Dienstag, 9. Juni 2020

Peter Baum: Ich wandere



Ich wandere

Ich wandre und kenne nicht Zeit noch Raum
Und lächle ins Leben, als sei es ein Traum,
In wehenden Gärten, die Dämmerung umflicht –
Ich staun’ wie ein Kind in das zitternde Licht. –
Sie sagen, ich altere Jahr um Jahr,
Mir welke die Wange, mir bleiche das Haar,
Am Ende des Weges, da harre der Tod,
Weiß nicht, ob er lächelt, weiß nicht, ob er droht.
So wandre ich, wandre ich Nacht und Tag
Wolken Sternen und Schatten nach.

Peter Baum geboren am 30. September 1869 in Elberfeld, gestorben 6. Juni 1916 bei Keckau/Riga.

Seit 1898 stand Peter Baum in Verbindung zum Autorenkreis um Peter Hille. Eine Freundschaft verband ihn mit Herwarth Walden, an dessen Zeitschrift „Der Sturm“ er mitwirkte. Baum war Mitglied der lebensreformerischen Vereinigung „Die Kommenden“ und stand der „Neuen Gemeinschaft“ nahe. Er galt als engster Vertrauter von Else Lasker-Schüler. Peter Baum, der sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges als Freiwilliger gemeldet hatte, wie so viele seiner Dichtergeneration, fiel 1916 im Baltikum.

Paul Adler: Zwei Lieder



Zwei Lieder

Ich gedenke, ich gedenke
wie so stumm schweigt die Nacht
Wie so schwer aller Schlaf ist
Und kein Wacher je wacht.

An die Wände, durch die Hände
Tropft die Zeit, wie von Zinn
Durch den Raum, der ein Wrack ist,
Und ich einzig darin.

Und ich leg mich still, Rumpf, der legt sich still.
Und die Flut bricht durchs Dach.
Starke Worte noch, Zauberworte noch
Halten je wach.

* * *

Ich weiß nicht mehr, was die Welt ist
Denn sie ist ja nicht, weiß Gott.
Ich weiß nur: all das Gefühl rings
Ist die Welt außer Gott.

Nichts hab ich mehr zu verkünden
Und nichts weiß ich von mir.
Allen Widerspruch, auch meine Sünden
Warf ich glücklich von mir.

Auf den Ewigen, der sie hütet
Als sein eigenes Kind
Auf den jüngsten Tag, wo sie alle
Seine Tugenden sind.

Aus: Verkündigung, Anthologie junger Lyrik, Roland Verlag München Pasing 1920

Paul Adler, geboren am 3. oder 4. April 1878 in Prag, gestorben am 8. Juni 1946 in
Zbraslav bei Prag. Nach dem Jurastudium praktizierte er kurze Zeit Jahre als
Rechtsanwalt in Wien, bevor er aus einem Gewissenskonflikt heraus seine Tätigkeit aufgab. Seit 1902 hielt er sich in Paris, Pola, Italien, Berlin und Wien auf. 1912 zog
er in die Gartenstadt Hellerau bei Dresden, in der sich eine Künstler- und
Kunsthandwerkerkolonie gebildet hatte, die der Lebensreform nahestand. Hier veröffentlichte er in der kurzen Zeitspanne von 1914 bis 1916 seine dichterischen
Hauptwerke Elohim, Nämlich und Die Zauberflöte. Ebenso arbeitete er für die von
Franz Pfemfert gegründete expressionistische Zeitschrift Die Aktion. Als überzeugter Pazifist wurde er vom Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg freigestellt, vor den Nationalsozialisten musste er schließlich 1933 aus Deutschland flüchten, den Holocaust überlebte er durch die Hilfe seiner Frau in einem Versteck bei Prag.

