Mittwoch, 30. August 2023

Christian Morgenstern: Ein einunddreißigster August

 



Ein einunddreißigster August

Das war der letzte leuchtende August:
Der Sommer gipfelte in diesem Tage.
Und Glück erklang wie eine Seegrundsage
in den Vinetatiefen unsrer Brust.

Ein leises fernes Läuten kam gegangen -
und welche wollten selbst die Türme sehn,
in denen unsres Glückes Glocken schwangen:
so klar ließ Flut und Himmel sie verstehn.

Der Tag versank. Mit ihm Vinetas Stunde.
Septembrisch ward die Welt, das Herz, das Glück.
Ein Rausch nur wie von Tönen blieb zurück
und schwärmt noch über dem verschwiegnen Grunde.

Christian Morgenstern, geboren am 6. 5. 1871 in München, gestorben am 31. 3. 1914 in Untermais, Tirol; aus: Monatsgedichte, herausgegeben von Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, Reclam

Das Bild ist von Félix Valloton (1865 - 1925)

Dienstag, 29. August 2023

Elsabeth Meinhard: Die Stimme aus dem Dunkel

 



Die Stimme aus dem Dunkel

In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod am Rand der Nacht.
Die roten Schuhe sind aus meinen gestorbenen Träumen gemacht.
Blaugelbe Tore brechen auf in den dämmerigen Räumen.
Mir ist, als müßt´ ich im All meine sehnende Seele verschäumen.
Nur der hat zu Leben gewagt, der keine Grenze in sich hat,
Und der gleich selig wohnt in Mensch und Tier und Blatt.
Eine Stimme steht im Dunkel wie verschleiertes Licht.
An ihren blauen Knien liegt der Blütenbäume Gesicht.

Elsabeth Meinhard, auch Elisabeth Meinhard, geboren am 29. August 1887 als Elisabeth Krauß; gestorben 1937; 1919 und 1920 veröffentlichte sie Gedichte in den Zeitschriften Die Sichel und Romantik. Das Gedicht oben erschien 1920 in Die Sichel

Es sind auch Gedichte von ihr zu finden in: Hartmut Vollmer, "In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod", Lyrik expressionistischer Dichterinnen, Herausgegeben von Hartmut Vollmer, Arche Verlag Zürich 1993 Das obige Gedicht gab dieser Anthologie den Titel

Das Bild ist von Vito Timmel (1886 - 1949)

Montag, 28. August 2023

Wilhelm Holzamer: Unterwegs / Rückblick

 



Unterwegs

Bleischwer der Himmel
Über dem kalten Land.
Kahle Stoppelfelder,
wo wogend in der Sonne
goldenes Getreide stand.

Versteckt ein leises Rascheln
wie von wehendem Laub.
Starre, scharrende Hände
unter der harten Decke
von Frost und Staub.

Endlos alle Wege,
Luft und Erde leer.
Ich bin so allein und verlassen,
ich habe so weit noch zu wandern,
und kann nicht mehr.


Rückblick

Traumhaft seh ich, morgenlichtumflogen,
ferne meiner Heimat blauen Himmelsbogen.

Noch - im Wandern - darf ich nicht verweilen:
Alltags strenges Fordern, - und die Stunden eilen.

Doch - im Wandern - immer kehrt dies Winken:
ein verborgen Leuchten, wenn die Schatten sinken.

Dann auf Höhen fühl ich mich gezogen,
grüßend meines Friedens blauen Himmelsbogen.

Aus: Wilhelm Holzamer, Gedichte.
Aus dem Nachlaß hrsg. von Nina Mardon-Holzamer
Egon Fleischel & Co., Berlin 1912

Wilhelm Holzamer, geboren am 28. März 1870 in Nieder-Olm; gestorben am 28. August 1907 in Berlin.

„Wir brauchen das Neue und Weite, das Ziel des Ziellosen, die Unendlichkeit unbegrenzter Verwirklichungen immer neuer Erkenntnis- und Gefühlsaufklänge brauchen wir, in denen viele Dinge ein Recht haben, nebeneinander zu bestehen! Die neue Welt muß eine offene werden - die alte ist eine verschlossene.“ aus: Der Entgleiste, 1906

Das Bild ist von der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch

Sonntag, 27. August 2023

Victor Hadwiger: Mein Tag

 



Mein Tag

Und tausend Nächte hatten mich genarrt
Da leuchtend lachend kam der Tag! -
Ich starb.
Den Tag der Liebe starb ich
Es war kein Puppenspiel, war kein Hetärenmärchen,
Ein starkes, warmes Glück, ein purpurner Triumph. -
Weltrauschen hört ich, Mutter. Immergrüne Träume
Band ich zum Kranze meiner Feldherrnstirne.
Das ich in Wüsten fand, das Herz,
Auf Marmorstufen führte mich mein Herz,
Wo der Gedanke weint, der mich betrog,
In aller Schönheit Fiebergluten
Warf ich mein Herz und taumle, taumle, taumle!
In tausend Nächte tauch ich meinen Fluch!
Das war ein Tag, in seine Adern biß ich mich
Und sog ihn mit der Seele ein.
Ich starb zu Babel! - Leuchtend sprang
Das Glas, die Scherben klirrten!
Ein König! Ein Triumph! - Ich starb.
Die Garden salutierten.

Victor Hadwiger (1878  -  1911), aus: Die Aktion Nr. 17. 12. Juni 1911

1899 begann er ein Studium der Literaturgeschichte und Philosophie in Prag. Daneben verkehrte er im neoromantischen Literaturzirkel „Jung-Prag“, wo er u. a. mit Paul Leppin und Hugo Wiener, aber auch mit dem zehn Jahre älteren Bürgerschreck Gustav Meyrink nähere Bekanntschaft schloss und bald zu einer der markantesten Figuren der künstlerischen Bohème avancierte. „Leppin und Hadwiger erschienen meist zwillingsbrüderhaft gemeinsam. Sie waren beide sehr groß und trugen enorme Hüte, fielen auch auf der Straße auf. Beide sehr blaß, bunte Künstlerkrawatten flatterten um ihren Hals“, erinnerte sich rückblickend Max Brod in seinen Aufzeichnungen über den „Prager Kreis“. Im Frühjahr 1903 zog er nach Berlin, um sich dort durch die Mitarbeit an der „Vossischen Zeitung“ und eigene literarische Arbeiten seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sein im gleichen Jahr erscheinender Lyrikband Ich bin verhalf ihm hier zu einem viel beachteten Einstand. 1911 erschienen Victor Hadwigers Novelle „Der Empfangstag“ sowie die beiden Liebesgeschichten „Blanche“ und „Des Affen Jogo Liebe und Hochzeit“. Eine sich nun langsam abzeichnende erfolgreiche Schriftstellerkarriere beendete jedoch sein plötzlicher Tod am 4. Oktober 1911.


Samstag, 26. August 2023

Jakob Haringer: O Erde

 



O Erde

Es sinken die Menschen wie Früchte des Abends,
O Seele – o Wandeln – Du brüderlich Licht!
Einst rief bang die Heimat aus rauschenden Inseln –
Ihr Vöglein was klagt ihr den Liebenden nicht?
Ich suchte die Wiege gleich schwärmenden Bienen,
Der Bettler schlingt purpurnen Schatten um's All,
Doch du wirst die silbernen Wälder zertrümmern –
Ein Fremdling und Morgen – dem dorrenden Wall
Die schöneren Häupter arm lächeln sie Veilchen,
Ach sternender Urne träumt vorige Welt –
O Gott Deine Sünden sind wir – wir Elenden
Und himmeln Vergessen im trostlosen Zelt.
Wenn stillere Sommer ihr Schicksal uns schaudern . . .
Sieh: tanzende Schiffe rührn Tod keusch und lohn,
Was spielende Feuer dem Lorbeer des Lebens
Und süß löscht die Lampen ein irrender Sohn.
Du dachtest an goldene Mühlen und Lieder –
O Maske um's Sterben bist Reise zum Kind.
Es sinken die Menschen wie Früchte des Abends,
Herz! Alles wird dämmern – wir regnen und SIND

Jakob Haringer (1898 – 1948)

René Schwachhofer schrieb 1947 in der verdienstvollen Auswahl vergessener, von den Faschisten verfemter Lyriker "Vom Schweigen befreit":

„Haringer hat einige der schönsten deutschen Gedichte geschrieben; sie könnten im Volksmund umgehen. Einst wird man fragen: Wer war ihr Verfasser?“

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Freitag, 25. August 2023

Franz Werfel: Wie nach dem Regen / An Alma

 



Wie nach dem Regen

Ich bin wie nach dem Regen
Der Stadtpark vor dem Haus.
Der Wind hat ausgekeucht,
Doch Bäum' und Beete sind noch feucht
Und wiegen mir und hegen
Die schönsten Tropfen Regentaus. -

Ich bin so ganz voll Feuchtigkeit,
Voll nassem Grün und Regenglück,
Weil ich dich heut' gesehn.
Darum möcht' ich auch nah und weit
Und wohl ein gutes Gartenstück
In mir spazieren gehn.


