Dienstag, 31. Oktober 2023

Simon Kronberg: Requiem / Kaddish, Gebet der Söhne für ihre toten Väter

 


Requiem

Die Dürre seines Lebens, Ewiger, verscheucht den Schlaf des Toten!
Oh, wie gierig mich die Finger dieser Furcht versuchen, und Du,
Durst meiner Seele, sollst nur jenseits sein? So lähm ich mich
und strafe meine Enge mit dem Schrei und weine Schrei und fürchte
und scheue meinen Schrei bis an die Grenze, Gütiger des Landes,
vor dem das Wort sich wendet und der Sinn verrinnt.
Erst wenn die Hände eines längst Gestorbenen von mir sich lösten,
tötest Du mir Lebenden den Tag. Und ich soll jenseits suchen?!


Kaddish, Gebet der Söhne für ihre toten Väter

Sie sagen den Namen:
Das Brot wird vergessen,
aus der Straße in Tempel
rennen die Söhne.

Sie sagen den Namen:
er kommt, zerkeucht Atmen
in Furchen Geweins
steinen Gebete.

Sie sagen den Namen:
Am Eingang des Wortes
zerfällt das Gelächter,
Staub auf den Lippen.

Sie sagen den Namen:
Lippen umzieht Tod
des nur einmal dagewesenen
Wortes über den Geliebten.

Sie sagen den Namen:
die Frauen merken,
als Schmerz aus ihren Leibern
buchstabiert das Geschehene.

Sie sagen den Namen:
bedrohen Kälte und Kot,
während das Verderben
aus beiden lebt.

Sie sagen de Namen:
aus der Seele des Gebetes
blüht die Beschwörung -
„es soll nie sein in Tränen.“

Sie sagen die Namen:
die Männer zerreißen
sein Alter mit Klage
in Wort für Wort.

Sie sagen die Namen:
und sie spalten Gedanken in Wege,
abseits vom Sterben
atmen Gedanken.

Sie sagen den Namen:
Die Stille der Müdigkeit
kleidet das Amen.
Die Stunde zählt leise zur Zeit. -

Simon Kronberg, Schriftsteller und Dichter, geboren am 26. Juni 1891 in Wien; gestorben am 1. November 1947 in Haifa. Aus: Werke Band 1 Lyrik, Prosa, Herausgegeben von Armin A. Wallas, Boer Verlag,

Als Kind jüdischer Eltern 1891 in Wien geboren, lebte er anschließend in Hellerau, München, Düsseldorf und Berlin. Dort fand er 1915 Anschluss an Franz Pfemferts »Aktion«, in der er seine Gedichte veröffentlichte. Daneben schrieb er Theaterstücke und Prosa. 1934 verließ der Deutschland und ging nach Palästina, wo er als einfacher Schuhmacher und Stimmbildner arbeitet. 1947 stirbt er in Haifa
.

Egon Schiele: Ein ewiges Kind / Abendland

 



Ein ewiges Kind

Ich folgte stets den Gang
der brünstigen Leute
und wollte nicht in ihnen sein.
Ich sagte;  -  redete und redete nicht,
ich lauschte
und wollte sie stark oder stärker
hören und hineinsehen.
Ich ewiges Kind,
ich brachte Opfer anderen,
denen, die mich erbarmten,
denen, die weitweg waren
oder mich Sehenden nicht sahen.
Ich brachte Gaben, schickte Augen
und flimmernde Zitterluft
ihnen entgegen, ich streute ihnen
überwindbare Wege vor und,
- redete nicht.
Alsbald erkannten einige die Mimik
des Hineinsehers
und sie fragten dann nicht mehr.
Ich ewiges Kind,
verdammte alsbald das Geld und lachte
während ich es beweinend nahm,
das Hergebrachte, das Massenmuß,
das Körpertauschliche, das Zweckgeld.
Ich sah Silber wie Nickel,
Nickel wie Gold und Silber wie Nickel.

Egon Schiele, aus: Sämtliche Gedichte - Die andere Seite des Genies, Verlag Christian Brandstätter


Abendland

Ich habe Schaukelfelder durch winzige Zacken
zerschneiden gesehen
von Tausenden verlierenden Punkten auf Gelb,
Spiegelteiche und weiche Wolken.
Neigend bogen sich die Berge und hüllten Lüfte
aus Schleiern ein.

Ich roch die Sonne.
Jetzt ist der blaue Abend da,
sang und zeigte mir erst die Felder.
Einen blauen Berg umfloss noch roter Schein.
Ich war von all dem Vielduftigen umträumt.

Auch in: Die Aktion, 2. September 1916

Egon Schiele, geboren am 12. Juni 1890 in Tulln an der Donau, Österreich-Ungarn; gestorben am 31. Oktober 1918 in Wien, Maler des Expressionismus. Neben Gustav Klimt und Oskar Kokoschka zählt er zu den bedeutendsten bildenden Künstlern der Wiener Moderne.

Das Selbstportrait ist von ihm, 1912

Das Heft Nr. 22 der Reihe Versensporn ist ihm gewidmet (2016) 

Sonntag, 29. Oktober 2023

Ernst Stadler: Dämmerung in der Stadt

 



Dämmerung in der Stadt

Der Abend spricht mit lindem Schmeichelwort die Gassen
In Schlummer und der Süße alter Wiegenlieder,
Die Dämmerung hat breit mit hüllendem Gefieder
Ein Riesenvogel sich auf blaue Firste hingelassen.

Nun hat das Dunkel von den Fenstern allen Glanz gerissen,
Die eben noch beströmt wie veilchenfarbne Spiegel standen,
Die Häuser sind in Grau, durch das die ersten Lichter branden
Wie Rümpfe großer Schiffe, die im Meer die Nachtsignale hissen.

In späten Himmel tauchen Türme zart und ohne Schwere,
Die Ufer hütend, die im Schoß der kühlen Schatten schlafen,
Nun schwimmt die Nacht auf dunkel starrender Galeere
Mit schwarzem Segel in den lichtgepflügten Hafen.

Der Lyriker Ernst Stadler, geboren am 11. August 1883 in Colmar, Elsass; starb am 30. Oktober 1914 bei Zandvoorde nahe Ypern in Belgien („Flandernschlacht“). Leider wurde er, bevor er eine Gastprofessur in Toronto annehmen konnte zum Militärdienst eingezogen. Aus: Dichtungen, Band 1, Hamburg o. J. (1954)

Das Bild ist vom Harold Burkedin, Fotograf (1899 - 1944)


Samstag, 28. Oktober 2023

Manfred Adam: Späte Oktobernacht

 



Späte Oktobernacht

Schließlich verlöschen die Straßenflammen,
Die noch vom letzten Abend stammen,
Und eine Stille wird ringsherum,
Als wären tausend Seelen beisammen
Und unterhielten sich stumm.

Aber der Mond mit unversehrten,
Ängstigend Überriesen Gestalt
Dringt noch, langsam, doch ohne Halt,
Und pflanzt auf den kahlen, kalten Asphalt
Fabelhafte Gärten.

Manfred Adam, aus: Der Sturm, Januar 1913

Das Bild ist von Jezef Pankiewicz (1866 - 1940)

Victor Wittner: Und steht sie still die Uhr. . .

 



Und steht sie still die Uhr
des Herzens einst, und schwebt
dein Geist in den Azur,
von Körpers Last befreit:

- Wie hast du deine Spur,
fragt Gott, hineingelebt
in Geist, Fleisch und Natur?
Wie fülltest du die Zeit?