Freitag, 5. Juni 2020

Margarete Beutler: Der kühle Tag






Der kühle Tag

O Tag, so kühl und sonnensatt
Hast du dich in die Welt geschmiegt!
So kühl wie dieses Rosenblatt,
Das zwischen meinen Lippen liegt,
So kühl wie jene Mädchenhand,
Die über meine Stirne ging,
Kühl wie ein seiden Nachtgewand,
Kühl wie ein weißer Schmetterling!

Was tu’ ich nun mit meiner Glut,
Die in die Sonne lechzt und drängt,
Wo du mit einer Schleierflut
Von Wolken mir das Licht verhängt?
Trag’ ich nun still mit heißer Hand
Recht wie ein wartekrankes Kind
Mein rotes Herz durch müdes Land
Bis an den grauen Abendwind.


Aus: Margarete Beutler, Leb’ wohl, Bohème!
Georg Müller Verlag,
Leipzig und München, 1911

 Margarete Beutler, geboren am 13. Januar 1876 in Gollnow, Provinz Pommern; starb am 3. Juni 1949 in Gammertingen auf der Schwäbischen Alb. Sie wirkte als Lyrikerin und Übersetzerin aus dem Französischen. In den Schriften zum „Café Größenwahn“ und zum „Romanischen Café“, wo sie gerne verkehrte und bekannt war, wird erwähnt, dass sie 1925 „verschollen“ sei. Nach der Geburt ihres Sohnes lebte sie mit ihrem Mann, Friedrich Freksa, einem Roman- und Krimiautor, in München. Beutler war u. a. befreundet mit den Autoren Christian Morgenstern und Frank Wedekind. Nach ihrer Scheidung lebte sie zurückgezogen. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten entschied sie sich gegen einen Eintritt in die Reichsschrifttumskammer. Beutler schrieb auch unter den Pseudonymen „Margit Friedrich“, und „Margarete Friedrich-Freksa“. Sie schrieb in ihrer Berliner Zeit (bis etwa 1925) im Berliner Dialekt und zählte sich selbst zur sog. Bohème (vgl. ihr Buch Leb wohl, Bohème! Ein Gedichtbuch, 1911). Gedichte aus ihrem ersten Gedichtband (1902) sind auch in die Gedichtsammlung Lieder aus dem Rinnstein von Hans Ostwald (Hrsg.) aufgenommen worden. (Wiki)



Sonntag, 31. Mai 2020

Lili Grün: Elegie bei einer Tasse Mocca




Elegie bei einer Tasse Mocca

Mein letzter Freund war ein Jurist.
Ich bin seit dieser Zeit gegen Juristen.
Juristen sind alle falsch, herzlos und bös,
Ich kann dieses Wort gar nicht hören, es macht mich
nervös.
Darum wünsch‘ ich mir zum nächsten Verehrer
Beispielsweise einen Volksschullehrer.
Ein Mann, der den ganzen Tag kleine Kinder unter-
richtet,
Muß doch, nebst Verstand und anderen Gaben,
So etwas wie eine Seele haben.
Und ich bin so scharf auf Seele!

Jedoch für Stimmung und Poesie
Wäre die einfachste Lösung ja die:
Man könnte einen Landpastor bekommen.
Aber die Leute sagen, es wird so schwer gehen,
Und ich muß ja selbst gestehen:
Durch meinen vergangenen Juristen
Habe ich so wenig Umgang mit Christen.
Und wenn man bedenkt, wie selten sich so ein Landpastor
Ins Romanische Café verirrt,
Muß man zugeben, daß es einigermaßen schwer sein
wird!

Aus: Lili Grün - Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten, gesammelt, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Anke Heimberg, AvivA Verlag, Berlin, 2014

Lili Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern ging sie Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo sie 1931 zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der Künstlerszene ein literarisch-politisches Kabarett eröffnete. Zurück in Wien verarbeitete sie ihre Berlin-Erlebnisse in ihrem Roman "Alles ist Jazz", der erstmals 1933 unter dem Titel "Herz über Bord" im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Mit der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und am 1. Juni 1942 mit anderen Opfern, darunter die Dichterin Alma Johanna Koenig, im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.