An Alma

Wir leben schön zusammen,
Weil wir noch immer flammen,
So heut wie in der fernen Nacht.
Was wir aus unsern Tagen
Geschürft, geschlürft, geschlagen,
Macht unsre Seelen schwer von goldner Fracht.

Franz Werfel, aus: Gesammelte Werke, Das lyrische Werk, Herausgegeben von Adolf D. Klarmann, S. Fischer Verlag 1967

Franz Werfel, geboren am September 1890 in Prag, Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker, ging 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich ins Exil, zuerst nach Frankreich, dann in die USA. 1941 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er starb am 26. August 1945 in Beverly Hills, Kalifornien.

Das Foto zeigt Franz und Alma Werfel in New York

Franziska Stoecklin: Nachtlied

 



Nachtlied

Müde sank der Tag
in den Arm der Nacht.
Sterne kommen zag
gnadenreich bewacht.

In den Bäumen ruhn
Vögel stumm und tief.
Sinnlos scheint das Tun.
Nur ein Käuzchen rief.

Mondbestrahlt und weiß
Schläft ein Engelskind.
Rosen duften heiß
in den kühlen Wind.

Laß auch uns erblühn,
innig sein und weit.
Nach des Tages Mühn
fühlen - Ewigkeit.

Franzisca Stoecklin, aus: Die singende Muschel, 1. Auflage 1925

Franziska Stoecklin, Lyrikerin, Erzählerin, Malerin, wurde am 11. 9. 1894 in Basel geboren und starb am 1.9.1931 ebendort.

1920 hatte sie einen ersten Gedichtband veröffentlicht. Es folgten zwei Bände mit lyrischer Prosa und 1925 ein weiterer Gedichtband Die singende Muschel. Die Themen ihrer Lyrik sind Traum, Liebe, Tod und Natur, wobei im ersten Band die Liebeslyrik dominiert, während im zweiten Band das Thema Tod in den Vordergrund tritt.

Das Bild ist von Jakub Schikaneder (1855- 1924)

Mittwoch, 23. August 2023

Clara Müller-Jahnke: Ein Wunsch

 



Ein Wunsch

Ein Häuschen wünscht ich mir, versteckt und klein,
auf dessen Sims sein Lied der Vogel singt,
an dessen reb'umsponnen Fensterkreuz
der letzte Ton der lauten Welt verklingt.

Darin für mich und für die Meinen Raum,
vom Straßenlärm der Städte meilenweit – –
und einen Garten pflanzt’ ich um mein Haus,
darinnen Blatt und Blüt und Frucht gedeiht.

Ein Apfelbaum, der goldne Früchte trägt,
ein Laubgezelt am schwülen Sonnentag,
ein Rosenhag, von dessen Duft berauscht,
ich einsam sinnen, träumen, dichten mag!

Und einen Blick in Gottes schöne Welt,
ins ährenreiche wogende Gefild,
das, sanft geschwellt vom Hauch des Abendwinds,
vom goldnen Erntesegen überquillt.

Und so viel von dem Gute dieser Welt
gib mir, o Herr, dass ich dem armen Mann,
der an die Pforte meines Hauses klopft,
ein Stückchen Brot als Imbiss bieten kann!

Clara Müller-Jahnke, geboren am 5. Februar 1860 in Lenzen, Kreis Belgard als Clara Müller; gestorben am 4. November 1905 in Wilhelmshagen bei Berlin, war Dichterin, Journalistin und Frauenrechtlerin. Sie galt in ihrer Zeit als führende sozialistische Dichterin und machte insbesondere mit ihren agitatorischen Arbeitergedichten auf die Lage der Arbeiter und der Frauen aufmerksam. Doch sie hatte auch eine andere poetische Seite.

Das Bild ist von Csontváry Kosztka Tivadar (1853 - 1919)

Dienstag, 22. August 2023

Walter Serner: Das Lockerlied / Das Magenlied / Das Meisterlied / Das Marschlied

 


Das Lockerlied

Einst als ich im Jugendzwinger
manches faules Rätsel biß,
hatt ich vom Tyrannenfinger
einen ganz gewaltigen Schiß.

Jetzt da ich im Evening-Dresse
nur noch allerlockerst sprühe,
ist mir keine Miez zu kesse,
keine Tour macht mir noch Mühe.

Fest im Kopfe die Parole:
„Mia kann keener, nee, mia nich!“
fällt die Geste nach der Sohle:
„Alle könn mia inniglich!“

(die Reim- und Jambenform dient lediglich mnemotechnischen und suggesto-therapeutischen Absichten)


Das Magenlied

Ein scharfer Kerl vermag zu wagen;
ein Wort, zu fallen und zu stehn.
Doch sorge stets für vollen Magen,
willst du zu einer Dame gehn.


Das Meisterlied

Stets ist mein Auge unergründlich.
Um eine Lippen geht es leer.
Und meine harte Hand wird stündlich
zur Folter bald und bald Begehr.

Ich liebe es, das Gold zu locken;
das Tier zu wecken, bis es schreit;
in einer Bar allein zu hocken,
ein Witz auf alle Ewigkeit.

Ich habe nirgends eine Stätte.
Manch stieres Auge mich umwacht.
Tagtäglich ich mich selber wette
und mich gewinne - jede Nacht.

Den Zornpokal des Glücks zu leeren,
ist mein Beruf und meine Lust.
Ich werde mich des Todes wehren,
säß mir schon Ekel in der Brust.


Das Marschlied

Als sehr verwegner Tausend-Rasta
sei nicht zu wild und nicht zu wüst.
Es kommt für jeden mal das Basta.
Drum achte drauf, dass man dich grüßt.

Walter Serner, aus: Letzte Lockerung - Ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen; Paul Stegmann Verlag, Berlin 1927

Walter Serner, Schriftsteller und Dadaist, geboren am 15. 1. 1889 in Karlsbad. Am 10. August 1942 – Serner arbeitete inzwischen als Sprachenlehrer im Prager Ghetto – wurde er zuerst mit dem Transport Ba nach Theresienstadt, am 20. August 1942 mit dem Transport Bb nach Riga deportiert und dort – wahrscheinlich am 23. August 1942 – im Wald von Biķernieki zusammen mit seiner Frau Dorotea und allen anderen 998 Menschen dieses Transports ermordet.

Das Foto zeigt Walter Serner 1920


Link: Internationale Walter Serner Gesellschaft e. V.

Montag, 21. August 2023

Alexander Bessmertny: Die alten Schwestern / Sprüche an die Meister / Am Ende

 



Die alten Schwestern

Einst waren Männer jung, die sie umwarben
Und sie beim Walzer hoben aus der Schwere
Der wachen Träume, die die Nacht verdarben.
Jetzt gehn sie einsam abends bis zur Fähre
In ihren Mänteln mit den stumpfen Farben
Und stützen schweigend sich auf die Barriere.
Sie wissen fröstelnd, daß sie lang schon starben
Und ihre Schatten gleiten fort zum Meere.

Alexander Bessmertny, aus: Die Aktion Nr. 27, 1913, Lyrische Anthologie


Sprüche an die Meister

Stefan George, Deuter meiner Blöße,
Der Gipfel wies und talwärts mich verstieß.
Ich steige schwer, geworfen durch die Stöße
Des Sturmes, den dein Geisterodem bließ.

Rainer Maria Rilke. Einst werd ich auch gleichen
Dem reifen Gott im seligen Gedicht.
Du bist mir meines Auszugs Feuerzeichen
Und meiner Tage kündendes Gesicht.

Aus: Die Aktion, Lyrische Anthologie 1913


Am Ende

Mit mir schritt das Pferd,
Mädel trug das Pferd.
Lied floss aus der Flöte
Und die Sonnenröte
Sprang auf meinen Herd.

Krücke ward mein Schwert,
„Dirne“ heißt das Pferd,
Zum Gequäk der Flöte
Paart sich Frosch und Kröte
Auf dem kalten Herd.

