wenn ich einmal in eine Stadt komme, besuche ich gerne Antiquariate. Diese, die so ein bisschen anmuten wie das aus den Wilsberg-Krimis. Und ich suche zielgerichtet die Lyrikecke auf. (Es ist fast immer eine Ecke - oder an an einer Abseite, um der Lyrik ihren Platz zu zuweisen). Ich mag das Stöbern, die Möglichkeit, mir Unbekanntes zu entdecken. Anthologien und Klassiker in dieser Ecke interessieren mich nicht sonders. Es sind eher die schmalen Bändchen, die sich dort finden lassen, oft schon zerlesen, und meist für ein kleines Salär zu haben. Und oft stehen Namen auf dem Einband, die mir vorher kein Begriff waren.

Bei meinem letzten Besuch in einem Antiquariat in Göttingen habe ich einiges gefunden, was mitnehmenswert war. Ein schmaler Band hat mich sofort angesprochen, schon wegen des Titels, hatte ich doch in meinem Arbeitsleben als gelernter Gärtner sieben Jahre in einer Rosenbaumschule gearbeitet: „Die eine Rose überwältigt alles“, von Eva Strittmatter.

Immer wieder musste ich beim Blättern und Querlesen schmunzeln, denn auch ich bin passionierter Pilzsammler, so dass mich Zeilen wie die folgenden sofort ansprachen: „Hier war einst Hochwald, als wir herkamen. / Reifpilze gabs mit perlmuttenem Hut. / . . . / Beim Fluchtsprung vor dem fremden Geruch / Wuchsen vier Jahre lang Frühlingsmorcheln / . . . / die rochen schwer wie nach Gräbererde, / Und manchen schon würzte die Morcheln der Tod. . . / Diese Speise haben wir damals gegessen / . . . / Wie gewissenlos und wie jung man einst war.“, heißt es in dem Gedicht „Die Alte erzählt“; und mit den Zeilen: „Ich ging in den Wald. Wollte Grünlinge suchen. / Doch das lodernde Laub der Oktoberbuchen / Im sonnendurchfluteten Wald / Hat mich verwirrt. . .“

Bei mir wurden Erinnerungen wach: Reifpilze habe ich bisher nur einmal gefunden, als ich im Waldviertel in Österreich auf Pilzpirsch war. Die wohlschmeckenden Pilze wanderten in den Korb. Die „Frühjahrsmorcheln“ sind die hier die Frühjahrslorcheln, die mancherorts immer noch als Speisepilz gesammelt und nach besonderer Zubereitung gegessen, gerade von den alten Pilzsammlerinnen und Sammlern: „Die haben wir schon immer gegessen“ (genau wie die kahlen Kremplinge). Doch diese Lorcheln enthalten ein Pilzgift, und Vergiftungen können auch trotz "besonderer Zubereitung" auftreten. Ähnlich verhält es sich mit den genannten Grünlingen, die mittlerweile auch zu den Giftpilzen gezählt werden.

Doch nicht nur die Natur ihrer Heimat, die oft detailliert beschrieben wird, schlägt sich in den Gedichten von Eva Strittmatter nieder, sondern auch alltägliche und nichtalltägliche Begebenheiten sind Gegenstand der Betrachtung, die Preisverleihung wahrscheinlich eines Literaturpreises, bei dem ein Quartett Bach spielte und Heine zitiert wurde, ärgerlicherweise zum Essen: „Wir meinten den Preis. . . Und wie stehen sie zu Heine? / Was bedeutet das Buch der Lieder für sie? / Von tausend Strophen vor allem die eine / Die heißt: ich dachte, ich trüge es nie.“

Die titelgebenden Rosen sind immer wieder in kleinen achtzeiligen Gedichten erwähnt, welche das Büchlein durchziehen, wie etwa folgende:

Mondrose

Komm in mein Zimmer, wenn Mondlicht ist.
Es hat sieben Fenster mit Seidengardinen.
Die werden vom vollen Mondeslicht
Wie Rosenblätter durchschienen.

Das bin ich sicher: du hast noch nicht
In einer Rose gelegen.
Wir lassen uns vom Mondeslicht
Im Innern der Rose bewegen.


Die eine Rose

Die eine Rose überwältigt alles,
Die aufgeblüht ist aus dem Traum.
Sie rettet uns vom Grund des Falles.
Schafft um uns einen reinen Raum,
In dem nur wir sind und die Rose.
Und das Gesetz, das sie erweckt.
Und Tage kommen, reuelose.
Vom Licht der Rose angesteckt.

Eva Strittmatter wurde am 8. Februar 1930 in Neuruppin geboren, sie lebte im brandenburgischen Schulzenhof, wohin sie 1957 mit ihren Mann gezogen war. Die Brandenburgische Landschaft und Flora und Fauna beschreibt sie immer wieder in ihren Gedichten. Sie starb am 3. Januar 2011 in Berlin. Seit 1954 war sie freie Schriftstellerin. 

Ich habe das kleine Buch liebgewonnen und blättere gerne darin. „Ach dass wir Dichter nicht daran dachten, / Es könne ihm gefährlich sein, / Wenn er alleine geht“

Die eine Rose überwältigt alles, Gedichte, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1977

Montag, 29. Mai 2023

Felix Grafe: Nacht im Garten

 



Nacht im Garten


Schön ist es wohl,
wenn über dem blühenden Dill
Segler ihre gestreiften Flüge ziehen,
aber tiefer zittert das Geheimnis,
wenn seine funkelnden Kreise hinflutet
zärtliches Gestirn der Liebenden
über Nachtschatten und Jasmin.
Sieh, schon zog sie herauf,
die glühende Dämmerung.
Ängstlicher schmiegst du
an den Geliebten dich an,
aufblickend mit verdunkelten Augen
in das wolkenlose Tal.
Hingezogen in schimmernde Welle
weckt dir der Hauch des Windes
Erinnerung an Gärten der Kindheit.
Wie fern dies alles, fern und hingespült
mit unsichtbaren Händen aus dem Herzen.
Freundlicher wird schon der Abend,
später Sonne errötender Hauch
führt dem Liebenden schreibende Finger.

Aus: Felix Grafe, Dichtungen, Herausgegeben und eingeleitet von Joseph Strelka
Bergland Verlag Wien 1961

Felix Grafe, geboren 9. Juli 1888 in Humpolec, Österreich-Ungarn; gestorben 18. Dezember 1942 in Wien; eigentlich Felix Löwy, Lyriker und Übersetzer.

Seine ersten Gedichte erschienen 1908 in der Zeitschrift Die Fackel von Karl Kraus. Neben eigenen Dichtungen schuf Grafe Übersetzungen und Nachdichtungen aus dem Englischen und Französischen von William Shakespeare, Oscar Wilde oder Charles Baudelaire. Daneben begründete Felix Grafe die Zeitschrift Anbruch.

Nach dem Ersten Weltkrieg lebte Grafe, wie auch sein Bruder, in Wien. Hier wurde ihm 1941 ein antifaschistisches Gedicht zum Verhängnis, das er für die illegale kommunistische Zeitschrift Hammer und Sichel verfasst hatte. Er wurde im Juli verhaftet und schließlich am 18. Dezember 1942 wegen Zersetzung der Wehrkraft und Vorbereitung zum Hochverrat im Landesgericht Wien in der Landesgerichtsstraße 11 hingerichtet.

Das Bild ist von Claude Monet (1840 - 1926)

Sonntag, 28. Mai 2023

Oskar Kanehl: Literaturkaffee

 



Literaturkaffee


Vor leeren Tischen oder Schalen braun,
lumpig und langhaarig,
klumpig geknäult und paarig.
Eben aus dem Bette. Blaß wie ein Klaun.

Wollen Sie meine Bilder ..
Sie haben von mir noch nicht ..
Sahen sie mein Gedicht ..
Sie müssen bei mir den Stil der ..

Zeitschriften werden zerkaut.
Philosophen geschlachtet.
Mit gemalten Weibern übernachtet.
Konzerte verdaut.

Grinsende Spießer. Kurfürstendammwelt
– Renndepeschen. Telephon –
schnappen gierig jeden Ton
der vom Künstlertische abfällt.

Letzte Zigarette. Morgens.
Hängende Lider. Mürbe. Schal.
Ach, Ober Sie borgens,
sein Sie auch mal genial.

Oskar Kanehl, Erstdruck: Wiecker Bote 4. 1913.

Oskar Kanehl (1888-1929) gab 1913/14 in Greifswald die Zeitschrift Wiecker Bote heraus, die 1995 wiedergegründet wurde. Während im Gefolge der 68er Bewegung seine (anarcho-)proletarischen Bände in der Bundesrepublik neu aufgelegt wurden, ist das präproletarische Werk bis auf vereinzelte Nachdrucke vergessen. Band 1 des soeben erschienenen „Pommerschen Jahrbuchs für Literatur“ druckt 15 frühe Gedichte.