- Ach, hab ein wenig geschrieben.
Geliebt und phantasiert,
mich viel herumgetrieben
in Straßen ohne Ziel

und viel und viel
telephoniert.

Victor Wittner (1896 – 1949), aus: Alltag der Augen - Sonette, Morgarten-Verlag Aktiengesellschaft Zürich 1942

Nach Kriegsende 1914 wurde er in Wien als freier Schriftsteller und Theaterkritiker tätig, unter anderem bei der Zeitung Die Stunde und der Zeitschrift Die Bühne. Er arbeitete ab 1928 als Redakteur und von Januar 1930 bis Mai 1933 als Chefredakteur der in Berlin herausgegebenen Kulturzeitschrift Der Querschnitt. Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte.

Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 ging er zurück nach Wien, wo er aus Armut häufig die Wohnung wechseln musste. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 floh er nach Prag und dann in die Schweiz.

Donnerstag, 26. Oktober 2023

Leo Sternberg: Als was bin ich gedacht im Weltenplan?

 



Als was bin ich gedacht im Weltenplan?

Ich suche mich, solang ich denken kann,
betrachte mich im Spiegel aller Wesen
und will aus Freund- und Feindesblicken lesen:
Als was bin ich gedacht im Weltenplan?

Mit Suchen hab ich meine Zeit vertan.
Was soll ein Werk, von Gott nicht zugewiesen!
Ich hielt mit Großen Rat, die mitumschließen,
was in der Schöpfung ruht von Anfang an.

Bin ich ein überflüssiger? Betrogen
beim Wurf der Lose? Aus Beruf ein Kind,
das müßig sein soll? Christus auf den Wogen?

Ein luftgeschaffnes Nichts? Ein Brückenbogen,
über den Strom gespannt, durch den die Welle rinnt,
durchflogen von der Schwalbe, kahndurchzogen?

Leo Sternberg, aus: Im Weltgesang, Berlin 1916

Leo Sternberg, geboren am 7. Oktober 1876 in Limburg an der Lahn, er schrieb Lyrik und schuf eine Reihe von kulturhistorischen Werken. Seine Lyrik erschien unter anderem in den Zeitschriften Die Aktion, Hochland, Der Brenner, Jugend und Der Feuerreiter. Als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie trat er 1906 aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft aus und 1933 der katholischen Kirche bei. Als „Nicht-Arier“ wurde er 1934 vom Dienst als Amtsrichter suspendiert, vorzeitig in den Ruhestand versetzt und hatte fortan Schwierigkeiten, seine Werke zu veröffentlichen. 1937 reiste Sternberg mit seiner Frau nach Jugoslawien, um Recherchen zu einem Romanprojekt über den Kaiser Diokletian anzustellen. Seine Tochter war bereits zuvor nach Jugoslawien ausgewandert. Wenige Tage nach seiner Ankunft im Oktober starb er auf der Insel Hvar in Dalmatien und wurde dort beerdigt. Sein Bruder Hugo Max Sternberg, dessen Frau Lola und die gemeinsame Tochter Lili wurden 1943 in Auschwitz ermordet.

Das Bild ist von Georges Rochegrosse (1859 - 1938)

Mittwoch, 25. Oktober 2023

Lilli Recht: Herbst / Herbstgedanken / Oktober

 



Herbst

Den Lenz, den haben wir alle verträumt.
Wir spielten im Garten Erwachsensein.
Wir waren jung und es kann wohl sein,
Dass wir damals das Glück versäumt.

An den Sommer denk ich nicht gern zurück,
Wir suchten Liebe und fanden Leid.
Im Schatten der Bäume zur Abendzeit
Begruben wir unser Glück.

Nun, da die hohen Bäume entlaubt
Schweifen die Blicke himmelwärts,
Und wir schenken dem Herbst unser wissendes Herz,
Das wieder an Liebe glaubt.


Herbstgedanken

Nun werden bald die ersten Blätter fallen,
Pelzmäntel tauchen schon vereinzelt auf.
Und an Straßenecken bieten alte Weiber
Des Herbstes bunte Blumen zum Verkauf.

Es regnet oft, und graue Nebel senken
Sich feucht und schwer aufs reife Land -
Die Schwalben fliehn , - die Menschen kehren wieder
Zur Stadt zurück, erholt und braungebrannt. . .

Dann wird es kalt, die Tage werden kürzer,
Man zündet im Büro die Lampen an
Und schreibt und schreibt - Frost trübt die Fensterscheiben,
Eh´ man sich versieht, ist das Jahr vertan.


Oktober

Letzte Sonnentage
Blühn wie ein kurzer Traum
Über der schimmernden Halde,
Über dem welkenden Walde,
. . . Blätter gleiten vom Baum.

Breiten goldene Matten
Über die weißen Alleen,
Wo wir mit sommersatten
Schritten in frühe Schatten

Herbstkühler Nächte gehen.

Lilli Recht, aus: Ziellose Wege, Druck von Heinrich Mercy Sohn, Prag 1936

Lilli Recht wurde am 17. Februar 1900 in Hodolany / Hodolein bei Olomouc / Olmütz geboren.1938 emigrierte sie gemeinsam mit ihrer Schwester nach Italien 1926 zog sie nach Prag, wo sie ihre Gedichte und Texte im Prager Tagblatt veröffentlichte. 1936 erschien ihr einziger Gedichtband Ziellose Wege. Lilli floh gemeinsam mit ihrer Schwester vor der nationalsozialistischen Besetzung nach Italien, 1941 wurde sie interniert. Nach ihrer Freilassung 1944 lebte sie in Neapel und später in Potenza. Weitere Lebensdaten sind nicht bekannt.

Das Foto zeigt Lilli Recht mit ihrer Schwester Gertrude

Das Bild ist von Eugene Galien-Laloue (1854 - 1941)



Otto Pick: Einkehr ins Nichts / Der Vater betet

 



Einkehr ins Nichts

Was sie jetzt machen mag? . . .
Ich quäle mich, nicht mehr daran zu denken,
Für mich ist es nun ewig Wochentag.
Was festlich war, ich will es tief in mich versenken.

Befühl ich meine Brust, des Herzens matter Schlag
Mahnt mich: Jetzt darfst du nicht mehr daran denken.
Für dich fortan ist immer Wochentag. . .

Nichts mehr geschieht. Man merkt mir gar nichts an.
Ich esse, trinke, gehe ins Bureau;
Man grüßt und sieht sich einander fremd und höflich an.
Der Abend kommt. Ich weile irgendwo.

Und schlafen geh ich, ohne müd zu sein,
Und wache auf und finde mich allein.
Nicht rasch, nicht langsam geht des Herzens Schlag.
Ich denke nur: Heut ist ein Wochentag,
Und morgen einer, und so wird es immer sein.

Otto Pick, aus: Arkadia, Jahrbuch für Dichtkunst, Kurt Wolff, Berlin 1913

Otto Pick, geboren am 22. Mai 1887 in Prag, deutsch-böhmischer Schriftsteller und Übersetzer, am 25. Oktober 1940 starb er im Exil in London.