Aus: Die Aktion, 9. April 1913

Alexander Bessmertny, geboren am 20. März 1888 in St. Petersburg; Nach dem Ersten Weltkrieg lebte er als freiberuflicher Schriftsteller in Berlin. 1933 musste er als Jude emigrieren. Er zog nach Frankreich, später nach Prag, wo er 1939 denunziert und von der Gestapo verhaftet wurde. Am 22. August 1943 wurde er in Berlin-Moabit hingerichtet.

Das Bild ist von Léon Spillaert (1881 - 1946)

Sonntag, 20. August 2023

Leo Greiner: Im Traumhaus

 



Im Traumhaus

Wir sind des Traumes Gäste,
wir feiern stille Feste
in seinem goldnen Haus:
Die Tische stehn voll Früchte,
die Wände stehn im Lichte,
die Fenster im Gebraus.

Willst du die Früchte essen,
die du so nah besessen,
zerfallen sie zu Staub.
Die hellen Wände weichen,
und alle Lichter bleichen
und blättern ab wie Laub.

Der blaue Mond verwittert,
der Wein ist dir verbittert,
das Gold des Bechers blind.
Und du begehrst, wir fänden
den Schlaf, in dessen Händen
die ewigen Träumer sind.

Am 21. August 1928 starb der österreichische Lyriker und Übersetzer Leo Greiner in Berlin. Er wurde am 1. April 1876 in Brünn geboren. Bekannt wurde er unter anderem durch seine Werke über den Dichter Nikolaus Lenau.

Das Bild ist von Félix Valloton (1865 - 1925)

Samstag, 19. August 2023

Emmy Hennings: Sie feierten ein Fest. . .

 



Sie feierten ein Fest und niemand wusste es.
Es war vorüber, als sie es empfanden.
Sie trauerten um einen Schmerz, den sie nicht kannten
Und bluteten an einer unbewussten Wunde.
Sie trugen Masken, die sie selbst nicht sahen
Und waren so einander tief verborgen.
Was sich im Traum gelöst, versiegelte der Morgen.
Und ein Vergessen stand auf ihrem Munde.
So blieb ihr Dasein stummes Rätselspiel.
Und ihre Sehnsucht ward zu einer Sage.
Verschlungen blühten sie hoch überm Tage
In einem, ihnen selbst, geheimen Bunde.

Emmy Hennings, aus: Emmy Ball-Hennings: Hugo Ball - Sein Leben in Briefen und Gedichten; Mit einem Vorwort von Hermann Hesse; S. Fischer Verlag Berlin 1930

Emmy Hennings, geboren am 17. Januar 1885 in Flensburg; gestorben am 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano, unter anderem Mitbegründerin des legendären Cabaret Voltaire 1916 in Zürich.

Das Bild ist von Josef Eberz (1880 - 1942)

Freitag, 18. August 2023

Friedo Lampe: Sind wir denn nicht alle verwandt?

 



Sind wir denn nicht alle verwandt?
Sind wir denn nicht alle bekannt?
Ach, nun tu dich doch nicht so,
ach, nun sei doch endlich froh.

Aus dem Tanzen, aus dem Meer
kommen ja die Bilder her,
fließen, strömen ohne Zahl,
folge mir ins Bachanal!

Überall sind wir zu Haus,
Erde, deine Macht ist aus,
fliegen blitzschnell hin und her,
Erde macht uns nicht mehr schwer.
Alles ist uns nun bekannt,
Näh' und Ferne, Meer und Land,
Wände fallen, Schranken schwinden,
Welten wollen sich verbinden!

Aber nun macht euch bereit,
überwindet auch die Zeit!
Alles sei auf einmal da.
Nun erblickt nach Götter Art
eine große Gegenwart!

Bilder, Bilder, Leben, Träume,
das verfliegt wie leichte Schäume.
Leben ist ja nur ein Traum,
was einst schwer war, fühlst du kaum,
und am End' bleibt nur zurück
Weltmusik und Schauens Glück.

Erde, wirst mir viel zu klein,
sieh, es muß geschieden sein,
aufwärts nun mit meinem Ball
steige ich ins große All.
Räume weichen, Schranken schwinden,
Welten wollen sich verbinden!

Aufwärts nun mit meinem Ball
steige ich ins große All!

Friedo Lampe (4. 12. 1899 - 2. 5. 1945), Chor aus der Erzählung „Laterna Magica“, aus dem Nachlass, veröffentlicht im Anhang zu dem Roman „Ratten und Schwäne“, Rowohlt Verlag, Hamburg 1949

Das Bild „Ballonfahrt“ ist von Paul Klee (1879 - 1940)

Donnerstag, 17. August 2023

Johannes Theodor Baargeld: Es war einmal ein rares Kind. . . / O dieser Stunde

 



Es war einmal ein rares Kind,
Das war, wie solche Vöglein sind:
Sie wachsen und gedeihen
Und füttern ihre Eigenart
Vom alten Jahr zum neuen.

Es irrt der Mensch, solang er lebt,
Und Manches seltsam an ihm klebt,
Zumal wenn er nach Geistigem strebt;
Doch peinlich ist es immer,
Besteht sein ganzer Geistesschwanz
Aus allerfaulstem Flimmer.

Gib Mensch, solang Du geben kannst,
Bedenk zuletzt den eignen Wanst!
Wie schön wär's unter Christen,
Lenkt nicht solch Vöglein eigner Art
Ins saubre Christennest die Fahrt:
Die Frucht aus seinem Nisten
darf dann der Christe misten.

Drum Mensch, siehst Du solch Vöglein ziehn
Dank Gott, wenn Winde er verliehn,
Die in die Täler streichen:
Denn zieht das Tierchen bei Dir ein,
So ist's zum Herzerweichen.

Johannes Theodor Baargeld, zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht. Zuerst publiziert 1985 in: Walter Vitt (Hrsg.), Bagage de Baargeld, Starnberg. Es gehört zu den vier sogenannten ›Engadiner Gedichten‹, die sich im Hüttenbuch der ›Carl von Salis-Hütte‹ im Oberengadin finden ließen. Baargeld, der sich als Bergsteiger Jesaias nannte, unternahm in den zwanziger Jahren von hier aus zahlreiche Bergtouren und trug sich insgesamt viermal mit einem Gedicht ins Hüttenbuch ein. ›Es war einmal ein rares Kind‹ entstand während eines Aufenthaltes dort vom 24.8. bis 9.9.1922 und ist mit ›Jesaias‹ unterzeichnet.


O dieser Stunde

Jetzt sind durch Stadt
Lange Wege von Suchenden.
Häuser rauschen heran
Unbestimmter Erregtheit.
Pferd wartet um sich dunkle Höfe
Und ein Lied aus Kanal oder Lichtschacht.
Über asphaltenen Zeilen
Kreuzen sich Suchaugen
Ungenau.
Aufschwelen Brauen
In denen Tag nachzittert
Und etwas wie
Erwartung steht auf –

O dieser Stunde –
Wo ist
Der sich wühlt unter die kündende Liebe
Eures Tagverhaltenseins,
Brüder Gelegenheitsmenschen?
Ich balle meine Tausendbedürftigkeit vor euch
Fragend bittend Euch Tiefhändigen bald.
Ich tanze den durstigen Narr in den Trug unserer
Schläfe aus zweiter Hand,
Ich bettle mich durch
Zu uns.

Aus: Die Aktion, Berlin. 1.6.1918, 8. Jahrgang, Heft 21/22. Autorenangabe: Alfred Gruenwald.

Johannes Theodor Baargeld 1920, der Künstlername von Alfred Ferdinand Gruenwald, Grafiker, Maler, Dadaist, Dichter und leidenschaftlicher Bergsteiger, geboren am 9. 10. 1892 in Stettin; verunglückte tödlich am 18. 8. 1927 am Mont Blanc.

Mittwoch, 16. August 2023

Friedrich Christoph Heinle: Tausend lächelnde Gebärden

 



TAUSEND lächelnde Gebärden.
Und ein Spiegel ist mein Herz,
Näher muss die Ferne werden
Und ein Schimmer schöner Erden,
Linder Regen jeder Schmerz.
So vollenden sich die Tage:
Lang vergaß ich jede Klage.
Und die Taten sind ein Scherz,
Denn die Stunde darf nicht währen,
Nimmer wir zurückbegehren,
Also spielt ein großes Herz.

Friedrich Christoph Heinle, aus dem Nachlass von Ludwig Strauss, Drei frühe Gedichte

Arieh Ludwig Strauss, geboren am 28. Oktober 1892 in Aachen; gestorben am 11. August 1953 in Jerusalem, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler

Friedrich Christoph Heinle, geboren am 1. März 1894 in Mayen, gestorben am 8. August 1914 in Berlin, aus dem Nachlass von Walter Benjamin

Walter Benjamin verwahrte Heinles Nachlass und bemühte sich nach dem Tod des Freundes viele Jahre lang vergeblich um eine Veröffentlichung. 