Pommersches Jahrbuch für Literatur. Band 1. Hrsg. Karl-Heinz Borchardt, Michael Gratz, Roland Ulrich. Greifswald: Wiecker Bote 2003. 293 S. ISDN: 3-8330-0288-3 (Vertrieb: bod)

Das 37. Heft der vom Verein POESIE SCHMECKT GUT in Jena herausgegebenen Lyrikreihe „VERSENSPORN – Heft für lyrische Reize“, das im September 2019 erschien, widmet sich dem vergessenen proletarisch-revolutionären Dichter Oskar Kanehl, der neben Erich Mühsam und Franz Jung zu den interessantesten politischen Dichtern der frühen zwanziger Jahre gehört. Aus dem Klappentext:

"Oskar Kanehl, geboren am 5. Oktober 1888 in Berlin, studiert ab dem Herbst 1908 Deutsch, Englisch, Französisch und Philosophie an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, will 1912 in Würzburg mit einer Arbeit über den jungen Goethe promovieren, fällt jedoch durch. Im Frühjahr 1912 schreibt er sich an der Universität Greifswald ein und erlangt im November des Jahres den Doktorgrad. Im nahegelegenen Fischerdorf Wieck, in das er inzwischen gezogen war, gründet er mit mehreren Mitstudenten die Zeitschrift „Wiecker Bote“, die eine zivilisationsfeindliche Haltung einnimmt und den „anarchischen Studententypus“ postuliert. Im Juli 1914 wird die Zeitschrift wegen „Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften“ verboten. Kanehl wird zum Kriegsdienst einberufen. Die unmittelbare Konfrontation mit den Gräueln des Krieges und dem dafür verantwortlichen Militarismus und Nationalismus schürt Kanehls Hass gegen deren Träger und Förderer. Nach Kriegsende engagiert er sich stark in verschiedenen linkskommunistischen und syndikalistisch-unionistischen Organisationen. Seine Lyrik hat sich inzwischen von den frühexpressionistischen Anfängen (über Antikriegs-Gedichte) hin zu einer wirkungsmächtigen politischen Agitationslyrik entwickelt. 1921 wird gegen ihn wegen zweier Gedichte ein Ermittlungsverfahren wegen „Hochverrats“ eingeleitet; 1924 erfolgt wegen eines weiteren Gedichts ein Prozess wegen „Anstiftung zur Gewalttätigkeit“; 1928 wird sein Gedichtband „Straße frei“ beschlagnahmt und Strafantrag wegen „Aufreizung zum Klassenhass“ gestellt. Oskar Kanehl stirbt am 28. Mai 1929 nach einem Sturz aus dem Fenster seiner Wohnung in der Berliner Kantstraße."

Das Heft bietet insgesamt 41 Gedichte. Neben einer Auswahl aus Kanehls drei Gedichtbänden „Die Schande“ „Steh auf, Prolet!“ und „Straße frei“ werden auch frühere, nur verstreut publizierte Gedichte wieder abgedruckt.

Samstag, 27. Mai 2023

Bertha Pappeneim: Mir ward die Liebe nicht. . .

 



Mir ward die Liebe nicht. . .

Mir ward die Liebe nicht –
Drum leb ich wie die Pflanze,
Im Keller ohne Licht.
Mir ward die Liebe nicht –
Drum tön ich wie die Geige,
Der man den Bogen bricht.
Mir ward die Liebe nicht –
Drum wühl ich mich in Arbeit
Und leb mich wund an Pflicht.
Mir ward die Liebe nicht –
Drum denk ich gern des Todes,
Als freundliches Gesicht.

Bertha Pappenheim, geboren am 27. Februar 1859 in Wien, gestorben am 28. Mai 1936 in Neu-Isenburg, Schriftstellerin, Publizistin und Frauenrechtlerin. Sie war die Patientin Anna O. Die von Josef Breuer zusammen mit Sigmund Freud in den Studien über Hysterie veröffentlichte Fallgeschichte war für Freud Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner Theorie der Hysterie und damit der Psychoanalyse. Die wahre Identität der Anna O. wurde erst 1953 bekannt.

Nach ihrem Umzug nach Frankfurt im Jahre 1888, der Heimatstadt ihrer Mutter, veröffentlichte sie verschiedene Kinderbücher und begann ihre soziale Arbeit. 1895 wurde sie Heimleiterin im jüdischen Mädchen-Waisenhaus, gründete 1902 den Israelitischen Mädchenclub und 1904 den Jüdischen Frauenbund. 1907 wurde das Heim in Neu-Isenburg bei Frankfurt eröffnet. Sie unternahm Reisen nach Galizien und Nahost, auf denen sie sich über die dortige Lage der jüdischen Bevölkerung informierte und darüber Berichte veröffentlichte. Ganz besonders interessierte sie sich überall für die Situation der Frauen. Schon 1901 hatte sie an einer Konferenz zum Thema Mädchenhandel teilgenommen, und 1923 wandte sich der Jüdische Frauenbund im Kampf gegen Mädchenhandel und Prostitution sogar an den Völkerbund.

Am 16. April 1936 folgte Bertha Pappenheim, schon von tödlicher Krankheit gezeichnet, einer Vorladung der Gestapo nach Offenbach. Zwar konnte sie alle Beschuldigungen widerlegen, aber nach ihrer Rückkehr nach Isenburg verließ sie ihr Bett nicht mehr und starb am 28. Mai 1936. Der Jüdische Frauenbund wurde 1938 zwangsweise aufgelöst, die Heime in Neu-Isenburg 1942 geschlossen und die darin Wohnenden in die Vernichtungslager deportiert.

Freitag, 26. Mai 2023

Hans Ehrenbaum-Degele: Gedicht


 
Gedicht

Willst du meinen Kreis betreten,
Musst du in die Tiefen lauschen,
Wo, umdämmert von Gebeten,
Meine roten Ströme rauschen,
In die Fernen musst du schauen,
Wolken deine Träume schenken;
Himmel müssen aus dir blauen,
Sonnen sich an deinem Licht
Golden tränken.

Hans Ehrenbaum-Degele, aus: Der Sturm 1912 / 13

Hans Ehrenbaum-Degele, geboren am 24. Juli 1889 in Berlin; gestorben am 28. Juli 1915 am Narew, Lyriker und Herausgeber. 1911 erschienen seine ersten Gedichte u. a. In Der Sturm (Hrsg. Herwarth Walden) und in Die Bücherei Maiandros (Hrsg. Alfred Richard Meyer) In den Jahren 1912 und 1913 trat er in Kurt Hillers Kabarett Gnu auf. Ab 1913 gab er zudem gemeinsam mit Robert Renato Schmidt, Ludwig Meidner und Paul Zech die Zeitschrift Das neue Pathos heraus. Kurt Erich Meurer widmete ihm und Paul Zech seinen 1913 erschienenen Gedichtband Jeder Tag hißt Fahnen. Vier Tage nach seinem 26. Geburtstag „fiel“ er 1915 an der Ostfront.

Das Bild ist von der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch, mit freundlicher Genehmigung der Hedi Kupfer Stiftung Fredelsloh als Nachlassverwalterin.

Donnerstag, 25. Mai 2023

Arno Holz: Mählich durchbrechende Sonne

 



Mählich durchbrechende Sonne

Schönes
grünes, weiches
Gras.
Drin
liege ich.
Inmitten goldgelber
Butterblumen!
Über mir ... warm ... der Himmel:
Ein
weites, schütteres,
lichtwühlig, lichtblendig, lichtwogig
zitterndes
Weiß,
das mir die
Augen
langsam ... ganz ... langsam
schließt.
Wehende ... Luft ... kaum merklich
ein Duft, ein
zartes ... Summen.
Nun bin ich fern
von jeder Welt,
ein sanftes Rot erfüllt mich ganz, und
deutlich ... spüre ich ... wie die
Sonne
mir durchs Blut
rinnt.
Minutenlang.
Versunken
alles...   Nur noch
ich.
Selig!


Arno Holz, geboren am 26. April 1863 in Rastenburg, Ostpreußen, gestorben am 26. Oktober 1929 in Berlin, eines seiner Hauptwerke war der 1898 veröffentlichte Gedichtband Phantasus

Das Portrait von ihm (1916) ist von Erich Büttner (1889 - 1936)

Mittwoch, 24. Mai 2023

Otto Abeles: Das ist die ganze Seligkeit / Rudolf Börsch: Flametta

 

Otto Abeles


Das ist die ganze Seligkeit

Das ist die ganze Seligkeit
Weit – weit
Klingt wo ein Lied.

Wie’s mit dem Winde näher zieht,
Halten wir still und sinnen und träumen
Den goldenen Traum von den Cederbäumen,
Von Zinnen, die in die Lüfte ragen,
Von garbenschweren Erntetagen,
Von Wipfeln, die Urväter Weisheit rauschen,
Und Jüngern, die versonnen lauschen,
Von Kränzen, die alle Stirnen säumen –
Und schließen die Lider und träumen . . .  und träumen . . . 

Das Lied verklingt, – wir sind erwacht:
Rechts hockt der Hohn und grinst und lacht,
Links schleicht das todesmüde Leid . . . 

Das ist die ganze Seligkeit . . . 