Alma Johanna Koenig: Haus im Frühling




Haus im Frühling

Schon immer war mir der Frühling Freund
wie jedem, der ihn besang,
doch diesjahrs kommt er bekränzt und gebräunt
und mit lachendem Überschwang.
Er gibt mir Wiesen und Hain und Wald,
eigen Hof, eigen Haus und Getier
und bleibt in deiner geliebten Gestalt
für selige Zeiten bei mir!

O, denk es zu Ende! O, denk dir dies
anwachsende Glück zu zwein.
Der Abend: dein Gang über knirschenden Kies
und drin meiner Lampe Schein!
Der Winter: wir zwei, die geborgen sind,
über liebe Bücher gebeugt!
Und denk das Kind dir, unser Kind
von Sehnsucht und Kraft gezeugt!

Du gibst mir Heimat, du gibst mir ein Haus,
nimmst Friedlosigkeit von mir.
An deiner Brust weint das Weh sich aus
und Angst verzittert bei dir.
Nun kommt meines Lebens Erntezeit
und nun erst lern ich verstehen
den Jubel des von der Vogelweid:
"Ich hân min lêhen - min lêhen!"

Aus: Alma Johanna Koenig Liebesgedichte
F. G. Speidel'sche Verlagsbuchhandlung Wien und Leipzig 1930

Alma Johanna Koenig, geboren am 18. August 1887 in Prag; ermordet am 1. Juni 1942 im Vernichtungslager Maly Trostinez (bei Minsk), Lyrikerin und Erzählerin.

Das Bild "Kleine Hütten im Wald" ist von der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch. Mit freundlicher Genehmigung der Hedi Kupfer Stiftung Fredelsloh als Nachlassverwalterin. 

Samstag, 30. Mai 2020

Robert Brendel - Gedichte



I

Meine Seele, Du, Gewölbe einsamkeitumblaut!
Meer mit unsichtbaren Küsten,
Glut, die durch die Mitternächte taut,
Ragst Du nicht mit trunkenen Gelüsten
In Regionen, die das Kreuz des Südens schaut?

Türmerin von Kathedralen, die im Nordlicht stehn,
Griff aus Dunkelheit der Träume,
Wandlerin auf kirchentiefen Seen,
Wälzt Du nicht die Ewigkeit der Räume
Wie beschwingte Knaben Reifen durch Alleen?

Schauerin des Chaos, das vorweltlich widerhallt,
Wanderin durch letzte Ringe,
Faust, die sich um kreisende Gestirne ballt,
Sinkst Du nieder noch auf alle Dinge
Vampyrbrünstig saugender Gewalt?

Meine Seele, Du, Gewölbe allheitüberblaut!
Dom aus Inbrunst aller Töne,
Wirst Du nicht von Gottes Reich umbaut –
Dieses einst durch Deine späten Söhne
Wandeln in Gestade, die Dein unbenannter Gott
nur schaut?

II

Seligpreisungen eröffnen ihre sieben Pforten
In den Mauern Deiner dreigetürmten Stadt.
Zwölf Apostel weinen an den sieben Orten,
Die geheimnisvoller Tropfen Deiner Einheit über-
wunden hat.

Und Propheten stehn zu zwölf verkündend an den
Wegen,
Die durch Meere führen ins gelobte Land,
Wo die Unermeßlichkeiten sich bewegen
Aus der rätselhaften Fülle Deiner dreigespaltnen Hand.

Steht Maria nicht am andern Ufer Deines Flusses:
Zeichen der unheimlich doppelten Gestalt,
Die aus Rausch zusammensinkenden Ergusses
Durch die Einfalt aller Kinder ungebrochen widerhallt?