Das Bild ist von William Degouve de Nuncques (1867 - 1935)

Carl Maria Weber: Vor spätem Schlafengehen

 



Vor spätem Schlafengehen

Du löscht ein Licht am Rand der wachen Stirn,
Die, leicht gekräuselt, ahnt den weiten Teich
Süßesten Schlafs. Und stehst nun, fröstelnd, bleich,
Im großen Fensterrahmen ferneren Lichts.
Noch kühlt die Dämmerung. Ein graues Nichts
Hängt mantelgleich sich dir um Aug´ und Hirn.

Da klirrt es silbern auf von allen Dächern:
Gesang der Drossel steigt und reckt sein Haupt.
Ein neuer Tag naht sommerüberlaubt!
Will grausames Gestirn zum First erheben -
Du wirst jetzt deinen Leib den Linnen geben,
Nahenden Traums porphyrenen Gemächern.

Du hast ja deiner Stunden Sturm geschlichtet,
Die Augen kochen dir: nun willst du ruhn.
Doch weißt du auch, wie viel Geschöpfe tun
Bald ihr Geschick in dieses Tages Brand?
Wie an erblassten Horizontes Wand
Unzähliger rote Qual und Tod sich schichtet?

Will dich das Los der Dienenden nicht rühren?
Der Blick, darin sich sanftes Tier verhüllt
Vor dem entmenschten Jäger, wenn erfüllt
Sein kleines Dasein, an das Licht gebaut?
Hofft nicht von diesem Morgen schweißbetaut
Erlösung wer von grässlichen Geschwüren?

Der du dies tragen magst und hältst noch Freuden,
Die dir ein Kind bringt auf gewiegtem Schritt:
Komm in den Wahnsinn der Arena mit,
Die tobend uns umkrampft mit Blut und Wunden!
Sind dir Gefährten nicht dahingeschwunden,
Die dich geliebt in güldenem Vergeuden?!

Doch du bist müde und du möchtest schlafen. . .
O du Verwegener mit dem leichten Sinn!
An offner Grüfte Rand taumelst du hin,
Vermessne Eitelkeit im Busen tragend!
Auf anderm Stern, aus deinen Nächten ragend,
Löst sich dein Traum. Dann suche keinen Hafen!

Carl Maria Weber, aus: Erwachen und Bestimmung, Eine Station, Gedichte, Kurt Wolff Verlag, Bücherei der jüngste Tag, Band 66, Leipzig 1916, auch in Die weißen Blätter, Oktober 1918

Carl Maria Weber, geboren am 6. September 1890 in Düsseldorf; gestorben am 15. August 1953 in Prien am Chiemsee, Pädagoge und Schriftsteller.

Während seines Studiums an der Universität Bonn von 1912 bis 1914 knüpfte er bereits Kontakte zu Thomas Mann und Kurt Hiller. Im Laufe des Ersten Weltkrieges entwickelte er sich zum Pazifisten. 1919 war er Mitglied der Wandervogelbewegung. Er veröffentlichte seine Texte in zahlreichen expressionistischen Zeitschriften.

Das Foto zeigt ihn um 1925

Montag, 14. August 2023

Sophie Hochstetter: An Toni Schwabe

 



An Toni Schwabe

Nie ging ein Dichter unbeirrter seine Straße –
Nie war Erlesnes stiller, unvergeßlicher gegeben.
Wie ein sehr kostbares Gefäß in edlem Maße
Ist deine Kunst, Symbolum deinem Leben.

Und in der strengen Formen schönste Vase
Füllst du des Weinlaubs rauschdurchglühte Reben.
In einen Kelch vom Venetianerglase
Stellst du „Camille de Rohans“ rosenschweres Beben.

Die Sünde machst du rein – wie aus Gewitterstöhnen
Uns klingen mag das Jubelwort: Genesen!
Einsamer Seelen Schmerz lässt du ertönen
Zu einem Schwanenlied sehr seltner Wesen –
Und deine Erdenliebe hat von allem Schönen
Das Vornehmste sich nur zum Eigentum erlesen.

Sophie Hochstetter, aus: Vielleicht auch Träumen, Verse, München und Leipzig 1906

Sophie Hoechstetter, geboren am 15. August 1873 in Pappenheim, gestorben am 4. April 1943 in der Moosschwaige bei Dachau war Schriftstellerin, Dichterin und Malerin.

Toni Schwabe, Schriftstellerin, Verlegerin, Erzählerin, Lyrikerin, geboren am 31. März 1877 in Bad Blankenburg, gestorben am 17. Oktober 1951 ebendort.

Die beiden Schriftstellerinnen führten von 1902 bis 1905 eine Lebensgemeinschaft. Die Fotos zeigen links Toni Schwabe um 1906, rechts Sophie Hoechstetter um 1902.

Sonntag, 13. August 2023

Klabund, aus: Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern!

 



Prolog

Ich sitze hier am Schreibtisch
Und schreibe hier Gedichte,
Indem ich in die Tinte wisch
Und mein Gebet verrichte.

So gibt sich spiegelnd Vers an Vers
In ölgemalter Glätte,
Nur selten fragt man sich: Wie wär´s,
Wenn es mehr Seele hätte?

Die Seele tut mir garnich weh.
Sie ist ganz unbeteiligt.
Nackt liegt sie auf dem Kanapee
Und durch sich selbst geheiligt.

Des Abends geh ich mit ihr aus,
Im Knopfloch eine Dahlie.
Ich selber heiße Stanislaus,
Sie aber heißt Amalie.


Müde schleich ich

Müde schleich ich durch die Morgenstille,
Und es bebt in mir ein fremder Wille.

Wie die Glocken fernes Ave läuten,
Scheint es mir Verachtung zu bedeuten

Meine Lippen, die noch dunkel bluten
Von des Weibes ungehemmten Gluten,

Hass, dass ich die Tage frei verprasse,
Und ein Armer nicht in Zucht sie lasse.

 -  Nimmer neid ich euch die Kirchenenge
Und den Küster. Zerren wir die Stränge,

Soll ins Land der Klöppel donnernd hämmern:
Morgenrot! Klabund! die Tage dämmern!


Ich kam

Ich kam.
Ich gehe.
Ob je mich eine Mutter auf die Arme nahm?
Ob je ich meinen Vater sehe?

Nur viele Mädchen sind bei mir.
Sie lieben meine großen Augen,
Die wohl zum Wunder taugen.
Bin ich ein Mensch? Ein Wald? Ein Tier?


Man soll in keiner Stadt

Man soll in keiner Stadt länger bleiben als ein halbes Jahr.
Wenn man weiß, wie sie wurde und war,
Wenn man die Männer hat weinen sehen
Und die Frauen lachen,
Soll man von dannen gehen,
Neue Städte zu bewachen.

Lässt man Freunde und Geliebte zurück,
Wandert die Stadt mit einem als ein ewiges Glück.
Meine Lippen singen zuweilen
Lieder, die ich in ihr gelernt,
Meine Sohlen eilen
Unter einem Himmel,
Der auch sie besternt.


Epitaph als Epilog

(für Bry)

Hier ruhen siebenundzwanzig Jungfrauen aus Stralsund,
Denen ward durch einen Interpreten des Dichters neueste Dichtung kund.
Die hat die empfindsamen Mädchenherzen so sehr begeistert,
Dass auch nicht eine mehr ihr Gefühl gemeistert.
Man hängte sich teils auf, teils ging man in die See.
Nur eine ging zum Dichter selbst. (Und zwar aufs Kanapee.)

Aus: Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern!, Gedichte von Klabund, Erich Reiß Verlag, Berlin 1913

Klabund, das ist Alfred Henschke, geboren am 4. November 1890 in Crossen an der Oder, gestorben am 14. August 1928 in Davos.

Alfred Henschke wählte das Pseudonym Klabund im Jahr 1912 und wird vom Autor unter anderem als Zusammensetzung aus den beiden Wörtern Klabautermann und Vagabund erklärt.