Otto Abeles


Flametta

Ich verstürme in tonlosen Wirbeln mich,
rase Flammenglanz um deinen Schritt.
Ach! Dein Blut ergießt in meine Adern Bläue.
Ach, dies unerhörte, neue
sich in andre Pflanzen!
Palmen stehen dicht in bronznen Kübeln.
Meine Sehnsucht ist zu enge Fessel,
wirbelt Blick in Blick
wie Sonnentuberanzen.
O, wir sind zwei wilde Pflanzen,
eng umklammert, dicht verwittert und verwachsen.
Fühlst Du unsre Stämme brechen?
Licht verzagt in Wolkenfinsternissen
Sturm peitscht wilder unsre Blätter!
Nein, wir wollen keine Retter,
Wenn in letztem Kampf wir jäh verflammen.

Rudolf Börsch, aus: Die neue Jugend, Juni 1914

Otto Abeles, geboren am 1. Mai 1879 in Rohaletz bei Nikolsburg, gestorben am 25. Mai 1945, Journalist, Schriftsteller und Musikkritiker. Er übersiedelte Anfang September 1934 in die Niederlande und wurde eines der eifrigsten und mutigsten Mitglieder der Amsterdamer jüdischen Gemeinde, er war auch Direktor des niederländischen Zweiges des Keren Hajessod. Nach dem Einmarsch der Deutschen Truppen während des Zweiten Weltkriegs wurde auch Abeles gefangen genommen und im Durchgangslager Westerbork interniert. Im Mai 1944 wurde er weiter ins KZ Bergen-Belsen deportiert. Er starb etwas mehr als einen Monat nach seiner Befreiung aus dem KZ an einer Flecktyphusinfektion.

Rudolf Börsch, geboren 1893 oder 95, studierte in Berlin und war mit Else Lasker-Schüler, Wieland Herzfelde, Heinz Barger und Friedrich Holländer befreundet. Mit letzteren beiden gab er 1914 die Zeitschrift Die neue Jugend heraus. Am 25. Mai 1915 „fiel“ er in Galizien, Franz Pfemferts „Aktion“ veröffentlichte einige seiner Texte aus dem Nachlass.

Ekstase der Sehnsucht

Ich bin lauter Sehnsucht alt. Die Straße wächst aus blond in jede Morgenferne. Blut bricht mir aus den Händen, rinnt nieder, strömt. Die Landschaft wird zum glühenden, zischenden Traum. Ich fühle mein Gesicht schon anders werden. Ich trage auf meinem gehobenen Kopf dein Antlitz wie eine Fahne. Ich vergesse schon, dass ich war. Ich weiß kaum noch, dass ich eben im Café saß, dass mir die Stimme der Leute Musik zu deinem Gange war. Ich scharre überall nach meinen Vergangenheiten. Mein Gehirn reißt in Stücke. Häuserfetzen stürzen mir entgegen. Die Stadt wird Urwald. Getier packt mein zuckendes Gehirn. Der Irrsinn ist ein allzu greller Mond. Ich decke mich mit Dämmerung.

Rudolf Börsch, aus: Die Aktion, 25. März 1916

Das Foto zeigt Otto Abeles

Dienstag, 23. Mai 2023

Gutti Alsen: Einfache Weise / Rainer Maria Rilke: Volksweise

 



Einfache Weise


Es ist soviel Leid in der Welt,
Einer kann es nicht tragen,
Es geht bis ans Ende der Welt
Ein Weinen und Klagen.
Kann’s einer - nicht tragen allein,
Reicht euch alle die Hände
Über Meere, über Felsgestein
Dann kommt die Wende!

Gutti Alsen, aus: Oberbarnimer Kreiskalender 1930

Gutti Alsen (Gustava Aschkanasy), geboren am 4. September 1869 in Königsberg (heute Kaliningrad), gestorben am 24. Mai 1929 ebendort, Erzählerin, Lyrikerin und Übersetzerin. Einer angesehenen Kaufmannsfamilie entstammend, machte sie sich als Künstlerin und Förderin der Literatur – durch literarische Salons und durch die Unterstützung von Autorinnen und Autoren – einen Namen. Sie veröffentlichte Texte in der Zeitschrift Die Flöte und darüber hinaus einen Roman und zwei Novellenbände. Posthum erschienen zwei weitere Publikationen, darunter 1929 Requiem. Das schwarze Lied, ein Roman, der ihrer Tochter gewidmet ist, die im Alter von zwanzig Jahren verstarb. Dieser Roman wurde 2019 im homunculus-Verlag neu herausgegeben.

»Die trübe Melodie der Harmonika ist zum kleinen Kinderlied geworden, das in mein aufschreiendes Herz schlägt. So will ich versuchen, dich heraufzubeschwören aus deinem Verschwundensein. So will ich versuchen, dein Wesen widerzuspiegeln. Dass ein Buch dich durch die vielen Jahrzehnte trage, die dir geraubt sind. Dass du auferstehst, wenn auch als Schatten, für dieses Geschlecht. Und vielleicht die überdauerst, die heute stark sind an Leben und Gut.«

Auch ihr Tagebuch-Roman Die Mutter – Blätter aus dunklen Tagen wurde 2020 bei Hofenburg, Berlin, von Karl-Maria Guth neu herausgegeben

„Uhren und Glocken gingen dann und wann leise in kurzer Zwiesprache nebeneinander. Wir saßen auf gläsernem Vorbau des Hauses, nippten von alten Weinen, redeten von Kunst und Sehnsüchtigkeiten und schwiegen lange, vom Dichten, vom Getöne und von den Bildern des Heute durchklungen.

Da stieg vom Küchengeschoß ein Lied zu uns auf, fremd und zehrend und leidbeschwert. Der Hausherr richtete sich stehend hoch auf und ging zum Fenster. Gequältheit über den sonst so beherrschten Zügen, lauschte er in den Traumglanz des Mondgartens, lauschte. . . Dann schob er seinen Lehnstuhl uns nahe, und ich hörte ihn die Rilkeschen Verse klagen:

Mich rühret so sehr
Böhmischen Volkes Weise;
Schleicht in das Herz sich leise,
Macht sie es schwer.

Wenn ein Kind sacht
Singt beim Kartoffeljäten,
Klingt dir sein Lied im späten
Traum noch in der Nacht.

Magst du auch sein
Weit über Land gefahren,
Fällt es dir doch nach Jahren
Stets wieder ein

Langsam entquollen die Silben seiner zerquälten Stimme, als müsse der Schönheit dieser Nacht eine Opferung werden.“

Gutti Alsen, aus: Die Mutter - Blätter aus dunklen Tagen, Im Wir Verlag, Berlin 1922

Montag, 22. Mai 2023

Max Herrmann-Neiße: Schweigen mit Dir

 



Schweigen mit Dir

Schweigen mit Dir: das ist ein schönes Schwingen
Von Engelsfittichen und Gottes Kleid
Und süß. Unsagbar sanftes Geigenklingen
Verweht von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Schweigen mit Dir: das ist verschwistert Schweifen
Auf weißen Wegen und geliebtem Pfad
Und Fühlen, wie sich Blut zu Blute reifen
Und ranken will aus segensreicher Saat.

Schweigen mit Dir: das ist der Schwalben Schwirren
Um abendliche Türme sonnensatt
Und wonnig-wissen, wenn wir uns verirren,
Uns blüht gemeinsam doch die Ruhestatt.

Schweigen mit Dir: das ist aus Schwachsein Schwellen
Zu immer größrer Fülle, Form und Frucht,
Ist Wärme von Kaminen, Hut in hellen,
Verstohlnen Stuben, Bad in blauer Bucht.

Schweigen mit Dir: so sicher singt das Sehnen
Von Seele sich zu Seele wunderbar -
Ich weiß mein Haupt in deinem Schoße lehnen
Und deine Hände streicheln hold mein Haar!

Max Herrmann-Neisse, aus: Die weißen Blätter, Juli 1915

Max Herrmann-Neiße, geboren am 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; gestorben am 8. April 1941 in London, Deutscher Dichter, von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, in dem er 1941, wurzellos, starb.

„Er ist der grüne Heinrich, und alle glauben es, wenn ich das sage. »O ja, er ist der grüne Heinrich.« Seine Augen sind grün, sein Haar ein geschorener grüner Wiesenfleck; seine Eidechsennase – immer schlängelt sie sich. Und sein grüner Primanermund schwellt noch an vor Erwartung. Und seine Seele ist grün und tief, ein heller Schilfteich, man kann daraus Schachtelhalme, Leuchtkäfer, Jesusblumen und gesprenkelte Blätter fürs Herbarium sammeln. In seinem Dachzimmer, ich nehme an, er wohnt mit seinem Lenlein schräg unterm Hutrand des Hauses, leben sicher viel Kreaturen in Gläsern, Kröten, Fische, Quabben – und in Spiritus die Paradiesschlange zu sehen! Und noch lauter Großknabendinge. Lenlein, die Grünheinrichfrau ist eigentlich ein Heiligenmädchen, betet den grünen Heinrich an. Der ist ganz klein, trägt einen Hügel auf dem Rücken, so daß man ihn erst, wenn man mit ihm reden will, besteigen muß und es viel schwieriger fällt, zu ihm zu gelangen wie zu Menschen, die alltäglich in die Höhe, manche nach unten, aufgeschossen sind. Grünheinrichs Mutter hat gerne Märchen gelesen, und ihr Sohn kam in ihrer Traumwelt zur Welt; ihre Augen mögen wie bei Kindern groß geglänzt haben, als auf einmal der grüne Heinrich in ihren Händen lag mit einem Stern in der Schläfe, wie ihn nur Dichtern von Gott selbst verliehen wird. Der grüne Heinrich ist ein Dichter, und seine Gedichte sind große pietätvolle Wanduhren, schlagen herrlich, wenn er sie vorträgt.“

Else Lasker-Schüler (1869 - 1945) über Max Herrmann-Neiße, aus: Essays, verlegt bei Paul Cassierer, Berlin 1920

Das Foto des Dichters ist von dem Fotografen Max Glauer (1867 - 1935)

Sonntag, 21. Mai 2023

Ernst Toller: Wälder

 



Wälder

Ihr Wälder fern an Horizonten schwingend,
Vom abendlichen Hauche eingehüllt,
Wie meine Sehnsucht friedlich euch erfüllt,
Minuten Schmerz der Haft bezwingend.