Aus dem Alt-Prager Almanach 1927, herausgegeben von Paul Nettl, Prag: Die Bücherstube (1926). – Auf Seite 169 befindet sich eine Anzeige für Otto Picks Gedichtsammlung »Wenn wir uns mitten im Leben meinen«, die 1926 im Verlag »Die Bücherstube« erschienen war. In der Anzeige zitiert werden Thomas Mann, Franz Werfel, Felix Braun, Else Lasker-Schüler, Alfred Kubin und Paul Westheim sowie das »Prager Tagblatt« und das »Prager Abendblatt«. Else Lasker-Schüler wird mit folgenden Worten zitiert, die in keiner Werkausgabe abgedruckt sind:

»Ich las zuerst: ›Der Vater betet‹ – ein herrlich großes feierliches Gedicht.« Das Gedicht lautet:

Der Vater betet

An manchen Tagen im Jahr
ist seine Art, uns zu lieben,
verwandelt sonderbar.

Etwas ist ferne geblieben,
was sonst seine Blicke erwärmt.
Er hört zwar nicht auf, uns zu lieben,

doch etwas besteht, was ihn härmt
und zwingt, sich heimlich zu wenden,
wie Einer, verwirrt, dass er schwärmt.

In seinen ach runzligen Händen
hält er ein Buch schwarz gebunden.
Sein Lesen, sein Seitenwenden

ist mühsam, die Blicke bekunden
fast ängstlich verhüllte Erregung
Eines, der wieder gefunden,

was nicht durch Zufallsbewegung
sich vor den Blicken entfaltet.
Betroffen sehn wir die Regung,

ahnend: was mächtig hier waltet,
hat uns von dem Alten geschieden.
Er glüht, wir waren erkaltet.

Gott, lass ihn noch sehen hienieden,
dass wir uns einträchtiglich sammeln,
erkennend den Sinn und den Frieden.

Worte, vertraute, ihm stammeln –
Lass uns, ihm endlich verbunden,
Gott nennend uns Alle versammeln.

Montag, 23. Oktober 2023

René Schickele: Losspruch

 



Losspruch

Dein Gang nimmt Zorn und Weh von mir,
und wie sich deine Hüften wiegen,
fühl ich die Erde mit uns fliegen
durch Himmelsbläue für und für.

O schöne Fahrt, so leicht, wie Wind,
vor dem die Fernen sich entfalten!
Wir wollen uns für Götter halten,
die auf der Hochzeitsreise sind.

René Schickele, aus: Die weißen Blätter, 2 1913 2

Die weißen Blätter waren eine Monatsschrift, die in ihrem Erscheinungszeitraum von 1913 bis 1920 zu einer der wichtigsten Zeitschriften des literarischen Expressionismus wurde.

1915 übernahm René Schickele die Herausgabe. Von 1916 bis 1917 gab der Verlag Rascher in Zürich die Zeitschrift heraus, 1918 der Verlag der weißen Blätter in Bern, von 1919 bis 1920 publizierte Paul Cassirer die Zeitschrift in Berlin.

René Schickele (1883 – 1940); Dichter aus dem Elsass, setzte sich nach dem ersten Weltkrieg engagiert für die deutsch-französische Aussöhnung ein. Schon 1932 ahnte er, was sich in Deutschland anbahnte und emigrierte nach Südfrankreich. Dort lebte er, bis er einige Monate nach Einmarsch der Wehrmacht am 31. 1. 1940 an Herzversagen starb. Auch seine Werke wurden von den Nationalsozialisten den Flammen übergeben.

Das Bild ist von Otto Mueller (1874 - 1930)

Sonntag, 22. Oktober 2023

Edgar Steiger: Keine Zeile! / Aus: Marianne

 



Keine Zeile!


Laß gut sein! Wenn dein Brief ihr nicht gefiel,
Was tut's? Ein Ende hat ein jedes Spiel;
Zu langes Plaudern macht' ihr lange Weile.
Vielleicht auch fand sie einen andern jetzt,
Der sich anbetend ihr zu Füßen setzt.
Du tatest's nicht! Ganz recht. Doch - keine Zeile!

Was soll sie schreiben? Daß sie deiner satt,
Daß aus dem Liebesalmanach ein Blatt
Herausgerissen ward in aller Eile?
Ob sie's als Zigarette heut verraucht,
Ob sie's als Lockenwickel gar gebraucht,
Wer weiß? Mir gleich! Und dennoch - keine Zeile!

Aus: Weltwirbel Gedichte von Edgar Steiger
Egon Fleischel & Co Berlin 1916

Edgar Steiger, geboren 13. November 1858 in Egelshofen, Schweiz, heute Kreuzlingen; gestorben 23./24. Oktober 1919 in München, Schriftsteller und Journalist. Nach einigen Jahren des Studiums der Theologie und Philosophie floh er der Enge der konservativ-religiösen Familie nach Leipzig und brach schlussendlich das Studium ab. Ab 1884 versuchte er sich als Schriftsteller und Theaterkritiker bis er in der jungen Sozialdemokratie eine Heimat fand.

Seit 1913 kämpfte er beim „Schutzverband deutscher Schriftsteller“ (SDS) für höhere Zeilenhonorare für Journalisten. Als die Papierknappheit im Krieg dazu kam wurde es für Steiger und andere Journalisten unmöglich mit ihrem Beruf Geld zu verdienen. Krieg, Verarmung und Hunger hatten Edgar Steigers Lebenskräfte erschöpft. Er starb in der Nacht vom 23. auf 24. Oktober 1919 an einer akuten Lungenentzündung.

„Wohl sagt ihr Herrn, daß alles, alles feil,
Daß Liebe, Unschuld, Leib und Seelenheil
Mit einer Handvoll Gold sich kaufen lasse.
Als Hure geht die Tugend auf der Gasse
Und wirft verstohle Blicke rechts und links
Zur Lust des Promenadenschmetterlings,
Und scheint sie dir den frechen Wunsch zu weigern,
Sie tut es doch nur, um den Preis zu steigern.
Und doch, ihr Herrn, mit allem euerm Gold,
Das flink durch die geschäft'gen Finger rollt,
Eins weiß ich, was euch heut und ewig quält,
Was immer auf der durst'gen Lippe zittert
Und euch den Tag vergällt, die Nacht verbittert
Und noch im Arm des schönsten Weibes quält.
Und dieses Eine, das kein Gold ergattert,
Das höhnisch stets ob euern Häupten flattert,
Das euch kein Gott noch Teufel geben kann,
Ich hab's, ich hab's, ich armer sel'ger Mann!
Denn da, wo Furcht und Hoffnung stets euch plagen,
Kenn ich das Wort, das Glück und Frieden gibt,
Ich weiß und fühl's und darf es kecklich sagen,
Daß mich ein Weib um meinetwillen liebt.“

Aus dem Gedicht „Marianne“ in Weltwirbel Gedichte von Edgar Steiger,Egon Fleischel & Co Berlin 1916

Samstag, 21. Oktober 2023

Eugen Gottlob Winkler: Herbstliches Lied II

 



Herbstliches Lied II

Diese Stunde kommt erwartet:
Sommer, durchliebt zum Herbst zu zweit,
Neigt doppelt und schwer. Die geistliche Zeit
Feiert, noch grün umgartet.

Geliebt einander, jetzt sterben leicht
Die wilden Tiere. Zum Erinnern
Blüht, die Lust der Welt im Innern,
Letzte Rose neben müdem Zweig.

Liebe diese beiden! Blume
Und Frucht, am dunklen End'.
Sanftmütige Freundin, welche sie kennt,
Belaubt noch den Tod, geht ein zum Ruhme.

Eugen Gottlob Winkler, geboren am 1. 5. 1912 in Zürich, Schriftsteller, 1933 von der Gestapo verhaftet, aber wieder freigelassen. Als 1936 eine erneute Verhaftung drohte, nahm er sich am 26. 10. 1936 in München das Leben.