Schaure Du, den Gottessüchte in die Sphären stürzen:
Dein unendliches Entströmen wird gelenkt
Von geheimen Wünschen, die es gütig kürzen,
Daß es Dich im dunklen Gleichmaß tönend nicht aus
Deinen Grenzen sprengt.

Aus: Der Zweemann, Literarische Zeitschrift, Nr. 5, März 1920

Robert Brendel, geboren am 3. September 1889 in Pachuca, Mexiko; gestorben am 29. Mai 1947 in Hamburg, Studienrat und Schriftsteller.

Robert Brendel rief 1927 einen „Republikanischen Verein“ ins Leben und äußerte sich ausdrücklich positiv zur Weimarer Republik. Dafür erhielt er bereits vor 1933 massive Kritik von rechts. Er schloss sich keiner Partei an, trat jedoch aufgrund seines sozialen Verantwortungsgefühls für ausgegrenzte Personen ein. Da er zu seiner jüdischen Frau hielt, musste er 1934 zwangsweise nach Wesermünde wechseln und wurde 1936 zwangspensioniert. Im selben Jahr zog die Familie nach Hamburg. Brendel hoffte, in der Anonymität der Großstadt weiteren Repressionen entgehen zu können. Er schrieb einige kurze Texte, die unter anderem im Hamburger Anzeiger erschienen. Ab 1938 waren ihm weitere Publikationen endgültig verboten. In der Folgezeit nahmen die Repressionen gegen Brendels Familie signifikant zu. Robert Brendel wurde zur Zwangsarbeit herangezogen. Seine Frau sollte im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert werden, wozu es jedoch aufgrund eines kurzzeitigen Aufschubs nicht mehr kam.

Das Bild "In Blau" (1925) ist von Wassily Kandinsky (1866 - 1944)

Dienstag, 5. Mai 2020

Karl Gustav Vollmoeller: Die Reise (Juli 2014)



Die Reise (Juli 1914)

In mahagonigetäferten Luxuskabinen
Mit schneeweißen Bädern,
Mit taubengrauen oder pfirsichfarbnen Salons,
In einem sichern tönenden Haus von Eisen,
In lautlosen Lifts, über wallende Treppen,
Fahren wir, lachen wir, tanzen wir unbekümmert und hohl
Hochgemut über die unendlich sich krümmende See.

Wie ist dies alles so köstlich für uns bereitet
Und wohl ausgerichtet für uns. Wie kniet
Jetzt morgens schon das zerfurchte Weltmeer
Demütig bereit vor unsern schwimmenden Balkonen,
Wie erblassen die hohen Klimate und Zonen
Vor einem Damenhut und wehenden Schleier,
Wie legt sich die alte Erde selbst,
Der zornige Bergsee und die einst stolze Jungfrau,
Klein und gefällig vor die Estraden unsrer Hotels.

O Welt der Welten, o Jahr der Jahre. 0 Fest,
Perlschnur der Feste. - War je ein heißerer Glanz
Im chemischen Schnee und der elektrischen Sonne
Von Sankt Moritz, im seidigen parfümierten
Frühmärz von Nizza? Hing je ein blaueres Meer
Hinter giftigem Grün der goldzerschabenen Tische
Und ein blau`res Albanergebirge
Hinter beflaggtem Rasen und seliger Ellipse
Der Capanelle?

O Jahr
Von allen Jahren der Jahre. - Nachdem
Wir keins der Feste versäumt, nicht eins hinter spitzen verschwiegnen
Gittern des Faubourg, keins
In den steinernen Burgen am Corso, den palermischen Villen,
In konfettibunten maskenschrillen
Schwirrenden Kolonnaden des königlichen Turin,
Keins in der Scala, keins am Canal
Bei den steinernen Löwen der stillen Luisa Casati. ..