Ein erster Band mit Gedichten erschien 1913 in Berlin unter dem Titel Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern! 1913 kam der Kontakt zu Alfred Kerrs Zeitschrift PAN zustande; ebenso veröffentlichte er in der Jugend und im Simplicissimus. Von 1914 an war er Mitarbeiter der Zeitschrift Die Schaubühne, die später in Die Weltbühne umbenannt wurde. Den Ersten Weltkrieg begrüßte er anfangs begeistert, wie andere Schriftsteller auch, und verfasste eine Reihe patriotischer Soldatenlieder. Zum Militär wurde Klabund nicht eingezogen, da mittlerweile diagnostiziert worden war, dass beide Lungenflügel von Tuberkulose befallen waren. Die Jahre bis zu seinem Tod hielt er sich häufig in Schweizer Lungensanatorien auf.

Im Laufe des Krieges wandelte sich Klabund zum Kriegsgegner. Beeinflusst wurde er in dieser Wandlung durch Brunhilde Heberle, seine zukünftige Frau, die er im Lungensanatorium kennengelernt hatte. Er nannte sie mit ihrem zweiten Vornamen Irene, was „die Friedliche“ bedeutet. !918 heiratete er sie, doch sie starb noch im selben Jahr.

Im Tessin schloss er sich einem Kreis pazifistischer deutscher Emigranten an, die eng mit dem Monte Verità von Ascona verbunden waren. In der „Villa Neugeboren“ in Monti sopra Locarno, die er mit seiner Geliebten bezog, wohnten oder verkehrten um dieselbe Zeit Ernst Bloch, Hermann Hesse, Emmy Hennings, Else Lasker-Schüler und der Naturprophet Gusto Gräser. 1917 veröffentlichte die Neue Zürcher Zeitung Klabunds offenen Brief an Wilhelm II, mit der Aufforderung zur Abdankung. Gegen Klabund wurde daraufhin ein Verfahren wegen Vaterlandsverrats und Majestätsbeleidigung eingeleitet. In der Schweiz gehörte er zum Kreis um René Schickele, für dessen pazifistische Weiße Blätter er auch schrieb.

Bei einer Theateraufführung am Juli 1924 in den Münchener Kammerspielen lernte er Carola Neher kennen. Mai 1925 heirateten beide und führten eine turbulente Ehe,

1925 wurde Klabunds Drama Der Kreidekreis in Meißen uraufgeführt. In den folgenden Jahren schrieb Klabund regelmäßig für Kabaretts wie zum Beispiel Schall und Rauch. Seine volkstümlichen, an den Bänkelsang angelehnten Gedichte und Lieder erreichten in diesen Jahren ihre größte Popularität.

Im Mai 1928 erkrankte er bei einem Italienaufenthalt an einer Lungenentzündung, die zusammen mit seiner nie ausgeheilten Tuberkulose lebensbedrohlich wurde. (Wiki)

Samstag, 12. August 2023

René Schickele: Auf der Landstraße

 



Auf der Landstraße

„Es winkt ein großer grüner Stern,
neigend huldigen die andern:
Mein Herz, du hast das Schicksal gern,
mein stolzes Herz, sollst wandern.“

Die Teiche nahmen alle Himmelsbrände
in ihre blauen Schalenhände,
ein Vogel schlug in einem Baum -
Da - hatte ich am Herzen der Erde einen Abgrundtraum!
Ich sah der Sehnsucht taumelndes Gesicht - - -
Ich stand - in mich sank feierliches Licht
und überwuchs sich, atmend, Schicht um Schicht. . .
Ich stand und blühte:
                                  Nacht:
                                             Nacht und Gedicht. . .

René Schickele, aus: Mon Repos, Verlag von Hermann Seemann Nachfolger GmbH, Berlin und Leipzig, 1905

René Schickele (* 4. August 1883 in Oberehnheim im Elsass; † 31. Januar 1940 in Vence, Alpes-Maritimes) war ein deutsch-französischer Schriftsteller, Essayist, Übersetzer und Pazifist. Gegen den preußisch-deutschen Militarismus warb Schickele für Völkerverständigung und Sozialismus als Herausgeber der Weißen Blätter. Das nötigte ihn 1915 zur Flucht ins Schweizer Exil.

Die Illustration ist von Ernst Rudolf Weiß (1875 - 1942), Maler, Grafiker und Typograph.

Freitag, 11. August 2023

Georg Trakl: An Mauern hin

 



An Mauern hin


Es geht ein alter Weg entlang
An wilden Gärten und einsamen Mauern.
Tausendjährige Eiben schauern
Im steigenden fallenden Windgesang.

Die Falter tanzen, als stürben sie bald,
Mein Blick trinkt weinend die Schatten und Lichter.
Ferne schweben Frauengesichter
Geisterhaft ins Blau gemalt.

Ein Lächeln zittert im Sonnenschein,
Indes ich langsam weiterschreite;
Unendliche Liebe gibt das Geleite.
Leise ergrünt das harte Gestein.

Georg Trakl, geboren am 3. Februar 1887 in Salzburg geboren, gestorben am 3. November 1914 starb. Trakl wurde als Militärapotheker einberufen und begab sich angesichts der Gräuel, welcher er an der Front teilhaftig wurde, in den Freitod.

Das Bild ist von Gustav Klimt (1862 - 1918)

Donnerstag, 10. August 2023

Ilse Blumenthal-Weiss: Liebesstrophen / Für Peter David Blumenthal

 



Liebesstrophen

Wir haben uns lieb. Und der Himmel ist blau.
Wir haben uns lieb. Und die Nacht ist lau.
Wir haben uns lieb. Mann und Frau.

Die harte Erde ist warm und weich.
Und Abschied und Armut machen uns reich.
Und die Sonne vergoldet den Teich.

Wir haben uns lieb. Und der Schnee tut nicht weh.
Schickt alle Tränen nach Haus.
Wir haben uns lieb. Und wir ruhen aus
bei Sternen und Totenklee.

(1944)


Für Peter David Blumenthal


So wandre ich durch tausend Marterzellen
Und pflücke tausend Schmerzen von den Wänden.
Und tausend Träume, die die Nacht umstellen,
Sie stehen auf aus tausend Bilder-Bänden:

In jeder Ecke klingt noch Deine Stimme.
In jedem Lufthauch echot noch Dein Lachen.
Und jeder Lichtstreif, der den Raum erhellt,
Ist wie ein Abglanz Deiner Strahlenaugen.
Tot bist Du? - Tot. - Ich muss es langsam lernen,
Dass man das Licht so ganz zerstören kann.

Ich muss es lernen, wenn sie sagen: Mord
Dass dieses Wort, dass dieses eine Wort
Dich meint, Dich, junges Kinderblut,
Dich: Jubel! Jauchzen! Jugend! Übermut! -
Gott hat genommen. Einst hat Gott gegeben.
Ich muss es lernen, ohne Dich zu leben.

(1945)

Ilse Blumenthal-Weiss, aus: An den Wind geschrieben, Lyrik der Freiheit 1933 - 1945, gesammelt, ausgewählt und eingeleitet von Manfred Schlösser unter Mitarbeit von Hans-Rolf Ropertz; Agora, eine humanistische Schriftenreihe, Darmstadt 1960

Ilse Blumenthal-Weiss (geboren als Ilse Weiß 14. Oktober 1899 in Schöneberg; gestorben 10. August 1987 in Greenwich (Connecticut)) war eine deutschsprachige Lyrikerin.

Sie veröffentlichte Gedichte im Berliner Tageblatt und in der Vossischen Zeitung und schrieb für den Hörfunk. Im Jahr 1921 stand sie im Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke.

1937 floh sie mit der Familie in die Niederlande, wurde ab April 1943 zunächst im Durchgangslager Westerbork gefangengehalten und dann am 6. Dezember 1944 von hier aus nach Theresienstadt deportiert, wo sie die Befreiung erlebte.

Ihr Sohn, der Student Peter David Blumenthal (* 4. April 1921 in Berlin) wurde am 23. Oktober 1941 in Mauthausen, ihr Mann, der Zahnarzt Dr. med. Herbert Blumenthal (* 25. Februar 1886 in Berlin) am 21. Oktober 1944 in Auschwitz ermordet.

Nach dem Krieg lebte Ilse Blumenthal-Weiss erst einmal wieder mit ihrer Tochter in den Niederlanden. 1947 übersiedelten beide nach New York. Dort arbeitete Blumenthal-Weiss 19 Jahre lang als Bibliothekarin am Leo-Baeck-Institut. Sie veröffentlichte in zahlreichen amerikanischen Zeitungen, so z. B. im Aufbau, hielt Vorträge und gab Vorlesungen an Universitäten. Sie versuchte sie, dem unfassbaren Erlebten sprachlichen Ausdruck zu verleihen, und schrieb Gedichte. Zu Paul Celan, Hermann Hesse und Nelly Sachs unterhielt sie freundschaftliche Beziehungen. (Wiki)

Das Leo Baeck Institut (LBI) ist eine unabhängige Forschungs- und Dokumentationseinrichtung für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums mit drei Teilinstituten in Jerusalem, London und New York City mit Zweigstelle in Berlin. Es wurde 1955 von Hannah Arendt, Martin Buber, Siegfried Moses, Gershom Sholem, Ernst Simon und Robert Weltsch gegründet und setzt sich zum Ziel, deutsch-jüdische Geschichte und Kultur wissenschaftlich zu erforschen und ihr Erbe zu bewahren.