Das Bild ist von Jakub Schickaneder (1855 - 1924)

Freitag, 20. Oktober 2023

Gerrit Engelke: Ein herbstlich Lied für Zweie

 



Ein herbstlich Lied für Zweie

Auch diesem Stieglitz da im Blätterfall,
Tickt wunderbar in seinem Federball
Ein schüchtern schluchzend Herz, ein kleines,
Ein Herz wie meins und deines.

Der Vogel singt, weil ihn sein Herz bezwingt
Und große Sonnenluft ihn frisch umschwingt –
Er muß von seinem Herzen zehren.

Und jedes Flüsterbäumchen, uns vertraut,
Trägt unter seiner weichen Rindenhaut
Ein horchend Neugierherz, ein wachsend kleines,
Ein Herz wie meins und deines.

Der Baum verzweigt, und weiter zweigt er still,
Weil frei sein Herz ins Blaue schauen will –
Er muss von seinem Herzen zehren.

Wer spürt, wie bald das nächtge Schweigen naht –
Du hast mich lieb und gehst denselben Pfad;
Wir leben zueinander warm und still,
Wie unser ruhlos, wunschgroß Herz es will.

Einmal ist Schauerstille um uns her,
Das Herz klopft aus, ist tot und leer –
Wir müssen all von unserm Herzen zehren.

Gerrit Engelke, aus: Rhythmus des neuen Europa – Gedichte, hrsg. aus dem Nachlass von Jakob Kneip, Jena (Diederichs) 1921.

Gerrit Engelke wurde am 21. Oktober 1890 in Hanover geboren. „Gewiß ist Engelke der Dichter des Maschinenzeitalters, doch unter dem Einfluß Whitmans erscheint bei ihm die Arbeitswelt in idealisierter Sicht. . . . Trotz aller Faszination teilte er freilich den unreflektierten Fortschrittsglauben seiner Zeit nicht.“ , heißt es über ihn im Buch „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen - Vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts“ von Hans J. Schütz.

Am 13. Oktober 1918 fiel er an der Westfront, kurz nachdem er einem Freund geschrieben hatte, er wolle über das „vom Krieg befreite, wieder menschlich-brüderlich werdende Völkereuropa der Städte, der Arbeit, des Lebens“ schreiben.

Dass Engelke dem städtischen Leben jedoch auch kritisch gegenüber stand zeigt sein Gedicht „Ich will heraus aus dieser Stadt“, in dem es unter anderem heißt: „Bald hab ich diese Straßenwochen, / bald diesen Stadtbann aufgebrochen / und ziehe hin, wo Ströme durch die Ewig-Erde pochen, / ziehe selig in die Welt!“

Leider lässt sich nicht sagen, wohin sich der frühverstorbene Dichter entwickelt hätte. Doch eines lässt sich gewiss sagen: Er ist zu Unrecht dem Vergessen anheim gefallen.

Das Bild ist von Marianne von Werefkin, geboren am 10. September 1860 in Tula, Russisches Kaiserreich; gestorben am 6. Februar 1938 in Ascona, Schweiz), Malerin. Im Jahr 1907 entstanden ihre ersten expressionistischen Gemälde. Sie war Mitbegründerin der Neuen Künstlervereinigung München, der unter anderem auch Gabriele Münter, Wassily Kandinsky und Franz Marc angehörten, bevor sie den Blauen Reiter gründeten. 1814 musste sie als Russin in die Schweiz emigrieren. Dort beteiligte sie sich auch an den Aktionen des Cabaret Voltaire. 1918 zog sie nach Ascona, wo sie 1938 verstarb.

Peter Kien: Anders / Die Peststadt

 



Anders

Um von den andern mich zu unterscheiden,
die tagewerkelnd durch das Leben gehen
und unbequeme Hindernisse weislich meiden,
musst anders ich als Andre mich gebärden
und glaubte schon, ein Sonderwas zu werden.
Die Andern aber wollten unbescheiden,
als Andre anders, alle Andern schmähn,
wir sind wie vordem gleich und müssen drunter leiden.

Peter Kien

Die Peststadt

I.

Kaum wagt der Blick sich in die öde Weite,
wo schwarz der Peststadt Silhouette droht –
dort ist der Tod.
Wie Trauerfahnen wehn die Rabenscharen,
und ihnen neiderfüllt zur Seite
die Geier und der Pest Geleite.
Verängstigt schleicht der Bauer durch die Auen,
den Tod vor sich dort hinter Wall und Graben,
im Nacken Grauen
und mäht nach der Musik der heisern Raben.

II.


Die Leichen unbegraben auf der Straße liegend,
die Kranken in den Häusern heulend:
das ist die Pest mit ihren schwarzen Beulen,
das ist die Pest, der schrecklichste der Kriege.
Noch klirrt das dünne Eisen der Duelle.
Noch geht der Stolz durch wohlgefüllte Ställe.
Noch gibt es Maskenbälle.

III.

Durch die Straßen rollte der Leichenkarren,
von vermummten Knechten stumm begleitet –
über morsche Knochen hingebreitet.
Und die Luft liegt wie in Barren
Über die entsetzte Stadt gepresst.
Dort im letzten Hause tobt das letzte Fest.
Irre Klänge von zerborstnen Mandolinen,
Reigen von zerfetzten Harlekinen,
Küsse, Blut und Wein hinter verschlossenen Gardinen.
Pest.

IV.

Ohn Atem, kahl, zerrissnes Hemde,
Blei an den Sohlen, Stacheldraht ums Herz,
im eignen Haus ewig Fremde.
Und jeden Tag und jede Stunde zerrt`s
An unserem Leben, wie die Angelrute
Den Fisch aus seinem schleudert uferwärts.
Uns jagt das Leiden wie der Hengst die Stute,
vermählt sich uns mit wieherndem Triumph,
umarmt uns mit den Schnüren seiner Knute.
Ohn Atem, kahl, mit blaugedroschnem Rumpf
Presst uns die Not in ihre Daumenschrauben
Und macht an unserm Fleisch ihr Messer stumpf.
Doch unsere Träume kann uns niemand rauben.

Kien, František Petr (Franz Peter) 1. Januar 1919 – 16. Oktober 1944

Wurde in Varnsdorf an der deutschen Grenze geboren. Seine Eltern, der Vater war Textilunternehmer, gehörten zum deutschsprachigen Judentum des Landes.
Kien ging am Realgymnasium in Brünn zur Schule. Er war ein Doppeltalent, wie der Schriftsteller Peter Weiss, mit dem er 1937/38 an der Akademie der Künste in Prag studierte. Er schrieb Gedichte, Erzählungen, dramatische Versuche und Filmdrehbücher. Und er zeichnete fieberhaft mit Bleistift und Feder, mit Kohle und Rötel. Mehr als hundert Ölgemälde entstanden, vorwiegend Porträts jener, die später mit ihm in die Verfolgung gerieten, als ahne er die zukünftige Entwicklung und müsse mit seinen Bildern ihr Leben bewahren. In einem Gedicht aus dieser Zeit heißt es: „ Ich fürchte mich / vor dem riesigen blauen Dunkel / des Todes/ Es packt mich ein Grauen / denk ich an ihn, der heimtückisch lauert...../ Ich will nicht ....“ In seiner Erzählung „Abschied von den Eltern“, beschreibt Peter Weiss die Panikstimmung vor dem Einmarsch der Deutschen in Prag. Ein verzweifelter Jude springt aus dem Fenster und klatscht direkt vor den beiden Freunden auf das Pflaster. Peter Weiss schaut auf Petr Kien: „Seine Atemzüge schluchzten.“ Er schreibt: „Fliehe, Petr Kien, bleibe nicht hier, verstecke dich, du mit deinem hilflos offenem Gesicht.“ Peter Weiss entkommt nach Schweden, Petr Kien schickt ihm sein Jugendwerk nach. Er selbst entkommt nicht. Als er – wie alle anderen jüdischen Studenten – vom Studium ausgeschlossen wurde, besuchte er eine private Graphikschule. Nebenbei gab er jüdischen Jugendlichen in der Weinbergsynagoge Zeichenunterricht. Einer seiner Schüler war Jan Burka, mit dem er sich anfreundete. Er heiratete sein Lieblingsmodell Ilse Stránský, Tochter eines Bankiers, bei dem er zur Untermiete wohnte.