Ich presse meine Stirne an die Eisensäulen,
Die Hände rütteln ihre Unrast wund,
Ich bin viel ärmer als ein armer Hund,
Ich bin des angeschossnen Tieres hilflos Heulen.

Ihr Buchenwälder, Dome des Bedrückten,
Ihr Kiefern, Melodie der Heimat, tröstet Leid,
Wie wobet ihr geheimnisvoll um den beglückten

Knaben der fernen Landschaft wundersames Kleid. . .
Wann werde ich, umarmt vom tiefen Rauschen,
Den hohen Psalmen eurer Seele lauschen?

Ernst Toller, aus: „Gedichte der Gefangenen - Ein Sonettenkreis“ Kurt Wolff Verlag, München 1921

Ernst Toller (geboren am 1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York). Schriftsteller, Dramatiker. Als zeitweiliger Vorsitzender der bayerischen USPD und Protagonist der kurzlebigen Münchner Räterepublik wurde er nach deren Niederschlagung im Juni 1919 verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt. Er entging mit dem einen Monat später gefällten Urteil der drohenden Todesstrafe und wurde zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt.
Bereits während seiner Haft und mehr noch danach wurde er vor allem mit seinen Dramen als einer der maßgeblichen Vertreter des literarischen Expressionismus in der Weimarer Republik bekannt.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich wurde Toller aufgrund seiner jüdischen Herkunft und politischen Haltung formell aus Deutschland ausgebürgert. 1933 emigrierte er zunächst in die Schweiz. Seine Werke gehörten zur Liste der im Mai 1933 „verbrannten Bücher“.

1937 emigrierte er in die USA, wo er sich 1939 das Leben nahm.

Das Foto zeigt ihn 1923

Freitag, 19. Mai 2023

Hugo Zuckermann: Sehnsucht

 



Sehnsucht

Die Nacht ist dunkelfliederblau
Und zittert leis' wie Harfensaiten,
Als ließ die blasse Mondenfrau
Den Mantel von den Schultern gleiten
In langen Falten in die dunkle Bucht.
Ein Nachen, der den Hafen sucht,
Zieht ferne durch die blauen Wogen. —

So ist mein Nachen hoffensschwer
Ins uferlose Sehnsuchtsmeer
Sturmsegelnd ausgezogen.

Aus: Hugo Zuckermann Gedichte, R. Löwit Verlag Wien 1915

Hugo Zuckermann, geboren am 15. Mai 1881 in Eger, Österreich-Ungarn; gestorben am 23. Dezember 1914 ebendort.

Das Bild ist von Henri de Sidaner (1862 - 1939)

Else Lasker-Schüler: Fritz Lederer

 

Fritz Lederer: Frühstückspause, Aquarell


Fritz Lederer

Man braucht nicht erst ins Riesengebirge reisen -
Neuschnee zu sehen;
Fritz Lederer malt ihn auf jedem Bilde.

Er ist der Sohn Rübezahls
Aus Stein und Bergklee gestaltet.

Man muß sich schon warm anziehn,
Gefütterte Schuhe nicht vergessen,
Wenn man in sein Atelier steigt;

Und nicht frieren will beim Betrachten
Seiner schneienden Landschaften
In hölzernen Rahmen.

Lederers Schöpfung - jede - eine weiße Welt!

Wenn man den Maler schon von ferne sieht
Weiß man, der kann was.

Denn nur vom Wesen künstlerischer Reinheit
Fällt so weiße Seele.

Er läßt sie glitzern, zaubert Sonnenröte,
Und goldendunkeln, still bedacht,
Vom Mond.

Er malt und schminkt nicht
Er zeichnet leuchtendweiß und hinkt nicht
Und macht nicht Moden auf der Leinwand mit.

Kunst ist eine Welt aus Blut.
Und keine Bühne, auf der man sich versucht.
Die Kunst ist Gottes und nicht degenerierbar.

Und es weißzeugen von der echten Pracht
Die wundervollen Schneegefilde
Unsers jungen Rübezahls:
Fritz Lederers.

Else Lasker-Schüler (1869 - 1945), aus dem Nachlass


Fritz Lederer, geboren am 22. April 1878 in Königsberg an der Eger, Österreich-Ungarn; gestorben am 19. Mai 1949 in Cheb, Tschechoslowakei) war Landschaftsmaler, Radierer und Holzschneider. Seit 1908 lebte er in Berlin.1919 radierte er „Die Krone des Malik“ für Else Lasker-Schülers Malik. Auch war er bei vielen Filmen von 1920 bis 1924 als Filmarchitekt tätig.

Selbstbildnis 1911


Fritz Lederer beteiligte sich an mehreren Ausstellungen, bis er 1938 nach Prag emigrierte, wo er seine letzten Aquarelle malte. Am 18. August 1944 wurde er mit dem Transport F23 in das Ghetto Theresienstadt verbracht. Er überlebte dies dank seiner Frau im schweizerischen Exil.

1946 erschien als erste Veröffentlichung der Kynsperg Press in einer Auflage von fünfzig Stück eine Serie von 24 Blättern unter dem Titel „The Eruw of Theresienstadt“ (Der Eruv von Theresienstadt). Davon einige Beispiel unten. In den letzten Lebensjahren war Lederer infolge des grünen Stars am Schaffen gehindert. Er starb nach einer Operation am 19. Mai 1949 in Cheb.








Donnerstag, 18. Mai 2023

Ada Christen: Letzter Versuch

 


Letzter Versuch

Ich habe mich zu erhängen gesucht:
Der Strick ist abgerissen.
Ich bin in's Wasser gesprungen:
Sie erwischten mich bei den Füßen.

Ich habe die Adern geöffnet mir:
Man hat mich noch gerettet.
Ich sprang auch einmal zum Fenster hinaus:
Weich hat der Sand mich gebettet.

Den Teufel! ich habe nun alles versucht,
Woran man sonst kann verderben –
Nun werd' ich wieder zu leben versuchen:
Vielleicht kann ich dann sterben.

Ada Christen, aus: Lieder einer Verlorenen, Hamburg: Hoffmann & Campe, 1868

Bekannt wurde Ada Christen, geboren am 6. 3. 1839, gestorben am 19. 5. 1901, durch ihre 1868 erschienene erste Gedichtsammlung »Lieder einer Verlorenen«, die wegen ihrer erotischen und sozialen Thematik großes Aufsehen erregte. Ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde von Ferdinand von Saar unterstützt, der auch den Druck ihrer ersten Gedichtsammlung vermittelte. In der Folge veröffentlichte sie neben Gedichten auch Erzählungen und Bühnenstücke.

Das Portraitfoto von ihr fertigte der Fotograf Josef Székely (1836 - 1901) an.

Mittwoch, 17. Mai 2023

Hugo Sonnenschein: Die Legende vom weltverkommenen Sonka

 



Die Legende vom weltverkommenen Sonka


Bettler von Haus zu Haus, wo wohnst du?

Auf der Menschheitsgaleere, geschmiedet an die Zeiger der Lüge,
Geflochten ans Urrad, ans Uhrrad der Zeit,
Hausen die Nächsten, Besitzer der Höhlen und der Paläste,
Hassen die Armut, die sie furchtsam lästern
Und mästen Gewissen verbittert mit Wahn. -

Aber du?

Blaudunkel flutet dein Blick:
Doch die Nacht kennt dich nicht,
Du bist unter Schatten nicht zu erblicken,
Dich beherbergt kein Grab.

Dein Antlitz ausgemergelt von Sonne -
Und ich begegne dir nie,
Wie du des Sommers wanderst im Staub der Straßen
Oder wie du wanderst am weißen Strand vor den Toren,
Und ich find dich nicht schlafen am Wiesenrain
Und ertapp dich nie
Abbeerend die Sträucher am Weinberg.
Die Gräser blühen nichts von deinem leichten Gang,
Die Wipfel rauschen nichts von deinem sich wiegendem Haupt,
Der Winde Atmen hat dein Odem nie verspürt.