Mittwoch, 9. August 2023

Emmy Hennings: Ich lag in einem Schlafe. . .

 



Ich lag in einem Schlafe. . .

Ich lag in einem Schlafe.
Mir träumte wohl bergetief.
Ich sank von Stille zu Stille,
Als eine Stimme mich rief.

Sie war das Lied ohne Worte,
Die liebe lange Nacht,
Führt mich von Pforte zu Pforte
Zu neuem Schlaf erwacht.

Bald schlaf ich wohl noch süßer,
Als ich schon einmal schlief.
Ich sah ein Licht im Dunkeln,
Da jene Stimme mich rief. . .

Emmy Hennings, geboren am 17. Januar 1885 in Flensburg; gestorben am 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano, Dichterin, unter anderem Mitbegründerin des legendären Cabaret Voltaire 1916 in Zürich.

Aus: Emmy Ball-Hennings: Hugo Ball - Sein Leben in Briefen und Gedichten; Mit einem Vorwort von Hermann Hesse; S. Fischer Verlag Berlin 1930

„Niemals hat die Dichterin auf der Sonnenseite gelebt und es leicht gehabt, vielleicht hat sie es auch niemals ernstlich sich gewünscht. Sie lebt lieber unter den Kämpfenden, Armen, Bedrückten, sie liebt die Leidenden, sie fühlt für die Verfolgten und Rechtlosen. Sie bejaht das Leben auch in seiner Härte und Grausamkeit und liebt die Menschen bis in alle Verirrung und Not hinein.“ Hermann Hesse über Emmy Hennings

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 – 1916)

Dienstag, 8. August 2023

Leo Sternberg: Seliges Versäumen

 



Seliges Versäumen

Mich befiel der Ekel an der Tat,
dass man etwas tun muss, um zu gelten -
Arbeit, welche für den Gang der Welten
nicht soviel ist, wie ein windverwehtes Blatt,

Dass man durch die Kraft der Träume,
durch das glühend warme Blut
nicht, indem man ist und ruht,
Leben ausstrahlt in die Räume
wie der Sonne stille Glut.

Wieviel besser sind die Bäume,
welche stumm verweilend stehen
und in seligem Verweilen
schlummernd, sich ins Weltall säen!

Warum zeigen? Warum blenden?
Mit den kunst-voll armen Dingen,
welche nur die Kraft verschwenden,
nimmermehr nach außen wenden
gleich entschlüpften Schmetterlingen
das Verborgene vollenden?

Meer, darin die Inseln liegen,
die uns Kontinente gelten,
atmest - sie vergehen;
atmest - sie entstehen;
brauchst nur dazuliegen:
Gott ist dir entstiegen
und auf deinen Armen wiegen sich die Welten.

Leo Sternberg, aus: Die Aktion Nr. 27, 1913, Lyrische Anthologie

Leo Sternberg, geboren am 7. Oktober 1876 in Limburg an der Lahn, er schrieb Lyrik und schuf eine Reihe von kulturhistorischen Werken. Seine Lyrik erschien unter anderem in den Zeitschriften Die Aktion, Hochland, Der Brenner, Jugend und Der Feuerreiter. Als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie trat er 1906 aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft aus und 1933 der katholischen Kirche bei. Als „Nicht-Arier“ wurde er 1934 vom Dienst als Amtsrichter suspendiert, vorzeitig in den Ruhestand versetzt und hatte fortan Schwierigkeiten, seine Werke zu veröffentlichen. 1937 reiste Sternberg mit seiner Frau nach Jugoslawien, um Recherchen zu einem Romanprojekt über den Kaiser Diokletian anzustellen. Seine Tochter war bereits zuvor nach Jugoslawien ausgewandert. Wenige Tage nach seiner Ankunft im Oktober starb er auf der Insel Hvar in Dalmatien und wurde dort beerdigt. Sein Bruder Hugo Max Sternberg, dessen Frau Lola und die gemeinsame Tochter Lili wurden 1943 in Auschwitz ermordet.

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 – 1916)

Max Herrmann-Neiße: Mond, du silberner Spiegel

 



Mond, du silberner Spiegel,
Darin meine Seele sich spiegelt -
Mond, Du leuchtendes Siegel,
Damit das Schweigen der Nacht versiegelt!

Die zarten Kinder, die Sterne,
Stehen in deinem schattigen Garten,
Und blicken still in die Ferne,
Wie in seligem Schauern und Warten.

Wie wenn sie in Bangen warten
Auf die Seele eines verstorbenen Poeten,
Stehen sie zitternd in deinem Garten
Zwischen den duftenden Wolkenbeeten....

Aber mit deiner Strahlen Riegel
Hast du das Tor verriegelt:
Mond - Du silberner Spiegel,
Darin meine Seele sich spiegelt!

Max Herrmann-Neiße, aus: Das Buch Franziskus, Verlag A. R. Meyer, Berlin-Wilmersdorf, Juni 1911

Max Herrmann-Neiße, geboren am 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; gestorben am 8. April 1941 in London, Deutscher Dichter, von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, in dem er 1941, wurzellos, starb.

Das Bild ist von Koho Shoda (1871 - 1946)

Montag, 7. August 2023

Joachim Ringelnatz: Abend am Strand


 
Abend am Strand

Abendglühgold zittert auf träumender See.
Eine Möwe zieht ihre einsamen Kreise.
Auf dem Wasser treibend, ein Boot. Und leise, leise
Bringt mir der Wind eine müde Weise. – –
Närrisches Herz, was stimmt dich so weh?

Joachim Ringelnatz (7. 8. 1883 – 17. 11. 1934)

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Samstag, 5. August 2023

Isidor Quartner: Fülle

 



Fülle

Braun von Sonne
Füllt reifer Weizen meine hohle Hand.

Da mein Mund nun spricht,
Schaut alle Gottheit unter Bäumen
Und lächelt über das Leben.

Gottheit, die Hände beugend im Schoße:
Das ist die Fülle.
Aber die Menschen sind Speicher.

Du Kind mit der kleinen Garbe im Arme:
Wenn die Gottheit schaut,
Werden schwer die Ähren,
Des irdischen Blicke sind Schnitter und Erntewagen.

Du Kind mit der kleinen Garbe im Arme:
Krüge süßen Methes voll
Sind die dunklen Wolken
Hinter den goldenen Feldern.

Oh du Kind mit der kleinen Garbe im Arme!
Deine Augen sind groß:
Es blüht in ihnen ein lichtes Land mit silbernen Strömen,
An denen du ganz einsam sitzest und spielst.

Des Nachts,
Wenn die Sterne, Singende, wandeln die weiße Straße:
Manch einer stürzt da im rauschenden Korn
Und wird auf der Erde geboren.

Dann sitzest du, Kind, mit der kleinen Garbe im Arme,
In deinem nachtblauen Lande an silbernen Strömen
Und lächelst über das Leben.

Isidor Quartner, geboren 1891, „gefallen“ September 1915, aus: Der Sturm, Jahrgang 7, Nr 3, 15 Juni 1916

Das Bild ist von Vincent van Gogh (1853 - 1890)

Freitag, 4. August 2023

Frida Bettingen: Verstummen / Ich möcht so gern

 



Verstummen

Ach, wer kennt
die leidvollen Liebesströme,
die von feinen Händen betreut, verstummen,
weil sie rein und schön
ihr gewaltges Leben
hinopfern wollen.

Sieh, sie sinken trauernd zurück, und schlafen,
wie die Wasser moosüberwachsner Bronnen
in den Höfen einsamer Königsschlösser.
- - - - - - -

Niemand wird schöpfen.


Ich möchte so gern

Ich möchte so gern
mein Gesicht in Deine Hand legen,
ein kleiner Flaumvogel sein
im schützenden Nestwall,

und dann wag ich es nicht.

Ich möchte so gern
Deine süßen Augen küssen,
daß sie schliefen einen Augenblick bei mir,

und dann wag ich es nicht.

Ich möchte so gern
Deinen Herzschlag hören.
Dein Herz hat so viel stolze Wände.