Am 4. Dezember 1941 wurde er nach Theresienstadt deportiert, ebenfalls seine Eltern und seine Frau Ilse. Wie viele andere Künstler, arbeitete er in der Technischen Kanzlei, betätigte sich literarisch, dramatisch und musikalisch. 1942 lernt er die aus Brünn ins Ghetto deportierte Helga Wolfenstein kennen, die, wie er, im Zeichenssal arbeitet. Peter verliebt sich in sie, verbringt seine ganze freie Zeit mit ihr, nimmt sie als Modell und Geliebte, trennt sich von seiner Frau. Jan Burka sagt später: „Ich nehme nichts vom Schrecklichen in unserer ausweglosen Situation weg. Aber stellen Sie sich uns gleichzeitig glücklich vor, weil wir jung waren. Dem Gefangensein sind wir nicht entronnen. Und doch spielten wir unsere Lebenslust frei. Trotz drangvoller Enge im Ghetto habe ich eine Mansarde gefunden, in denen ich mein Modell liebte und malte.“

Die Panik vor dem inneren Absterben, ohne vorher gelebt zu haben, ist groß bei Petr Kien. Er zeichnet, schreibt das Libretto zu der Oper Der Kaiser von Atlantis von Victor Ullmann, die erst 1975 uraufgeführt wurde, schreibt Gedichte, darunter den Zyklus „Die Peststadt“. Petr Kien schrieb im Ghetto das Stück Die Marionetten/Loutky, das in der tschechischen Übersetzung aufgeführt wurde, dessen Text jedoch verloren ging.

Er meldete sich freiwillig mit seiner Frau und den Eltern zum Transport nach Auschwitz am 16. Oktober 1944. Er hatte Helga W. nichts davon gesagt. Bei ihrem letzten Treffen übergibt er ihr 14 Briefe, von denen sie jeden Tag einen öffnen und dann verbrennen soll. Er übergibt ihr einen Koffer mit Gedichten und über 400 Zeichnungen aus der Ghettozeit. Petr Kien übersteht die Selektion auf der Rampe in Auschwitz, aber er kommt durch eine Infektion Ende 1944 ums Leben. Helga Wolfenstein überlebt Theresienstadt und mit ihr die Zeichungen. Sie beginnt in Prag ein Studium, reist dann jedoch nach England, wo eine ihrer Schwestern lebt. Die Zeichungen deponiert sie bei einer Tante in Brünn. Sie werden 1971 von der ČSSR-Regierung konfiziert und der Gedenkstätte in Theresienstadt übergeben.
„Peter Kien stammte aus einer mährischen Kleinstadt und kam 1941, 22 Jahre alt, nach Theresienstadt. Hier verwöhnten einige Gönner den frühreifen Künstler so sehr, daß er manchmal das Maß und die Selbstkritik verlor, dennoch blieb er erfrischend naiv, urwüchsig und einfallsreich, dabei ein selbstloser Freund und Helfer allen anderen Künstlern. Streben nach Wahrheit, doch keine Anklage war seine Absicht; jeder Gegenstand war für ihn zunächst ein Objekt, sein virtuoses Können zu bewähren. Bei einer hohen und anschmiegsamen Intelligenz, war er doch nicht so intellektuell... Er interessierte sich für den einzelnen Menschen, nicht weniger für anonyme Typen wie für die bekannten Lagergrößen. Wen er zeichnen wollte, der konnte sich ihm nicht entziehen, mußte ihm sitzen und wurde von seinen forschenden Augen durchschaut und fast verzehrt. Seine Fähigkeit, Charaktere zu erfassen, kam auch seinen vorzüglichen Karikaturen zugute, die oft bewußt widerwärtig, dann wieder bewußt wohlwollend waren, stets aber etwas Wesentliches enthüllten. Kien bediente sich aller zeichnerischen Techniken und hat auch, weniger gelungen, einige Ölbildnisse hinterlassen. Nebenher versuchte er sich mit weniger Glück, aber auch hier begabt, als Dichter von Dramen, Märchen und Gedichten. Als treuer Sohn ging Kien mit Frau und Eltern im Oktober 1944 in einer Auschwitzer Gaskammer zugrunde.“

Quelle: ghetto-theresienstadt info, Kulturverein Schwarzer Hahn e. V., 29462 Lensahn und peter kien - bilder und gedichte, 1933 – 1944, damm und lindlar verlag, Berlin

Das Bild zeigt ein Selbstportrait von Peter Kien

Mittwoch, 18. Oktober 2023

Ilse Herzfeld: Drei Gedichte

 



Drei Gedichte

I

Du sangest unendliche Sänge
Von Abend, Schlaf und Ruh.
Wir gingen dunkle Gänge
Dem Englischen Garten zu.

Weiße Wege glitten
Heimlich in hüllende Nacht,
Und wie wir schwebend schritten,
Sind weit die Wunder erwacht.

II

Klanglos klagt die weiße Kühle
Gähnt und gleitet Gassen hin.
Wenn ich deine Ferne fühle -
Wie du reich bist, Trösterin!

Regen tropft - ein trübes Tränen,
Schlangen schluchzen himmelab.
Leise singt und sinkt ein Sehnen
In sein dämmergraues Grab.

III

Ich hatte dein und immer dein gedacht.
Und Sonne goldete um kalte Glieder.
Ich hatte wartend Nacht und Nacht durchwacht.
Und Träume tröstend tönten in mir wieder.

Und Tränen strömend trugen sie schon fern.
Mein Sehnen schrie ein atemloses Flehen.
Müd, meine Augen suchten seinen Stern -
Er hob mich leis und hieß mich mit sich gehen.

Ilse Herzfeld geboren 30.11.1890 in Glogau (Schlesien), Flucht in den Tod am 19. 10. 1941 in Berlin, aus: Der Zweemann, Monatsblätter für Dichtung und Kunst, Nr. 4, Februar 1920

Das Bild zeigt einen Holzschnitt von E. Schütte aus dem gleichen Heft.

Dienstag, 17. Oktober 2023

Karl Gustav Vollmoeller: Nun wird mein Leben mit jedem Tag stiller und blässer. . .

 



Nun wird mein Leben mit jedem Tag
stiller und blässer,
kaum dass ich noch Stunden vernehmen mag
wie unterirdischen Tropfenschlag
verlorner Gewässer.