Nicht kündet spiegelnd dich der Glanz der herben Jahreszeiten:
Schnee oder Blüte,
Die Männer wissen dich nicht,
Die Frauen: niemals hat solch ein Mensch hier gebettelt.

Und ich erschau dich doch allemal, Bettler von Haus zu Haus,
Am hellen Mittag und zur Mitternacht
Unbekümmert schreiten von Haus zu Haus
In Bettlertracht
Mit deinem Bettelsack
Und deiner Schnapsflasche:
Wo luderst du dein Tagwerk hin?
Was ist dein Wesen, was dein Sinn?
Wo ruhst du aus?

Zeitgeläute, raumatmend, Werden tönt nur Klageruf,
Sonka nennt mich die Erde.
Sich tötete der Mensch, der liebend mir den Namen schuf,
Geist, dass er ewig, und nicht mehr werde.
Beseelt war der Anfang, entleibt das Ende -
Tod ist vollendetes Immer.

Und wiedergeboren bricht aus tagdurchflossenem Sein
Widerhall seiner Stille
- Erstritten erlitten auf Erden einmal -
Das Wort und der Laut:
Ein Mal, mir geworden, ein Name,
Liebe und Sterben, in Ewigkeit da sein
Bedeutet dem Dulder,
Verwirklicht den Dichter,
Leitet im Wesen der Welt des Sehens heimgeheiligten Pfad,
Schmerzerhellte Beziehung zum Geist:

Stoff gestaltet den Schein der Legende,
Endlich verklingen, endlich geläutert von meines Ursinns Berührung
Verklingen die Dinge Sonka.

Gleichnis verwirrt und Bild verführt,
Da ist des Wortes Irresein,
Da ist der Traumgesichte Schein.
Ich schreite gleite unberührt,
Ein jeder geht den Weg allein.
Stein wie Stein, Staub wird Stein,
Weg beleibt, was der Weg gebiert,
Spur nur, was der Fuß verliert.
Aber jenseits von Weg und Spur und Staub -
Ist Sein Gott.

Gleichnis haucht das Tote nicht lebendig,
Bild schlägt, was lebendig wurde, tot.
Aus meinem leeren Bettelsack verschenk ich ewig Brot
Und meiner Flasche Nichts, das ich verspreng, ist wahnlos, nichts,
Beständig.

Hugo Sonnenschein, aus: Der neue Daimon, Heft 3 - 4, April 1919, Genossenschaftsverlag, Alfred Adler, Albert Ehrenstein, Fritz Lampl, Jakob Moreno Levy, Hugo Sonnenschein, Franz Werfel.

Hugo Sonnenschein, geboren am 25. Mai 1889 in Gaya, Österreich-Ungarn, gestorben am 20. Juli 1953 in Mirov, Tschechoslowakei, er schuf expressive Gedichte mit volksliedhaften Zügen. In seinen Gedichten stilisierte er sich selbst zum „Bruder Sonka“. Von 1911 bis 1914 zog er als Vagabund durch Europa. 1934 wurde er aus Österreich ausgewiesen. 1940 wurde er von den Nazis im Gefängnis Pankrác inhaftiert und 1943 in das KZ Auschwitz deportiert und 1945 befreit. Seine Frau wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.

Das Foto zeigt einen Wanderarbeiter 1901, unbekannter Fotograf.

Das gesamte Werk "Die Legende vom weltverkommenen Sonka" habe ich auf meinem Blog Die anderen Seiten eingestellt: Hier ist der link dazu Sonka

Dienstag, 16. Mai 2023

Aus dem Antiquariat - Heike Doutiné: In tiefer Trauer

 




Wenn ich einmal in eine Stadt komme, besuche ich gerne Antiquariate. Diese, die so ein bisschen anmuten wie das aus den Wilsberg-Krimis. Und ich suche zielgerichtet die Lyrikecke auf. (Es ist fast immer eine Ecke - oder an an einer Abseite, um der Lyrik ihren Platz zu zuweisen). Ich mag das Stöbern, die Möglichkeit, mir Unbekanntes zu entdecken. Anthologien und Klassiker in dieser Ecke interessieren mich nicht sonders. Es sind eher die schmalen Bändchen, die sich dort finden lassen, oft schon zerlesen, und meist für ein kleines Salär zu haben. Und oft stehen Namen auf dem Einband, die mir vorher kein Begriff waren.

Das heute vorgestellte Fundstück ist „In tiefer Trauer“, Reihe Merlin Debut im Merlin Verlag Hamburg, 1965 von Heike Doutiné. „Die Verfasserin der in dem vorliegenden Band enthaltenen Lyrik und Prosa wird mit dieser Publikation erstmals der literarisch interessierten Öffentlichkeit vorgestellt.“, heißt es im Nachwort. Diesem ersten Gedichtband der 1945 geborenen Autorin sollten weitere folgen: Herz auf Lanze , Rosengedichte und andere Gesänge. Auch Romane und Kurzgeschichten sind im Portfolio. 1972/73 erhielt sie ein Villa-Massimo-Stipendium der Deutschen Akademie Rom.. Weiterhin wurde sie als Gastprofessor an die University of Southern California berufen und erhielt ein Stipendium der Ford-Foundation.

Werke von ihr wurden ins Französische, Englische, Spanische, Polnische, Niederländische und Serbokroatische übersetzt. Gedichte erschienen in englischer Übersetzung von Gisèle Frohlinde-Meyer 1972 in „America's Oldest Poetry Journal“. Heute lebt die Dichterin in Hamburg und London.

Doch zurück zum Debut der damals 20jährigen. Einiges ist noch unbeholfen und einiges mir schwer zugänglich, und vielleicht hätte ich nach kurzem Überfliegen das Büchlein zurückgestellt, wenn ich nicht solche Zeilen darin gefunden hätte:

Was bleibt vom Abend? / Ein Gehen zur Nacht / und ein Kopf voll Wind. / Jede Stunde eine Fahne, / die sich im Winde dreht. / Jeder Mantel ein Filter, / durch den der Abend weht. (aus Sonnenuntergang)

Gebt mir Ideen, / mit ihnen will ich spielen. / Ein Marktplatz ist mein Herz, verlost sie dort. ( aus Achtzehn)

Wie will ich sein? / Grün wie das Gras / und wie die Kinder, / nichts als wachsen. /Was will ich sein? / Ein goldener Ikarus / mit Sonnensegeln aus Forsythien. (aus Unter die Füße werfen sich schon - )

So etwas bleibt haften, und trägt. Ein Gedicht gefiel mir besonders, und nicht nur mir, sondern auch meiner Liebsten, die es mir vorlas:

(V)erwachsen werden

Ich bin ein Kind,
das Sandburgen baut am Meer.
Eine Welle weiter:
Ein Kind, das Sandburgen baut,
die ertrinken.

Ich war ein Kind.
- Mit wasserdichten Augen
nie mehr ein Leben am Meer. -
An meinem Spielzeugbahnhof
bestieg ich den Zug
und fuhr landeinwärts
in die gefährliche Mitte.

Dort trieb man es miteinander;
ich aber wurde geplündert,
durch geschüttelt,
bis mir die Worte aus dem Munde fielen
und -
ich verriet meine Träume - - -

Allein dieses eine lohnt den Kauf allemal. Und sollte anregen zum weiteren Befassen mit der Autorin.

Jakob van Hoddis: Morgens

 



Morgens

Ein starker Wind sprang empor.
Öffnet des eisernen Himmels blutende Tore.
Schlägt an die Türme.
Hellklingend laut geschmeidig über die eherne Ebene der Stadt.
Die Morgensonne rußig. Auf Dämmen donnern Züge.
Durch Wolken pflügen goldne Engelpflüge.
Starker Wind über der bleichen Stadt.
Dampfer und Kräne erwachen am schmutzig fließenden Strom.
Verdrossen klopfen die Glocken am verwitterten Dom.
Viele Weiber siehst du und Mädchen zur Arbeit gehn.
Im bleichen Licht. Wild von der Nacht. Ihre Röcke wehn.
Glieder zur Liebe geschaffen.
Hin zur Maschine und mürrischem Mühn.
Sieh in das zärtliche Licht.
In der Bäume zärtliches Grün.
Horch! Die Spatzen schrein.
Und draußen auf wilderen Feldern
singen Lerchen.

Jakob van Hoddis, geboren als Hans Davidsohn am 16. Mai 1887 in Berlin, expressionistischer Lyriker. Sein bekanntestes Werk ist das Gedicht „Weltende“. Ab 1915 war van Hoddis wegen Psychose in ständiger ärztlicher Behandlung. Am 29. September 1933 wurde Jakob van Hoddis in die „Israelitischen Heil- und Pflegeanstalten“ Bendorf-Sayn bei Koblenz verlegt. Am 30. April 1942 wurde er von dort in den Distrikt Lublin im von der Wehrmacht besetzten Polen deportiert und – höchstwahrscheinlich im Vernichtungslager Sobibór – im Mai oder Juni desselben Jahres im Alter von 55 Jahren ermordet.

