Mittwoch, 23. August 2023

Clara Müller-Jahnke: Ein Wunsch

 



Ein Wunsch

Ein Häuschen wünscht ich mir, versteckt und klein,
auf dessen Sims sein Lied der Vogel singt,
an dessen reb'umsponnen Fensterkreuz
der letzte Ton der lauten Welt verklingt.

Darin für mich und für die Meinen Raum,
vom Straßenlärm der Städte meilenweit – –
und einen Garten pflanzt’ ich um mein Haus,
darinnen Blatt und Blüt und Frucht gedeiht.

Ein Apfelbaum, der goldne Früchte trägt,
ein Laubgezelt am schwülen Sonnentag,
ein Rosenhag, von dessen Duft berauscht,
ich einsam sinnen, träumen, dichten mag!

Und einen Blick in Gottes schöne Welt,
ins ährenreiche wogende Gefild,
das, sanft geschwellt vom Hauch des Abendwinds,
vom goldnen Erntesegen überquillt.

Und so viel von dem Gute dieser Welt
gib mir, o Herr, dass ich dem armen Mann,
der an die Pforte meines Hauses klopft,
ein Stückchen Brot als Imbiss bieten kann!

Clara Müller-Jahnke, geboren am 5. Februar 1860 in Lenzen, Kreis Belgard als Clara Müller; gestorben am 4. November 1905 in Wilhelmshagen bei Berlin, war Dichterin, Journalistin und Frauenrechtlerin. Sie galt in ihrer Zeit als führende sozialistische Dichterin und machte insbesondere mit ihren agitatorischen Arbeitergedichten auf die Lage der Arbeiter und der Frauen aufmerksam. Doch sie hatte auch eine andere poetische Seite.

Das Bild ist von Csontváry Kosztka Tivadar (1853 - 1919)

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