Ob es wohl Holdes von mir spricht? -
Alles möchte ich!
Alles!

Aber es wird nur ein zages, kleines Gedicht.

aus: Frida Bettingen Gedichte, Bei Georg Müller München 1922

Frida Bettingen (* 5. August 1865 in Ronneburg; † 1. Mai 1924 in Jena; geborene Frida Reuter), Schriftstellerin, expressionistische Lyrikerin.

Die Familie lebte 24 Jahre bis zum Tod von Franz Bettingen in Krefeld, danach zog sie nach Jena. Dort studierte Bettingens Sohn Philologie. Er starb 1914 im Ersten Weltkrieg, was bei Frida Bettingen zu schwerwiegenden psychischen Problemen führte. Ab 1917 hielt sie sich mehrmals in Sanatorien auf. 1923 wurde sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Zwischen diesen Aufenthalten war es ihr jedoch möglich, ein weitgehend normales Leben zu führen. Sie schrieb Gedichte, wobei die Inspiration dazu hauptsächlich aus ihrer Trauer und Verzweiflung als Mutter entsprang. Erst mit diesem Spätwerk nahm sie, gefördert von Wilhelm Schäfer, an der expressionistischen Bewegung teil.

Das Bild ist von Ferdinand Knab (1834 - 1902)

Donnerstag, 3. August 2023

Verse aus dem Schützengraben, von Max Pulver, Ludwig Bäumer, Egon Schiele, Theodor Rudy, Paul Kraft, Rudolf Fuchs

 


Verse aus dem Schützengraben  

Die Zeitschrift Die Aktion wurde Februar 1911 von Franz Pfempfert gegründet. Bereits 1914, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wurde die Zeitschrift erstmals beschlagnahmt. Mit Ausbruch des Krieges im August 1914 verschärfte sich die Situation noch, da jetzt eine schärfere Zensur galt. Franz Pfemfert, als Linker und Pazifist, beschloss deshalb, ab sofort nur noch literarische Texte zu veröffentlichen, um so ein vollständiges Verbot des Heftes zu vermeiden. Erstaunlicherweise gelang dies, und das obwohl Pfempfert in Rubriken wie „Ich schneide die Zeit aus“ hetzerische Artikel aus anderen Zeitungen geschickt montierte, und in einer Briefkastenrubrik Künstler und Intellektuelle, die den Krieg unterstützten, scharf angriff. Auch die literarischen Veröffentlichungen setzte er geschickt im Sinne des Antimilitarismus ein, indem er zum Beispiel regelmäßig Gedichte von der Front veröffentlichte, unter der Rubrik „Verse aus dem Schützengraben“

Das Bild ist von Hans Baluschek (1870 - 1935), aus dem Zyklus „Krieg“ von 1917


Verse

Im zarten Grau verflochtner Ulmenzweige
Verliert mein Blick sich zwischen fernen Giebeln
Biegsamer Äste, deren sanfte Berge
Der Rundung gleicht an fremden Tempelzwiebeln.
Dort hinter Zweiggeflecht und Blattgeäder
Fühlt sich mein banger Blick mit eins geborgen;
Dann stockt der wirre Gang der Feuerräder
In meinem Herzen, es wird still und Morgen.
Und alles Drängen ist dann wie geschlichtet,
Auf einen Kern ist alles Sein gerichtet
Und aller Wille strebt durch eine Kraft.
Wie eine Leier hell und rein gestimmt
Schwebt dann mein Selbst, bis es im All verschwimmt.

Max Pulver, aus: Die Aktion 1915


Lied der Dichter

Wird ein Sommer sein, an Kreuzen aufgerichtet,
Eselinnen über Purpur schreiten.
Angst des Weltalls wird zum Schwamm verdichtet,
Unsre stillen Lippen suchtumgleiten.
Und es werden immer nur die Kinder ernten,
Uns in ihre unermeßnen Hände liefern,
Daß wir ihre wundervollen nachtbesternten,
Süchte einer ungeahnten und als Himmel tiefern
Landschaft in die aufgetanen Munde reichen.

Wird einmal ein Frühling ohnegleichen
Wie ein Mord am Winter durch die Straßen ziehn,
Über unsre matten Augenhöhlen streichen,
Und sie müssen wieder wie im Anfang glühn.

Ludwig Bäumer, aus: Die Aktion 1916


Abendland

Ich habe Schaukelfelder durch winzige Zacken
zerschneiden gesehen
von tausenden verlierenden Punkten auf Gelb,
Spiegelteiche und weiche Wolken.
Neigend bogen sich die Berge und hüllten Lüfte
aus Schleiern ein.

Ich roch die Sonne.
Jetzt war der blaue Abend da,
sang und zeigte mir erst die Felder.
Einen blauen Berg umfloss noch roter Schein.
Ich war von all dem Vielduftigen umträumt.

Egon Schiele, aus: Die Aktion 1916


Vorfrühling

Dreimal hab das Zelt ich wohl zurückgeschlagen
Und hinausgelauscht in die Dämmerung.
Öde lag das Land mit seiner Hügel Schwung.
Und der Morgen blasste müd herauf, ein mürrisch Fragen. -
Im zerschossenen Walde pfeift ein Vögelein
Und mir ist, ein Ruch der Wiesen streife
Meinen Atem - - da in laue Luft ich greife.
Und die Sonne kommt in fremdem rotem Schein.

Theodor Rudy (Lebensdaten nicht bekannt), aus: Die Aktion 1917


Vor der Fahrt in die Heimat

Der Tag liegt vor mir, wo mein altes Leben aufersteht,
Ich fühle heute nichts als Glühn auf dem Gesicht.
Nichts als Verwirrung, die nach innen geht
Und bleiern hinschlägt über Lenz und Licht.

Der Tag liegt vor dir. Nun bist du bereit
Zu bohrenderem Aug in Herz und Hirn hinein,
Zu spähn und spannen in die nun versunkene Zeit
Und des gelebten Jahres Wind und Wein?

Bist du bereit? Was sagt der Prüfungsaugenblick?
Schwangst du dein Wollen vor? Glitt es zurück?
Bist du bereit? Und sagst, was dich befällt,
Da brausend dich erschlägt die vorige Welt?

Da jeder Ort, den deine Strophen singen,
Und jeder Tag, den du unendlich lebtest,
Da alle Liebes-Blicke, die du bebtest,
Vergoldeter in dir nun wiederklingen?

Sangst du dein letztes Lied? Die Seel´ verneint.
Da sie noch nicht die letzte Liebe weinte,
War auch das Lied, das Trän´ und Liebe einte,
Das letzte goldene nicht, daraus sie scheint.

Jedoch die Götter sind mir mild. Du fühlst
Sie auch den wirrsten Stunden angegliedert,
Und was dein Lied, dein seliges Lied erwidert,
Wenn du in seinen tausend Klängen wählst.

Jedoch die Götter sind mir mild, und wer dich hört,
Den darfst du auf ein anderes Lied vertrösten,
Auf jenes Lied des ganz und gar Erlösten,
Durch dessen Überschwang Gott selber fährt,

Durch dessen Donner die Ersehnte bricht,
Die über jeden deiner Blicke fällt -
Die glänzt aus jeden goldenen Waldes Licht
Und stellt dein Lied für ewig in die Welt.

Dies Lied, ein tönendes Unendliches,
Drin jedes Wort von deren Namen tönt,
Die mich mit der Unsterblichkeit versöhnt:
Bei mir und meinem Gott: ich singe es!!!

Paul Kraft, aus Die Aktion, 8. Januar 1916


Skizze zu einem Gedicht

Sieben Uhr abend und die Jahreszeit kühl - Der Park steht weiterhin leer - Auf dem Teiche zwischen Rosenwolken zieht ein Schwan - Unter einer Ulme (Ulmus campestris) ruht ein alter Mann aus - Ich setze mich neben ihn, um mir eine Weile die Gärtner zu betrachten, die mit gezähltem Schwung den feinen und blauen Blumen durchwobenen Rasen hinmähen -

Die Kappe auf der Bank, sitzt jener alte Mann barhaupt da - Eine wollene Decke schützt ihm die Füße vor Kälte - Er bewegt über einem ganz braunen, dicken Bande die Lippen - „Die drei Männer im Holzofen“ sagt er - Ein Holzschnitt zeigt Daniel und die drei Geheiligten - Es ist dunkel, ich kann den Spruch darunter nicht unerscheiden -

„Ob sie ihn dennoch segnen?“

„Wen?“ fragt er -

„Den Versucher -“

„Wofür ihn segnen?“ ruft er - „Sie verfluchen ihn!“

Es wird sehr rasch finster - Schon zittern Sterne auf - Ein Windstoß stäubt zwei Takte Musik in die Luft - Der alte Mann packt zusammen - „Ich habe“, sagt er, „auch drei Söhne im Feuer“ -

Sein Schatten gleitet das Wasser entlang -

Der Schwan folgt ihm

Rudolf Fuchs, aus: aus Die Aktion, 8. Januar 1916


Max Pulver, geboren am 6. Dezember 1889 in Bern; gestorben am 13. Juni 1952 in Zürich, Psychologe, Graphologe, Lyriker, Dramatiker und Erzähler. Bekannt wurde er als Graphologe mit seinen grundlegenden Werken Intelligenz im Schriftausdruck und Symbolik der Handschrift. Nach frühen literarischen Erfolgen gab Pulver seine dichterische Tätigkeit in den 1930er Jahren zu Gunsten der Graphologie weitestgehend auf.