Das Foto zeigt Jakob van Hoddis im Jahre 1910

Sonntag, 14. Mai 2023

Anselm Ruest: Gefühl von Leben

 



Gefühl von Leben

Wohin ich seh´, ich seh´ Vergangenheit,
Und jedes Heute sich sofort versteinen,
Zu eins geronnen mit dem Riesig-Einen.
Und schon getürmt zu starrer Ewigkeit.

Und was auch immer noch ans Herz mir greift
Ist doch, als wärs schon vor mir hergegangen,
Und eh´s zu mir noch konnte hingelangen,
Ward es im leisen Wachstum schon bereift.

Nun weiß ich nicht, ob ich nicht selbst bloß Traum,
Aus alten Zeiten eine alte Sage;
Verwoben schein` ich stets mit jedem Tage,
Und jeder Tag, ich seh´s, zerrinnt zu Schaum.

Anselm Ruest (1878 - 1943), aus: Die Aktion Nr. 37, 30. Oktober 1911

Anselms Ruests erstes größeres Werk war eine Monographie über Max Stirner (1906), ergänzt durch ein von ihm zusammengestelltes Stirner–Brevier. Anselm Ruest hat einige klassische Werke herausgegeben. Clemens Brentanos Godwi (1906) zählt hier ebenso dazu wie Eckermanns Gespräche mit Goethe (1907) oder eine Jean-Paul-Anthologie (1912). Ruest war 1911 Mitbegründer von Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion. Von 1919 bis 1925 war er Herausgeber der informellen Zeitschrift des Stirnerbundes, Der Einzige, im ersten Jahrgang zusammen mit „Mynona“. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus emigrierte er 1933 nach Frankreich, wo er ab 1939 mehrmals interniert wurde. Im Jahr 1941 freigelassen, starb er 1943 nach schwerer Krankheit im südfranzösischen Exil. (Wiki)

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Samstag, 13. Mai 2023

Richard Oehring: Erlebnis, Georg Hecht: Leichnam

 



Erlebnis

Es kam, daß wir einig atmeten.
Mein Haupt war gebettet in Gras und Blumen
und meine Augen irrten nicht mehr.
So fühlte ich alles.
Die Bäume waren selig von Deinem Herzen
und ihre Bewegungen rührten uns tief.
Eine Blume erwachte weiß am Himmel
und träumte die sanfte Nacht.
Es kam, daß Du meine Hand nahmst
und sie mit Deiner faltetest. -
Nun wieder stürzt mein Herz durch wilden Abend.

Richard Oehring, aus: Die Aktion 1915

Leichnam

Schon war das Hindernis von Leichen
Übersprungen, da traf die Stirn das Blei.
Er brach im Kreuz zusammen, ohne Schrei,
Hintüber, zuckte kaum. Auf seinesgleichen

Lag er, vor ihm fielen eben andre drei,
So dass sein Fuß in ihren Weichen
Sich verhenkte, und er, ein aufrecht Zeichen,
Steckend stehen blieb. Die Arme waren frei

Und halb erhoben aus der Lache
Von Blut und Erde, fest in steter
Andachtsbeugung der antiken Beter,
Zeugend Wort und Sinn der fremden Sache.

Georg Hecht, (1895 - 1915) Arzt, Literaturhistoriker und Dichter, „gefallen“ am 14. Mai 1915, auf einer Feldpostkarte an Franz Pfempfert, Die Aktion, 1915

Richard Oehring (* 16. Juni 1891 in Düsseldorf; † 14. Mai 1940), Schriftsteller und Wirtschaftswissenschaftler.

Er gehörte zusammen mit Franz Jung, Otto Gross und Georg Schrimpf zu den Mitherausgebern der Zeitschrift Die freie Straße, von der bis 1917 sechs Folgen erschienen.

Während seines Studiums in München stieß er zusammen mit seinem Bruder Fritz zum Kreis um Erich Mühsam und die Gruppe Tat, der auch Oskar Maria Graf, Franz Jung und Georg Schrimpf angehörten. Im Anschluss an seine Rückkehr nach Berlin schrieb er als Wirtschaftsjournalist Beiträge für Buchwalds Börsenberichte. Ab 1912 arbeitete er für die Aktion und veröffentlichte dort eigene lyrische Werke. Es entstand die Novelle Der Käfig. 1913/1914 gehörte er zusammen mit Gottfried Benn, Paul Boldt, Alfred Lichtenstein, Franz Pfemfert und anderen zu den Protagonisten der Autorenabende der Aktion.
1915 heiratet er Cläre Otto und gehört zusammen mit Franz Jung, Otto Gross und Georg Schrimpf zu den Mitherausgebern der Zeitschrift "Freie Straße", von der bis 1917 sechs Folgen erscheinen. Die Nummern 3 und 4 werden von Oehring herausgegeben.

Die Ehe scheitert 1917, Cläre Oehring wird die Lebensgefährtin von Franz Jung, Oehring reist nach Wien zu Otto Gross, wo er auch Margarethe Kuh kennenlernt, die seine zweite Frau wird. Oehring wird Mitarbeiter von Alfons Goldschmidts “Räte-Zeitung” und gehört mit Ernst Jacobi und Friedrich M. Minck zur "Rätegenossenschaft für wirtschaftlichen Aufbau"

1933 verließ Oehring mit seiner Familie Deutschland und emigrierte nach Holland, wo er er am 14. Mai 1940, dem Tag der Kapitulation Hollands, Selbstmord beging.

Die Illustration ist ein Ausschnitt einer Zeichnung aus der Mappe „Der Krieg 1914 - 1918“ von Hans Baluschek (1870 - 1935)

Carl Dallago: Schimmer

 


Schimmer

Ich sah voll Freude die Bäume,
woran die Sonne hing,
wie zitternd jedes Blättchen
das schimmernde Licht empfing.

Und meine Augen tranken
und wurden vom Lichte schwer, -
da kamst du durchs Gehege
so traumesstill daher.

Und wie mein Aug den Schimmer
von deinem Auge fing,
da fühlt ich mich wie ein Blättchen,
das zitternd im Lichte hing.

Aus: Ein Sommer. Liederreigen von Carl Dallago, Berlin E. Ebering 1901

Carl Dallago, geboren am 13. Januar 1869 in Bozen, Österreich-Ungarn; gestorben am 18. Januar 1949 in Innsbruck), Schriftsteller und Naturphilosoph.

Dallago war ein radikaler Kritiker des Bürgertums, deren Angehörige von ihm als „Philister“ bezeichnet wurden, sowie der Katholischen Kirche und galt als „enfant terrible“ in der Tiroler Literaturszene des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Von 1922 bis 1926 lebte er mit seiner Familie in Nago am Gardasee, wo er die Werke Die rote Fahne un Die Diktatur des Wahns verfasste, in denen er Kritik an Mussolinis faschistischem Regime übte.

Ab 1932 in Arzl in Nordtirol beheimatet, war Dallago ein überzeugter Gegner des Nationalsozialismus. (Wiki)

Die Illustration ist von Max von Esterle (1870 - 1947) im Brenner, 1911.

Freitag, 12. Mai 2023

Frida Bettingen: Der Waldquelle

 



Der Waldquelle

Ich lausche, silberfüßige Gespielin.
Du meerestiefer Sang der Erde.
Du Himmelsruh.

Gebräunt von jungen Sonnen,
und eines milderhöhten Schicksals flammender Gebärde,
lausch ich Dir, dauernd Liebliche, Waldseele Du.

Du bist Erdwurzel und Auferstehungswind.
Alle Dinge sind aufgefaltet
in Deine lichten Hände gegeben.

Du bist Leben.
Du bist Schönheit. Buntflatternder Wechsel. Tiefstes Leid.
Alle goldbeblätterten Stufen der Stunde
erblinden vor Dir.

Du bist Ewigkeit.

Ein Vöglein streifte im Fluge
den kleinen Turm Zeit.

Ich bin bereit.
Die Rufe meiner Seele trinken Deine Träume.

aus: Frida Bettingen Gedichte. Bei Georg Müller München 1922

Frida Bettingen (* 5. August 1865 in Ronneburg; † 1. Mai 1924 in Jena; geborene Frida Reuter), Schriftstellerin, expressionistische Lyrikerin.

Die Familie lebte 24 Jahre bis zum Tod von Franz Bettingen in Krefeld, danach zog sie nach Jena. Dort studierte Bettingens Sohn Philologie. Er starb 1914 im Ersten Weltkrieg, was bei Frida Bettingen zu schwerwiegenden psychischen Problemen führte. Ab 1917 hielt sie sich mehrmals in Sanatorien auf. 1923 wurde sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Zwischen diesen Aufenthalten war es ihr jedoch möglich, ein weitgehend normales Leben zu führen. Sie schrieb Gedichte, wobei die Inspiration dazu hauptsächlich aus ihrer Trauer und Verzweiflung als Mutter entsprang. Erst mit diesem Spätwerk nahm sie, gefördert von Wilhelm Schäfer, an der expressionistischen Bewegung teil.