Wie dämpft sich das Laute mit einem mal
wie ist das Gewimmel
der bunten Farben verhüllt und fahl
und die ganzen Tage vom steten Opal
ewiger Abendhimmel,

und wie ist es, dass Dinge jetzt einfach geschehn
die unfassbar deuchten,
schwarze Teiche im Vorübergehn
und Frauen, welch ich nie gesehn
ganz plötzlich leuchten

und Zerrissnes sich bindet und sagt mir was,
macht jetzt meine Lider
von lange vergessnen Tränen nass -
ganz alte Worte, die ich vergaß
finde ich wieder.

O Gott, die Zeit ist Wunders voll:
es fallen und steigen
die Wasser uralter Liebe und bald
wird Altes zu Neuem und Neues alt,
mich schläfert eigen.

Es spinnt mich ein dunkel verworrener Traum
vom Unbekannten
hinüber zum unbekannten Raum:
dazwischen leb ich und hab es kaum
einmal verstanden.

Karl Gustav Vollmoeller, aus: "Parcival – Die frühen Gärten", S. Fischer Verlag, Berlin 1903

Karl Gustav Vollmoeller wurde am 7. Mai 1878 in Stuttgart geboren, er verstarb am 18. Oktober 1948 im Exil in Los Angeles. "Parcival – Die frühen Gärten" ist der Gedichtband, der dem Autor zum Durchbruch verhalf. Das 1903 erstmals veröffentlichte Buch machte ihn zum anerkannten und gefeierten Lyriker.

Das Bild ist von Frederick James Shields (1833 - 1911)

Arthur Kronfeld: Five 0´clock / Der Verlorene / Bekannte / Frühling

 



Five o´clock

Im braunen Lederzimmer Kirchenstühle,
Lastend, hager, violett gebeizte. . .
Fraisefarbnen Sammet strahlt der matt geheizte
Kamin, Reflexe zittern auf der Diele -

Wie deutsch ich mich in diesen Wänden fühle!
Ein Sentiment, das sonst zum Lächeln reizte,
Umhüllt mich: Der noch nie mit Pointen geizte,
Wird wohlig-bourgeois, streckt sich auf dem Pfühle

Des mütterlichen Sofas, ahnt den Segen
Von Häuslichkeit, Beruf und Kapital.
Die Paradoxe zaudern; halb verlegen

Nimmt er den Tee und fühlt durchaus sozial
Und spricht von Botticelli und vom Regen -
Und spürt die ewigen Werte der Moral.

Arthur Kronfeld, aus: Die Aktion, Nr. 9, 17. April 1911


Der Verlorene

Er taucht in Nacht. Die rotgeschwellten Lider
Schließen sich halb; fahl ist sein Blick und fern.
Fremdrot, verblutet, hohl erloschner Stern.
Ein Zucken kriecht ihn durch die müden Glieder.

„Lass mich. . . Und ruf Gestorbnes mir nicht wieder.“
Doch ich: „So treibt aus dem verdorrten Kern
Kein Same mehr? Opferst denn du dich gern
Zufriednem Hohn der Knirpse? - Er sieht nieder:

„Nein. . . Aber flutwärts treibt mein welkes Boot
Vor sattem Wind des Spottes, der nicht denkt.“
- „Doch di bist´s, dem im Watt die Leuchte loht!

Sei du es, der mit eignem Nerv es lenkt,
Lachend der Schäume, die umsonst gedroht!“
- Da weint er, zag und tot und grabversenkt. . .

Aus: Die Aktion, Nr. 13, 15. Mai 1911


Bekannte

Der fettig Lächelnde aus Oesterreich
Reicht zu jovialem Gruße mir die Hand.
Franziska lehnt zerrissen an der Wand ;
Hassblitzend mustert sie und geil und bleich
Mich und den fettigen Herrn aus Oesterreich.
Er stellt uns beide vor, und formgewandt
Verzieht er sich. Ich bin korrekt-galant,
Sie fassungslos. Ich werde plötzlich weich
Und sage leise: Zartes junges Tier,
Hast Du denn Angst? und Ekel?
Zieht Dich nicht 
Unter der Schwelle rassig fahle Gier
Dennoch hinüber in das heiße Licht?
Du schriebst mir . . . und doch Ekel? und vor mir ? —-
Sie senkt die Lider. Und ich schweige schlicht.

Aus: Der Sturm, Nummer 61, 29. April 1911


Frühling

Dick und sprachlos stehn zwei gelbe Rinder
Auf der grünen Wiese, wie zwei Flecke.
Hinter rosaweiß punktierter Hecke
Orgelt stramm, in schmutzigem Zylinder,
Ein Soldat gewesener Binder.
Und sein Rhesusfreund in greller Decke
Denkt zerfurcht dem ärgerlichen Zwecke
Dieses Orgelns nach und lockt die Kinder.
Alle stehn sie, rot und ungewaschen,
Glotzend, aufgeplustert, wie die Kröten;
Eins wagt nach dem Tierchen zag zu haschen.
Fette Töne purzeln, kollern, flöten?
Und ein milder Herr greift in die Taschen,
Interesselos, doch mit Erröten.

Aus: Der Sturm, Nummer 65, 10. Juni 1911

Arthur Kronfeld, geboren am 9. Januar 1886 in Berlin; gestorben am 16. Oktober 1941 in Moskau) war ein deutsch-russischer Psychotherapeut, Psychologe, Sexualwissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker, sowie darüber hinaus auch politisch engagiert. Er war philosophisch geschult und hatte künstlerische Neigungen, war doppelt promoviert und wirkte zuletzt als Professor an der Charité der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin sowie im Moskauer Exil am „Neuropsychiatrischen Forschungsinstitut der UdSSR Pjotr B. Gannuschkin“, dem heutigen „Forschungsinstitut für Psychiatrie“. Dort nahm er sich, als der Einmarsch der deutschen Truppen drohte, unter ungeklärten Umständen zusammen mit seiner Frau Lydia das Leben.

Das Foto zeigt Arthur Kronfeld 1919

Montag, 16. Oktober 2023

Albrecht Haushofer: Herbstgast

 



Herbstgast

Es flog ein Schmetterling mir auf die Hand,
Ein schöner Falter, schwarz, mit rotem Band,
Mit müdem Flattern, als ich heut im Kahn
Durchfurcht den See auf spiegelnd blauer Bahn.
Die Sonne schien. Ich fuhr zum Uferrand
Und brachte sorgsam meinen Gast zu Land.
Ich legt ihn auf ein rotes Buchenblatt
Und merkte wohl, er war zum Sterben matt.
So ließ ich ihn. . . Er klappt die Flügel. . . ruht. . .
Umspielt von milder Himmelsstrahlen Flut.
Ich rudre weiter in den Herbst hinein.
Und doch - wie schön muß heut das Sterben sein!

Albrecht Haushofer (1903 - 1945)

Das Bild ist von Eugen Joost (1850 - 1910)

Albrecht Haushofer, geboren am 7. Januar 1903 in München; wurde am 23. April 1945 in Berlin von der SS ermordet. Er war Geograph, Diplomat und Schriftsteller, und trotz inneren Missbehagens stieg er im Auswärtigen Amt auf, wurde aber später geschasst.

Sein Bruder Heinz Haushofer fand in der Manteltasche des Toten mehrere beschriebene Blatt Papier mit 80 Sonetten, Diese wurden 1946 unter dem Titel „Moabiter Sonette“ veröffentlicht.