Ludwig Bäumer, geboren am 1. September 1888 in Melle; gestorben am 28. August 1928 in Berlin lebte ab 1910 in der Künstlerkolonie Worpswede. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Unteroffizier teil, wandelte sich dann jedoch zum Kriegsgegner und war während der Novemberrevolution in Bremen als kommunistischer Politiker aktiv. Ende 1918 war er Delegierter auf dem Gründungsparteitag der KPD in Berlin. Im Januar 1919 wurde er Mitglied des Rates der Volksbeauftragten der Bremer Räterepublik. Bäumer wohnte bis 1922 weiter in Worpswede, schließlich als freier Schriftsteller in München und Berlin. Am 28. August 1928 nahm er sich in Berlin das Leben.

Egon Schiele, geboren am 12. Juni 1890 in Tulln an der Donau, Österreich-Ungarn; gestorben am 31. Oktober 1918 in Wien, Maler des Expressionismus. Neben Gustav Klimt und Oskar Kokoschka zählt er zu den bedeutendsten bildenden Künstlern der Wiener Moderne.

Paul Kraft, geboren am 28. April 1896 in Magdeburg – Sudenburg, gestorben am 17. März 1922 in Berlin, Lyriker, erste Veröffentlichungen ab 1913 in der von Franz Pfempfert herausgegeben Zeitschrift Die Aktion. Durch Vermittlung von Franz Blei erscheint 1915 im Kurt Wolff Verlag in der Reihe „Der jüngste Tag“ sein Band Gedichte. Er stirbt am 17. März 1922 an den Folgen einer falsch behandelten Lungentuberkulose im Krankenhaus Neukölln in Berlin.

Rudolf Fuchs, geboren am 5. März 1890 in Poděbrady, Mittelböhmen, Österreich-Ungarn; gestorben am 17. Februar 1942 in London war deutsch-tschechoslowakischer Dichter und Übersetzer. Sein erster Gedichtband erschien 1913 in Heidelberg, bis zu seinem Tod im Exil in London, wo er bei einem Bombenangriff starb, sollten noch zwei weitere folgen. Sein letzter war "Gedichte aus Reigate", dessen erstes Gedicht die "Variationen nach Heinrich Heine" waren. Dass er ausgerechnet am Todestag des von ihm verehrten Dichters selber starb, und auch im Exil, wenn auch nicht in Paris, sondern in London, ist vielleicht eine Ironie der Geschichte. . .

Mittwoch, 2. August 2023

Luise Baer: Sehnsucht

 



Sehnsucht

Noch lange stand ich wortlos, wie gebannt,
wie lauschend jener andern fernen Welt –
ihr woget zauberhaft rings um mich her
wie meiner Sehnsucht unermeßlich Meer.

Ich muß dich fassen mit der Sehnsucht Macht,
wenn ich mein Selbst aus dir will wiederfinden –
es ist durch dich ein Ton in mir erwacht,
auf den ich lange, lange, lang geharrt.

Luise Baer, aus: Jahresgedanken einer Frau, 1921

Das Bild ist von Jakub Schikaneder (1855 - 1924)

Dienstag, 1. August 2023

Erna Gerlach: Sommerfäden

 


Sommerfäden

Bitteres Schweigen, unheilvoll, verblassend - - - -
Noch einmal gleitet,
kreisend, durchkreuzend meine Pläne,
bittersüß sterbender Duft.
Und alle Vasen, gefüllt noch mit Wasser, wartend,
sind leer - - - -
Erinnerungen blauer Stunden, brennend, verzehrend,
senden noch einmal heller Blüte süßen Duft.
Verweht - - - -
Stille Stunden kosten
mit welken Lippen, längst verklungener Töne Lust -
noch einmal.
Und alle Vasen, gefüllt noch mit Wasser, bittend,
sind leer - - - -
Noch einmal gleiten Bilder, in bunter Reihe taumelnd
Noch einmal.
Sommerfäden spinnen, - - - - - spinnen - - spinnen - -
und spinnen, blaue Stunden, wegmüde, spinnend, ein - - - -

Erna Gerlach (Lebensdaten unbekannt), aus: Die Rote Erde, Monatsschrift für Kunst und Kultur, 1. Jahrgang, Heft 6, Hamburg 1919

Es sind auch Gedichte von ihr zu finden in: Hartmut Vollmer, "In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod", Lyrik expressionistischer Dichterinnen, Herausgegeben von Hartmut Vollmer, Arche Verlag Zürich 1993

Das Bild ist von János Vaszary (1867 - 1939)

Hans Schmeier: Sommerabend / Zum letzten Mal. . .

 



Sommerabend

Das waren Abende in der kühlen Ruhe
voll Torfgeruch und spätem Bienensang.
Die Sonne glitt in ihre Truhe
mit rotem Farbenüberschwang.

Der Abendwind durchlief die Äste
und sang am Hang sein dunkles Lied,
das war vom sonnenschweren Tag das Beste:
die klare Zeit, in der man Wunder sieht.

Hans Schmeier

Hans Schmeier wurde am 6. Juli 1925 in Wien geboren. Im Dezember 1938 kam er mit dem ersten von Adolf Eichmann zusammengestellten Kindertransport nach England. Hans Schmeier und sein Freund Erich Fried verkehrten in der Leihbibliothek des aus Wien stammenden Dichters, Buchhändlers, Bibliothekars und Journalisten Fritz Gross (1897-1946), der als unabhängiger Linker schon 1933 mit einer bedeutenden Sammlung deutschsprachiger politischer Literatur nach Großbritannien emigriert war.

1940 schrieb er erste Gedichte, so Erich Fried. Beiträge von Schmeier wurden in „Zeitspiegel“, „Österreichischer Jugend“ (London), Gedichte in der Anthologie „Mut. Gedichte junger Österreicher“ (London 1943) veröffentlicht.

„Am 12. Oktober 1943 bekommt Erich Fried einen Abschiedsbrief zugeschickt, in dem sein bester Freund Hans Schmeier, Dichter wie er, seinen Selbstmord ankündigt. Er ist an den Spannungen innerhalb der Exilorganisationen zerbrochen. Fried verständigt die Polizei. Zur Wohnung des Freundes kann er nicht. Aber er wird zur Identifizierung ins Leichenschauhaus geholt. Die Erinnerung an den Anblick blieb gegenwärtig: Der Kopf des Toten ist mit einem Brett abgestützt, das in der Mitte eine Ausbuchtung für den Nacken hat. ‚Wie in einer Guillotine!‘ Die Augen sind noch halboffen: ‚Er sieht mich noch im Tod an!’”

In der Jackentasche des Toten findet man ein Gedicht. Es prägt sich Erich Fried ein (unveröffentlicht):

Zum letzten Mal, zum letzten Mal
Will ein Gedicht ich schreiben.
Es wird von mir und meiner Qual
Nicht viel sonst übrig bleiben.
Die Welt war gut, die Welt war gut,
Nur ich wußt‘ nicht zu leben.
Euch, Brüder voller Lebensmut,
Bitt ich, mir zu vergeben.
Was kommen mag, was kommen mag,
Ich weiß, ihr werdet siegen.
Es kommt auch ohne mich der Tag,
Laßt mich im Grab‘ nur liegen!
Kein Ende gab’s für meinen Krampf
Als dies, sei’s früher, sei’s später.
Ich fiel im Kampf, ich fiel im Kampf.
Macht mich nicht zum Verräter!“

Aus: Gerhard Lampe – Ich will mich erinnern / an alles was man vergisst - Erich Fried, Biografie und Werk

Das Bild Sommerabend ist von Koloman Moser (1868 - 1918)