Das Bild ist von Archip Iwanowitsch Kuinji (1841 - 1910)


Donnerstag, 11. Mai 2023

Lisa Baumfeld: Glaubensbekenntnis

 



Glaubensbekenntnis


O, ich glaub' an weite Märchenauen,
Die im Wolkenland der Seele blauen, -
Und an Engel, die mit Schönheit laben,
Blondes Haar und weisse Hände haben;
Und ich höre in des Waldes Knistern
Tausend feine Elfenstimmen flüstern, -
Seh' die scheuen, lockigen Najaden,
Blasse Glieder weich in Mondschein baden, -
Kann an hastig hellen Wassern lauschen
Wie so viele Thränen darin rauschen ...

Und ich glaube an die gold'nen Schwellen,
Wo die wirren, rothen Düfte quellen,
Wo im Winde hohe Lilien schaukeln,
Wo dich Träume wundersam umgaukeln.

Und ich glaub' an flammende Cadenzen,
Die im ew'gen Sternenrhythmus glänzen,
Die in tiefen, hehren Melodien
Alle Schöpfung ahnungsschwer durchziehen,
Und ich weiss, - dass selbst die harten Töne
Einst zerschmelzen in das Ewig-Schöne, -
Dass im Leben, das dich müde wiegt,
Ein Symbol, ein Weites, Gold'nes, liegt.

Lisa Baumfeld, geboren am 27. April 1877 in Wien; gestorben am 3. Februar 1897 ebenda.

Lisa Baumfeld erkrankte schwer und verstarb innerhalb weniger Tage im Alter von 19 Jahren in Wien. Postum gab Ferdinand Groß 1899 eine Sammlung ihrer Gedichte unter dem Titel „Gedichte“ heraus.

Das Bild ist von Giovanni Giacometti (1868 - 1933)

Mittwoch, 10. Mai 2023

Alfred Schmidt-Sas: Mitternacht

 



Mitternacht

Lautlos und langsam
Sammelt sich die Zeit,
Hängt wie ein dunkler Tropfen über´n Rande
Und löst sich zögernd . . .
Fällt
und fällt
und fällt.
Wohin?
Es hallt kein Ton zurück aus jenem Lande.

Alfred Schmidt, genannt Sas, wurde am 26. März 1895 als Sohn eines Bäckers in Schlegel in der Lausitz geboren. Er besuchte das Lehrerseminar in Löbau und wurde in Leipzig Volksschullehrer. Schon frühzeitig kam er mit der kommunistischen Partei in Berührung, wollte darum einen Diensteid nicht leisten und ging als Arbeiter nach Hamburg. Später kehrte er nach Leipzig zurück, studierte auf dem Konservatorium Musik und war später an einer marxistischen Schule als Lehrer tätig.

1933 wurde er wegen seiner Betätigung für die kommunistische Partei seines Amtes enthoben und kam in Haft. Später entlassen wurde er Musikerzieher in Berlin, wurde wiederum 1940 verhaftet und kam ins KZ Sachsenhausen. Im März 1942 entlassen, holte ihn im Juni 1942 die Gestapo zurück. Diesmal kam er vor das Volksgericht, von seinen sieben Mitangeklagten hatte er nie einen von Angesicht gesehen, am 9. Oktober 1942 wurden sie alle zum Tode verurteilt. Rund hundertachtzig Tage und Nächte musste er dann im Todeshaus in Plötzensee auf die Vollstreckung des Urteils warten. Am 5. April 1943, am Tage der Hinrichtung, war er eigentlich zum ersten Male davon überzeugt, dass er doch begnadigt worden sei: man hatte ihm von acht Jahren Zuchthaus gesprochen. An diesem Tage fiel sein Kopf.

. . .

So verdichtete sich das Leben in den folgenden Wochen immer mehr in ihm, er gibt alles auf, was nur dem flüchtigen Augenblick gilt, er macht alles dicht und fest, was Bestand in ihm hat. Es gibt da viele, viele Stunden, da er nur auf seinem Strohsacke sitzt, Erbsen sortierend (die seine heimliche Hauptnahrung sind), und leise vor sich hinsingt. Die Tränen laufen noch oft über seine Wangen, jedes unvermutete Öffnen der Zelle erschreckt ihn. Aber das sind nur die äußerlichen Dinge: alles wird immer fester in ihm, und ein ewiges Zeugnis geben davon die Briefblätter und seine Gedichte ab. Ehe ich noch einige wenige dieser Gedichte hier anführe, möchte ich einen Gedanken wenigstens noch andeuten, der mich, den ewigen Bücherschreiber, besonders seltsam anrührt. Das Todeshaus in Plötzensee hat also aus dem Musikerzieher Sas einen wirklichen Dichter gemacht, davon glaube ich jetzt schon meine Leser überzeugt zu haben. Ist es nicht ein selsamer Gedanke, dass dieser selbe Mann, wenn der Henker auch am hundertachtzigsten Tage an seiner Zelle vorübergegangen wäre, wenn er durch die Russen etwa seine Freiheit zurückbekommen hätte, eines Tages ins Leben zurückgekehrt wäre und seine alten Tätigkeiten begonnen hätte -? So starb er als ein Dichter. Aber so ist es: so wenig sind wir und so viel können wir aus uns machen, macht das Leben aus uns, wenn wir nur wollen.

Hans Fallada (1892 - 1947), aus: Das Todeshaus formt einen Dichter

Anmerkung: Erst 1958 wurde Alfred Schmidt-Sas‘ Gedichte aus der Totenzelle publiziert (in: Neue Deutsche Literatur, Heft 3/1958, mit einem Vorwort von Ferdinand May). Falladas Aufsatz aber blieb ungedruckt. Er wurde 75 Jahre nach der Niederschrift, im Mai 2021, erstmals im Reclam Verlag publiziert.

Das Foto zeigt eine erkennungsdienstliche Aufnahme von Alfred Schmidt-Sas

Dienstag, 9. Mai 2023

Marianne Dora Rein: Die Liebenden

 



Die Liebenden

Durch lauen Abend wandeln die Liebenden;
um ihre Schultern der Verzauberung Mantel,
den Dämmerung säumt.

Sanfte Lichter glänzen in ihren Augen.
Tiefer noch leuchtend als der Sterne Strahlen
in nächtlicher Bläue.

Aneinandergeschmiegt suchen sie schmale Wege,
grasbewachsene, die ins Dunkel führen,
wo ihrer die Nacht harrt.

Marianne Rein, aus: Zweimonatschrift der Juden in Deutschland, herausgegeben von Julius Goldstein, Philo-Verlag, Berlin, Heft 2 Mai 1937

Marianne Dora Rein war eine junge hoffnungsvolle jüdische Dichterin aus Würzburg. Am 27. November 1941 wird Marianne Rein zusammen mit ihrer Mutter mit dem ersten aus Würzburg abgehenden Transport zusammen mit weiteren 200 Personen, darunter 40 Kindern und Jugendlichen, deportiert. Der Transport ging über Nürnberg nach Riga. Die Deportierten wurden, so eine Überlebende, in den eiskalten Wirtschaftsgebäuden des Jungfernhofes bei Riga untergebracht. Von dort gingen ab Februar 1942 Transporte ab, zuletzt am 26. März 1942 ein Transport mit ca. 1700 Menschen. Alle Abtransportierten wurden am gleichen Tag in einem Wald bei Riga erschossen. Von den im November 1941 aus Franken nach Riga Deportierten haben, soweit bekannt, zwei Personen überlebt.

Das Bild ist von Josef Eberz (1880 - 1942), unter den Nationalsozialisten galt er als „Entarteter Künstler“, 1937 wurden in der Aktion „Entartete Kunst“ eine große Anzahl seiner Arbeiten aus Museen und öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt, die meisten vernichtet.

Montag, 8. Mai 2023

David Goldfeld: Wohin?

 



Wohin?

Versponnen schweigt die Dämmrung überm Walde.
Wir wollen heimgehn, sieh, der Tag erlischt!
Den dünnen Pfad auf grenzenloser Halde
hat schon das Dunkel da und dort verwischt.

Wir wollen heimgehn, Tau benetzt die Zweige
und Kühle schauert um das dürre Gras.
Die Stille tönt wie eine ferne Geige,
der nahe Abendhimmel schimmert blass.

Ein zartes Raunen, ach ein süß Verlocken
umschwebt die Fernen, die noch matt erglühn.
Bald kommt die Nacht, schon läuten ihre Glocken.
Wir wollen heimgehn, Liebste, ach wohin? - -

Aus: David Goldfeld, Der Brunnen Gedichte, Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Helmut Braun, Rimbaud Verlagsgesellschaft mbH Aachen 2010

David Goldfeld, geboren am 14. Mai 1904 in Czernowitz (Österreich-Ungarn, heute Ukraine), gestorben am 08. Mai 1942 in Czernowitz (Rumänien). Sohn eines Kantors, wuchs in Czernowitz auf, verbrachte während des Ersten Weltkriegs einige Jahre in Böhmen und absolvierte nach der Rückkehr in seine Geburtsstadt das Gymnasium. Infolge einer frühzeitig ausgebrochenen Lungenkrankheit konnte er, ein hochbegabter Tenor, das Konservatorium nicht besuchen und war in Czernowitz und zeitweilig Bukarest als Beamter tätig. Freundschaftliche Beziehungen verbanden ihn mit Alfred Margul-Sperber, Alfred Kittner und Rose Ausländer, die ihm zwei Gedichte widmete.