Albrecht Haushofer war einer, der sein Gewissen erst spät entdeckte. Aber er ist dem Ruf dieser Stimme schließlich gefolgt. Bis in den Tod:

„Ich klage mich in meinem Herzen an: / Ich habe mein Gewissen lang betrogen, / ich hab mich selbst und andere belogen – / ich kannte früh des Jammers ganze Bahn – / ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar! / Und heute weiß ich, was ich schuldig war …

Samstag, 14. Oktober 2023

Paul Scheerbart: Ich hab ein Auge. . . / Hafentraum / Die alte Laube / Kein Gedicht

 



Ich hab ein Auge. . .


Ich hab ein Auge, das ist blau
Mir gestern Abend geschlagen.
Ich schrie fünfhundertmal »Au! Au!«
Was wollt ich damit sagen?
Ich weiß es heute selber nicht;
Ich hab ein Heldenangesicht.


Hafentraum

Ich hab in dieser ganzen Nacht
Still wie ein Stall geschlafen.
Ich hab in dieser ganzen Nacht
Geträumt von tausend Schafen.

*

Sie waren alle dick und rund,
Ich aber war nicht ganz gesund,
Ich kam allmählich auf den Hund;
Es war in einem Hafen.

*

In diesem Hafen trank ich viel
Mit großen Welt-Matrosen,
Die spielten Handharmonika
Und mit den tausend Schafen.


Die alte Laube

Ich habe so viel vergessen.
Ich weiß nicht mehr
Woher ich komme.
Ich saß in einer Laube
Von großen grünen Smaragden;
Sie schimmerten wie Glühwurmlicht.
Mehr aber weiß ich nicht.
Es war ganz hinten im Raume
Und fast wie in dem Traume,
Der uns der allerliebste ist.


Kein Gedicht

Ich möchte so gern wie ein Vogel
Durch die Lüfte fliegen.
Ich möchte so gern wie ein Löwe
In der Wüste liegen.
Ich möchte so gern wie ein König
die lange Weile besiegen.
Doch der Glanz der ewigen Sonnen
Begeistert mich heute nicht.
Ich habe Vieles begonnen.
Doch das macht noch kein Gedicht.

Aus der „Katerpoesie“ von Paul Scheerbart, geboren am 8. Januar 1863 in Danzig, gestorben am 15. Oktober 1915 in Berlin. Scheerbarts skurrile Gedichtsammlung Katerpoesie erschien 1909 als eines der ersten Bücher im neu gegründeten Rowohltverlag. Von Walter Mehring stammt die unbewiesene Behauptung, Scheerbart sei an Entkräftung gestorben: Er habe als ein überzeugter Pazifist aus Protest gegen den Ersten Weltkrieg jede Nahrungsaufnahme verweigert.

Freitag, 13. Oktober 2023

Emil Rudolf Weiß: Trübungen

 



Trübungen


Abbild meiner dunklen Seele, tiefverhängter, trüber Teich,
wilde, schwanke Irislilien hüten dich, von Schweigen bleich.

Wie in deiner Tiefe schwebt am Dämmerhimmel unermesslich
Eine Abendwolke, gleich dem Traume, der mir unvergesslich.

Wie die blasse Trauerweide in die kaum bewegte Flut
Taucht den sanftesten der Zweige, der vom Winde müde ruht,

einem alten, irren Wunsche, der verborgen wandert, gleich -
bist du Abbild meiner Seele, tiefverhängter, trüber Teich.

Emil Rudolf Weiß, geboren am 12. Oktober 1875 in Lahr, Baden; gestorben am 7. November 1942 in Meersburg, war Typograf, Medailleur, Grafiker, Maler, Lehrer und Dichter.

Da er sein Augenmerk nicht nur auf alle gestalterischen Aspekte eines Buches richtete – das heißt neben Satz und Schrift auch auf Illustration, Einband- und Umschlaggestaltung –, sondern regelmäßig auch die poetischen Texte selbst beisteuerte, wurden seine Bücher echte Gesamtkunstwerke.

Donnerstag, 12. Oktober 2023

Gerrit Engelke: An die Soldaten des großen Krieges

 



An die Soldaten des großen Krieges

Herauf! aus Gräben, Lehmhöhlen, Betonkellern, Steinbrüchen!
Heraus aus Schlamm und Glut, Kalkstaub und Aasgerüchen!
Herbei! Kameraden! Denn von Front zu Front, von Feld zu Feld
Komme euch allen der neue Feiertag der Welt!
Stahlhelme ab, Mützen, Käppis! und fort die Gewehre!
Genug der blutbadenden Feindschaft und Mordehre!
Euch alle beschwör' ich bei eurer Heimat Weilern und
Städten,
Den furchtbaren Samen des Hasses auszutreten, zu jäten,
Beschwöre euch bei eurer Liebe zur Schwester, zur Mutter, zum Kind,
Die allein euer narbiges Herz noch zum Singen stimmt.
Bei eurer Liebe zur Gattin – auch ich liebe ein Weib!
Bei eurer Liebe zur Mutter – auch mich trug ein Mutterleib!
Bei eurer Liebe zum Kinde – denn ich liebe die Kleinen!
Und die Häuser sind voll von Fluchen, Beten, Weinen!

Lagst du bei Ypern, dem zertrümmerten? Auch ich lag dort.
Bei Mihiel, dem verkümmerten? Ich war an diesem Ort.
Dixmuide, dem umschwemmten? Ich lag vor deiner Stirn,
In Höllenschluchten Verduns, wie du in Rauch und Klirrn,
Mit dir im Schnee vor Dünaburg, frierend, immer trüber,
An der leichenfressenden Somme lag ich dir gegenüber.
Ich lag dir gegenüber überall, doch wusstest du es nicht!
Feind an Feind, Mensch an Mensch und Leib an Leib, warm und dicht.

Ich war Soldat und Mann und Pflichterfüller, so wie du,
Dürstend, schlaflos, krank – auf Marsch und Posten immerzu.
Stündlich vom Tode umstürzt, umschrien, umdampft,
Stündlich an Heimat, Geliebte, Geburtsstadt gekrampft
Wie du und du und ihr alle. –
Reiß auf deinen Rock! Entblöße die Wölbung der Brust!
Ich sehe den Streifschuß von fünfzehn, die schorfige Krust,
Und da an der Stirn vernähten Schlitz vom Sturm bei Tahüre –
Doch daß du nicht denkst, ich heuchle, vergelt' ich mit gleicher Gebühr:
Ich öffne mein Hemd: hier ist noch die vielfarbige Narbe am Arm!
Der Brandstempel der Schlacht! von Sprung und Alarm,
Ein zärtliches Andenken lang nach dem Kriege.
Wie sind wir doch stolz unsrer Wunden! Stolz du der deinigen,
Doch nicht stolzer als ich auch der meinigen.

Du gabst nicht besseres Blut, und nicht rötere Kraft,
Und der gleiche zerhackte Sand trank unsern Saft! –
Zerschlug deinen Bruder der gräßliche Krach der Granate?
Fiel nicht dein Onkel, dein Vetter, dein Pate?
Liegt nicht der bärtige Vater verscharrt in der Kuhle?
Und dein Freund, dein lustiger Freund aus der Schule? –
Hermann und Fritz, meine Vettern, verströmten im Blute,
Und der hilfreiche Freund, der Jüngling, der blonde und gute.
Und zu Hause wartet sein Bett, und im ärmlichen Zimmer
Seit sechzehn, seit siebzehn die gramgraue Mutter noch immer.
Wo ist uns sein Kreuz und sein Grab! –

Franzose du, von Brest, Bordeaux, Garonne,
Ukrainer du, Kosak vom Ural, Dnjestr und Don,
Österreicher, Bulgare, Osmanen und Serben,
Ihr alle im rasenden Strudel von Tat und von Sterben –
Du Brite aus London, York, Manchester,
Soldat, Kamerad, in Wahrheit Mitmensch und Bester –
Amerikaner, aus den volkreichen Staaten der Freiheit:
Wirf ab: Sonderinteresse, Nationaldünkel und Zweiheit!
Warst du ein ehrlicher Feind, wirst du ein ehrlicher Freund.
Hier meine Hand, daß sich nun Hand in Hand zum Kreise binde
Und unser neuer Tag uns echt und menschlich finde.