Und nachdem wir dann eilends noch zum tutenden Hudson
Zurückgekehrt und unsre Rolls Royce
Durch den letzten Blizzard des Jahrs und die bengalische Hölle des Broadway
Zur großen Oper genötigt,
Wo wir von heiligen angestammten Sitzen
Die Tetrazzini und den müden Caruso lorgnettiert
(Und selbst auch gebührend bemerkt wurden) - nachdem
Wir bei den letzten arabischen Nächten
In der Fünften und Park Avenue, in Philadelphia und Boston
Unsre atemlosen Kostüme von Bakst gezeigt
Und zuletzt, etwas müdegetanzt,
In den Strandstühlen von Palm Beach in der Sonne gelegen
Oder vor Jamaica
Auf dem weißgescheuerten Deck einer gut getrimmten
Hunderttonnigen Yawl.. .

Wie sehr
Drängt es uns jetzt hinwiederum, es möge dies große Hotel
Mit siebzigtausend HP und echten Palmen
Und Zigeunermusik im Grill Room
Uns pünktlich zum Ersten in Southampton landen
(Wie wir es für unser Geld ja erwarten können),
Damit wir rechtzeitig in St. James erscheinen,
In Belgravia, Mayfair und den bunten Buden
Um Piccadilly und Strand, und uns nichts entgehe
Von der großen Menschenmesse, die jeden Sommer
In der Stadt London sich aufstellt…

Was wird da nicht alles
Auf goldenen Schüsseln serviert in herzoglichen Salons :
Krammetsvögel des Geists, Kapaune der Kunst,
Schönriechende Bilder,
Schmackhafte Statuen, leckere Bechsteinflügel —
Üppige Priester, gedörrte Theosophen, Konserven
Von älteren Ministern und Generalinnen,
Schämige eingemachte Kokotten und frische
Kirschnackte Duchessen (dies unter uns). . .

Fürwahr,
Durch uns ist alles: Vollblüter werden geboren
Mit kläglichen Köpfen und zerdehnten Leibern,
Ein ganzes Geschlecht
Zwerghafter dünnbeiniger Männchen entsteht: Galopp.
Wirbel von Farben . . .

Zu unserer Lust
Steigt mit einmal vom neblichten Feld von Issy
Der erste Flieger. . . Für uns
Stürzen bald mehrere ab und erhalten unsere Anerkennung dafür.
Wir zahlen eine kleine Summe, ein Trinkgeld von zwei Guineen :
Pegoud überschlägt sich an einem Trapez von Luft.
Wir zahlen zehn: Graue Meister klopfen ans Pult,
Zarte Violen und langverblichene Instrumente
Lecken uns in den Ohre. . . Nijinski
Lernt einen Sprung, einen göttlichen Sprung, für uns.

Wir subskribieren Logen: Schaljapins Kehle
Füllt sich mit der Löwenstimme eines zürnenden Gottes.
Wir klatschen:
Richard Strauß drückt Millionen Punkte und Striche Auf
sechsunddreißigfach liniertes Papier. . . Wir furchen
Aufmerksam die Stirn: schon keucht
Die athletische Brust und der kurze Hals von Rodin
Vor einem neuen Werk. . .

Fürwahr,
Durch uns ist alles. Auf unser Geheiß
Ward diese schwimmende Stadt mit heulenden Schloten und tobt
Von West nach Ost, rast ewiger Dampf
Im Labyrinth der Turbinen.
Für uns Träumen schwitzende Heizer von schattigen
Bänken im Park Und Kohlentrimmer mit schwarzgeränderten Augen
Vom Bad im Fluß. . . Für uns,
Die zartgehandeten Leichten, Lichten,
Front (wir wissen es wohl) eine siedende Unterwelt
Die wir taktvoll umgehn, kranken ganze Länder und Schichten
An unsaubern Übeln, die wir taktvoll nicht sehn. . .
Denn wir sind weiche freigebige Herrn und bereit
Für alles ohne viel Markten reichlich zu zahlen,
Keine rauhen Tyrannen, bewahre,
Und wohlgelaunt,
So lang unsre teuren Schiffe mit guten Winden fahren
Und unsre wohlgefederten teuren Wagen
Auf sanft gepreßter elastischer Luft. .. und uns niemand
Nachdenkliche Träume schickt. . .