Das Bild ist von Harald Sohlberg (1869 - 1935)

Sonntag, 7. Mai 2023

Peter Hille: Regentropfen

 



Regentropfen

Regentropfen warm und groß
Machen aus der Nacht sich los,
Regentropfen warm und groß.

Da die Nacht steht ganz in Glanz,
Einen Augenblick da stand′s,
Ein Geisterantlitz, da entschwand′s.

Da, ein Blitz hat Licht gemacht,
Ganz in Glanz da stand die Nacht,
Da, ein Blitz hat Licht gemacht.

Helle wird im Lied das Leid,
Leuchtet auf wie ein Geschmeid,
Leuchtend wird im Lied das Leid.

Und da steht es in der Nacht,
Still in seiner Geisterpracht
Steht sein Antlitz in der Nacht.

Liedertropfen warm und groß
Lösen aus dem Leid sich los,
Liedertropfen warm und groß.

Peter Hille (11.09.1854 - 07.04.1904)

Am 7. 5. 1904 verstarb in Berlin der noch nicht einmal 50 Jahre alte Dichter Peter Hille.

„Weltkind, Mystiker, Realist, Romantiker, das alles in buntem, aber doch nicht gerade bizarrem Gemeng, das war Peter . . . Von all dem war ja auch ein Stück in uns andern, in jedem waren die Elemente anders gemischt, bei dem überwog dieses, bei dem jenes. Peter gab gern der Welt und ihrer Lust, was ihr gebührte, aber von jeher war doch vor allem stark in ihm die Sehnsucht nach dem Unbekannten, der Drang ins Übersinnliche. Oder vielmehr er machte keine strenge Scheidung zwischen dem Nahen und Fernen; ihm war beides gleich vertraut, er sah auch im Staubkorn Gott, und alle Weltlust trank er wie etwas Göttliches. Alles Reale war ihm voll Romantik und auch das Seltsamste durchaus real.“

Heinrich Hart, (1855 - 1906), Schriftsteller und Literaturkritiker in seinem Buch „Peter Hille“, Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig 1904

„Ein Mägdelein wollte einmal von mir eine Definition des Kusses. Ich gab ihm einen, und es wußte genau Bescheid.

Peter Hille also – na, Peter Hille ist Peter Hille. Zum Teufel! Wollt ihr noch mehr wissen?

Was ist Liebe? Liebe ist, wenn man – Ach was! Liebe ist Liebe! Ein Kuß ist ein Kuß! Und Peter Hille ist Peter Hille!”

Erich Mühsam (1878 - 1934), aus seinem Nachruf auf Peter Hille, im „Neuen Magazin für Literatur, Kunst und soziales Leben“, 1904

Else Lasker-Schüler setzte ihm mit dem 1906 erstmals erschienen „Peter-Hille-Buch“ ein Denkmal.

Samstag, 6. Mai 2023

Otto Abeles: Flüchtlinge

 



Flüchtlinge

Vieltausend Blicke greifen nach euch,
Ist keiner von trostreicher Liebe feucht.

Lästersucht, Dünkelmut, Unverstand
Strecken geschäftig nach euch die Hand,

Zerren euch, meistern euch, horchen euch aus,
Stehlen sich schamlos in euer Haus,

Spüren und spüren – da gellt schon ihr Schrei:
„Hier ist das Wild gestellt, Jäger herbei!“

Wer stürzt dort hervor aus gesprengtem Gelaß?
Das ist der uralte, lefzende Haß.

Wer schützt euch mit mürrischem Angesicht?
Die kalte, befohlene Mitbürgerpflicht.

Oh, wäre mein Arm wie der Himmel so weit,
Ich zöge an mich euer stummes Leid.

Oh, wäre mein Herz wie der Frühling so reich,
Ich bettete euch auf Blüten weich.

Ich hüllte euch, Mütter, in laue Nacht,
Daß ihr ungesehn weint und euch keiner verlacht.

Otto Abeles, geboren am 1. Mai 1879 in Rohaletz bei Nikolsburg, gestorben am 25. Mai 1945, Journalist, Schriftsteller und Musikkritiker. Er übersiedelte Anfang September 1934 in die Niederlande und wurde eines der eifrigsten und mutigsten Mitglieder der Amsterdamer jüdischen Gemeinde, er war auch Direktor des niederländischen Zweiges des Keren Hajessod. Nach dem Einmarsch der Deutschen Truppen während des Zweiten Weltkriegs wurde auch Abeles gefangen genommen und im Durchgangslager Westerbork interniert. Im Mai 1944 wurde er weiter ins KZ Bergen-Belsen deportiert. Er starb etwas mehr als einen Monat nach seiner Befreiung aus dem KZ an einer Flecktyphusinfektion.

Freitag, 5. Mai 2023

Carmina Burana: Springe wir den reigen. . .

 



Springe wir den reigen | Springen wir den Reigen
nu, vrowe min, | nun, Frouwe mein,
vroun uns gegen den meigen, | freuen wir uns gegen den Mai,
uns chumet sin schin. | uns kommt sein Schein.
Der winder der heiden | Der Winter der Heide
tet senediu not, | tat sehnende Not,
der ist nu cergangen, | der ist nun vergangen,
si ist wunnechllich bevangen | sie ist wonniglich überbedeckt
von blumen rot. | von Blumen rot.

Aus: Carmina Burana, Lateinische und deutsche Lieder und Gedichte
einer Handschrift des XIII. Jahrhunderts aus Benedictbeuern auf der K. Bibliothek zu München, Stuttgart Gedruckt auf Kosten des Literarischen Vereins 1847
Herausgegeben von Johann Andreas Schmeller (1785-1852)

Das Bild ist von Louis Janmot (1814 - 1892)

Mittwoch, 3. Mai 2023

Mynona, Robert Gernhardt über Sonette

 



In alte Schläuche taugt kein neuer Wein,
Der Dichter dichte, wie zum Beispiel Whitman;
Die Seele immer neu schafft ihre Rhythmen,
wer heut´ Sonette macht, ist nur ein Schwein.

Daher hüt` ich mich davor, allein
Ich bin darob beruhigt, denn ich glitt, wenn
Ich´s auch wollte, nicht diesen Ritt, denn
Grad zur Sonettform sag´ ich immer: nein!

Ich hoppse, wie die Muskeln mir´s diktieren,
will nicht in fremde Form gezwungen sein
und fühle mich ganz frei in meiner - meiner!

Pfui Teufel, sollt´ ich je Sonette schmieren:
Ich will ich selbst in meinen Lungen sein
Und niemals atmen in Petrarkas seiner.

Dieses Sonett von Mynona (Salomon Friedländer) dürfte wohl die Blaupause zu der etwas deftiger formulierten Sonettkritik von Robert Gernhardt sein:

Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs

Sonette find ich sowas von beschissen,
so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut

hat, heute noch so'n dumpfen Scheiß zu bauen;
allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,
kann mir in echt den ganzen Tag versauen.
Ich hab da eine Sperre. Und die Wut

darüber, daß so'n abgefuckter Kacker
mich mittels seiner Wichserein blockiert,
schafft in mir Aggressionen auf den Macker.

Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen:
Ich find Sonette unheimlich beschissen.

Robert Gernhardt (1937 - 2006)

Nur ließ Mynona seinem Missgefallen am Sonett noch 99 weitere Sonette folgen, wie zum Beispiel dieses hier:

Susanne wandert nach dem Badezeltchen,
Die Glieder eingehüllt in seidnen Rips,
Ein Herr (Zylinder, Lack, Monokel, Schlips)
Folgt ihr verstohlen in das Tannenwäldchen.

„Zu mager“, urteilt er. Doch durch ein Spältchen
Schielt lüstern er, ein ganz infamer Fips,
Erblickt (statt des vermeintlichen Geripps)
In Wahrheit das graziöseste Gestältchen.

Anmutig hebt sie eine Wasserkanne,
Besprudelt ihren fabelhaften Wuchs.
Er, selbstvergessen, ungeheuer hastig

(So geht es dem überreizten Manne)
Tritt fehl, versinkt fast ohne jeden Murr
In einem Sumpf (die Gegend war morastig).

Aus: Hundert Bonbons, Sonette von Mynona, München bei Georg Müller, 1918; angemerkt sei noch, dass ich persönlich Sonette sehr schätze. 

Salomon Friedländer, geboren am 4.5.1871 in Gollantsch/Posen; gestorben am 9.9.1946 in Paris. Der Sohn einer jüdischen Arztfamilie verbrachte seine Jugend in Posen und Berlin. In München studierte er ab 1894 Medizin, in Berlin Zahnmedizin und ab 1896 Philosophie (Promotion 1902 in Jena). 1906 siedelte er nach Berlin über und schrieb nun unter dem Namen Mynona (Anagramm von »anonym«) auch Gedichte und Grotesken; seine philosophischen Schriften erschienen unter dem Namen Friedlaender. 1933 emigrierte er nach Paris.

Das Foto ist aus dem Nachlass, Salomo Friedlaender Collection, Leo Baeck Institute, New York