»Was? Nebel? Wir halten? Wie?
Nebel vor Irland? — Doch keine Gefahr, Kapitän?«
(Nebel ist uns von allem am meisten zuwider.
Er weckt Erinnerungen.)

»Ei sieh da, sieh,
Was will sie schon wieder, die bleiche Lehrerin
Aus der zweiten Kajüte? (Das richtige Unglücksgevögel. ..
Warum läßt man sie nur?)

Was, Fräulein? Sie sammeln? - Wie?
Eine Tote im Zwischendeck, sagen Sie?
Sechs Kinder? - Unmöglich. . . Heut Abend ist großer Bazar
Für die Blinden von Lady Malcolm. . . «

»Wir fahren wieder?
(Na Gottseidank.) Achtung, da kommen die Damen:
Lady Knox singt sehr französische Lieder
Frei nach Gaby Deslys. Auch empfehle ich Ihnen die Schleier­tänze
Der Fürstin Lwoff. Ihre Decolletes
Und ihre Wohltätigkeit sind ohne Grenze. «
- » Ein Glas Sekt, hundert Dollars … zweihundert. . .
Die roten Kamelien fünfzig… Fünfhundert. ..«(Dies Fräulein ist immer noch da,
Sie verdirbt mir die Stimmung mit ihrer Toten.)
» Ernsthaft, Fräulein, Sie irritieren mich.
Gehn Sie. Hier sind zehn Pfund.« – »Tausend die weiße
Gardenie, die letzte. . . «

II

Herr, zerschmeiße
Dies stinkende Geschlecht. Herr, Herr, zerbrich
Dies Haus von Kot. Öffne den Abgrund, reiße
Die tiefen Schlünde auf. Herr, hebe dich

Endlich vom Thron. Uns frommt nicht mehr der schwache
Gottvater. Hast du Donner, schleudre sie :
Sei wieder Gott des Zornes, Gott der Rache,
Der alte finstre Gott vom Sinai,

Sei Gott vom Flammenbusch und glühenden Ofen,
Blutgott. Wirf Blitz und Schwefel, ja erneue
Das alte Strafgericht: Zertritt die Säue,
Versenke sie samt ihren güldenen Kofen -

Uns alle mit, die wir dumpf und geduldig
Uns Jahr um Jahr mit ihrem Schleim beflecken. . .
Nicht zehn Gerechte, Herr, wirst du entdecken
Denn wir sind alle, alle, alle schuldig:

Die Trägen, daß sie dieses so getragen,
Die Geilen, daß sie so mit ihnen fuhren,
Mit ihnen fressen und mit ihnen huren,
Und alle, daß wir sie nicht lang erschlagen,

Die Pharisäer. - Wozu noch verziehen?
Zeig deine Schrift, steil in die Nacht gemeißelt.
Denk an den Sohn - sie haben ihn gegeißelt,
Denk an den Geist - sie haben ihn bespieen. . .

Warum verließt du Ihn, als das beschweißte
Antlitz er hob, Wein, Gold und Jauche kreiste
Am Kreuz wie hier? So recke deine Hand.
Der Krebs ward Pest. Das Viele ward das Meiste,
Ja wir sind alle Sünder an dem Geiste. .

- Erster August: Ein Stewart meldet Land.

Karl Gustav Vollmöller, geboren am 7. Mai 1878 in Stuttgart; gestorben am 18. Oktober 1948 in Los Angeles, der Stadt seines Exils. Er war ein Tausendsassa: Archäologe, Philologe, Lyriker, Dramatiker, Schriftsteller, Drehbuchautor, Übersetzer, Rennfahrer, Flugzeugkonstrukteur, Pionier des Stumm- und Tonfilms und Reformer des deutschen, europäischen und amerikanischen Theaters.

„Auch darin, daß für Vollmoeller der Zusammenbruch des Ästhe­tizismus und der technischen Welt chronologisch zusammenfällt, dokumentiert sich die Nähe beider Bereiche. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bildet den entscheidenden Einschnitt. Das hat Vollmoeller in einem breitangelegten Gedicht, «Die Reise (Juli 1914)», eindrucks­voll gestaltet.

In diesem Gedicht werden beide Sphären ineinandergeblendet, ineinandergeschoben, was vielleicht darum so überzeugend gelingt, weil sie als Spiegelwelten erscheinen — Spiegelwelten nicht nur, weil sie sich gegenseitig reflektieren, sondern auch, weil sie letztlich illusionär sind.“

Klaus Günther Just

Dienstag, 25. Februar 2020

Emil Alphons Rheinhardt: Morgenfahrt zur Geliebten / Im Gehen



Morgenfahrt zur Geliebten

Die Felder rauchen
Den weißen Flor
Und goldbraun tauchen
Die Bäume empor.
Und alles so eigen,
Feld, Wiesen, Wald -
Warten und Schweigen -
Und jetzt: Beben und Neigen -
Die Sonne kommt bald.


Im Gehen

Ich summ' ein Lied im Gehen,
Hell hallt mein Schritt in Straß' und Tor.
Die alten Häuser sehen
Tief schweigsam in die Nacht empor.
Und plötzlich bleib' ich stehen,
Im Herzen wird's mir seltsam warm,
Als könnt' ich Eine sehen,
Als hielt' ich Eine noch im Arm.
Mußt' in ein Fenster lauschen:
Mir war, als ob wer zu mir sprach.
- - - - - - - - - - - - - - - -
Fern hör' ich Bäume rauschen -
Und gehe meiner Sehnsucht nach.


Aus: Emil Alphons Rheinhardt: Stunden und Schicksale, Hugo Heller Leipzig und Wien 1913

Emil Alphons Rheinhardt, geboren 4. April 1889 in Wien, gestorben 25. Februar 1945 im KZ Dachau an Fleckfieber, war Lyriker des Wiener Expressionismus, Lektor und Schriftsteller.

Freitag, 14. Februar 2020

Alfred Friedmann: Staatsvisite





Staatsvisite

Heut hab ich eine alte Freundin besucht,
Mit der ich einst jung gewesen,
Wir haben des Schicksals Runen gebucht,
In vergilbten Blättern gelesen.

Dann sagten wir weiter – dies und das –
Von dem eigenen und fremden Willen,
Und ich sprach: "Ich sehe nicht ohne Glas!"
So griffen wir dann zu den Brillen!

Das Wiedersehn, glaub ich, das wir begehn
Und das wir soeben gefeiert,
Es ward nicht getrübt, weil schlechter wir sehn:
Nur durch verhaltene Tränen verschleiert!


Aus: Die zehnte Muse. Dichtungen vom Brettl und fürs Brettl aus vergangenen Jahrhunderten und aus unseren Tagen, 1904

Alfred Friedmann, geboren am 26. Oktober 1845 in Frankfurt am Main; gestorben am 13. Februar 1923 in Berlin.

Mittwoch, 8. Januar 2020

Kurt Schwitters: Es kehrt die Zeit





Es kehrt die Zeit

Es kehrt die Zeit
Dreimal so weit.
Ich bin entzweit
Millionenweit.
Ich bin bereit:
Es kehrt die Zeit.

Die Zeit ist um,
Vorbei, vorbei.
Die Welt wird dumm,
Der Stab geht krumm,
Es fließt das Ei
Vorbei, vorbei.




Kurt Schwitters, geboren am 20. Juni 1887 in Hannover; gestorben am 8. Januar 1948 in Kendal, Cumbria, England; Dichter, Grafiker, Dadaist.

"Unsterblichkeit ist nicht jedermanns Sache"