Die Welt ist für euch alle groß und schön und schön!
Geht her! staunt auf! nach Schlacht und Blutgestöhn:
Wie grüne Meere frei in Horizonte fluten,
Wie Morgen, Abende in reiner Klarheit gluten,
Wie aus den Tälern sich Gebirge heben,
Wie Milliarden Wesen uns umbeben!
O, unser allerhöchstes Glück heißt: Leben! –

O, daß sich Bruder wirklich Bruder wieder nenne!
Daß Ost und West den gleichen Wert erkenne:
Daß wieder Freude in die Völker blitzt:
Und Mensch an Mensch zur Güte sich erhitzt!

Von Front zu Front und Feld zu Feld,
Lasst singen uns den Feiertag der neuen Welt!
Aus aller Brüsten dröhne eine Bebung:
Der Psalm des Friedens, der Versöhnung, der Erhebung!
Und das meerrauschende, dampfende Lied,
Das hinreißende, brüderumarmende,
Das wilde und heilig erbarmende
Der tausendfachen Liebe laut um alle Erden!

Gerrit Engelke, aus: Rhythmus des neuen Europa, Jena 1921

Gerrit Engelke wurde am 21. Oktober 1890 in Hannover geboren. „Gewiß ist Engelke der Dichter des Maschinenzeitalters, doch unter dem Einfluß Whitmans erscheint bei ihm die Arbeitswelt in idealisierter Sicht. . . . Trotz aller Faszination teilte er freilich den unreflektierten Fortschrittsglauben seiner Zeit nicht.“ , heißt es über ihn im Buch „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen - Vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts“ von Hans J. Schütz.

Am 13. Oktober 1918 fiel er an der Westfront, kurz nachdem er einem Freund geschrieben hatte, er wolle über das „vom Krieg befreite, wieder menschlich-brüderlich werdende Völkereuropa der Städte, der Arbeit, des Lebens“ schreiben.

Mittwoch, 11. Oktober 2023

Alfred Kerr: Die Illegalen / Für meine Eltern

 



Die Illegalen

Die Welt erfährt kaum, wie sie heißen.
Sie schweben dahin, dunkel und licht.
Man will den Hut vom Kopfe reißen,
sie tausendmal grüßen - sie sehn es nicht.

Sie schreiten und gleiten; Stürme tosen,
manchen packt es, er lebt nicht mehr.
Doch lebt der Bund der Namenlosen
das unsichtbare Helferheer.

Die Folter droht, die Qual ist bitter,
der Kampf geht weiter unbeirrt.
Sie sind die Heiligen und die Ritter
des Menschenreichs, das kommen wird.

Uns ist die Heimat tief entehrt,
längst hat sich mancher abgekehrt.
Wir sind Verbannte, Leiderkorene

ein Land erstirbt, ein Traum zerstiebt.
Ihr aber seid das Unverlorene,
was wir an Deutschland einst geliebt.


Für meine Eltern

Welcher Wahn dem Erdengast
Auch entdämmert und erblasst –
Eines fühlt man in dem Treiben:
Eltern … bleiben.

Stiller Pol im Lebensbraus.
Leuchten. Übers Grab hinaus.
Minne fällt und Freundschaft fällt,
Wenn die Seelen unsrer Welt 
Sich in Trug und Kampf zerreiben:
Eltern … bleiben.

Welcher Wahn dem Erdengast
Auch entdämmert und erblasst:
Eines starken Engels Hand
Soll es überm Totenland
In die ewigen Sterne schreiben:
Eltern … bleiben.

Alfred Kerr - aus: Liebes Deutschland. Gedichte (Werke in Einzelbänden, Bd 2) Hrsg. Thomas Koebner. Argon, Berlin 1991

Alfred Kerr, geboren am 25. Dezember 1867 in Breslau; gestorben am 12. Oktober 1948 in Hamburg, Schriftsteller, Theaterkritiker und Journalist. Sein Geburtsname war Alfred Kempner, er publizierte aber von Anfang an unter dem Namen Kerr, um nicht mit der (mit ihm nicht verwandten) Dichterin Friederike Kempner in Verbindung gebracht zu werden. 1909 wurde sein Name gemäß Verfügung des Regierungspräsidenten zu Potsdam offiziell in Alfred Kerr geändert.

Er war einer der einflussreichsten deutschen Kritiker in der Zeit vom Naturalismus bis 1933. Er veröffentlichte unter anderem in den Zeitungen und Zeitschriften Breslauer Zeitung, Der Tag, Neue Rundschau, Pan und Berliner Tageblatt. Kerr sah in der Kritik eine eigene Kunstform.

Kerr war am 15. Februar 1933 nach Prag geflohen, dann nach Lugano, wo seine Familie am 4. März eintraf. Dann ging die Familie nach Zürich und nach Paris und schließlich 1935 nach London. Die Tochter Judith Kerr beschrieb später in ihren Büchern Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, Warten bis der Frieden kommt und Eine Art Familientreffen die Flucht aus Deutschland und das Leben im Exil aus der Perspektive eines jungen Mädchens.

Das Bild (Ausschnitt) zeigt Alfred Kerr 1907, porträtiert von Lovis Corinth (1858 - 1925)

Dienstag, 10. Oktober 2023

Hans Schiebelhuth: Reisesegen

 



Reisesegen

Geh gut. Die Götter haben deine Stirn geküsst.
Geh sanft und wisse: alle Lasten schlafen.
Nichts Böses wird die begegnen. Allwegs
Wartet dein eine gnädig schirmende Hand.

Rosen aber und Gold sät wegwärts vor dir das Frührot.
Rastest du, wölbt sich des Mittags tiefblaue Halle
Gern dem Gast. Und sanft, denn mit Sang und Salbe
Belabt der Abend lind den tagmüden Sinn.

Wohne tief im Wunder der fremden Nacht, erlausche
Was dir ein anderer Traumvogel zärtlich verrät.
Leere den Becher ganz und hebe dann wieder
Weiter auf Pfaden ins Licht leichtleicht den Fuß.

Hans Schiebelhuth (* 11. Oktober 1895 in Darmstadt; † 14. Januar 1944 in East Hampton, New York, USA) war ein expressionistischer deutscher Schriftsteller und Übersetzer. Er übersetzte unter anderem sehr früh den amerikanischen Schriftsteller Thomas Wolfe (Schau heimwärts Engel) und sorgte mit seinen Übertragungen dafür, dass Wolfe in Deutschland bekannter war, als in seinem Heimatland. Das Gedicht ist aus seinem Band "Wegstern" von 1921

Das Bild „Vagabund zwischen Blumen“ ist von Hugó Scheiber (1873 - 1950)

Montag, 9. Oktober 2023

Arnold Oppel: Abend der Ile de Paris

 



Abende der Ile de Paris

Gleich Engeln in leuchtenden blauen Gewändern
schreiten die reifen Tage über die Brücken nach Hause,
lehnen ein wenig an den steinernen Rändern,
wo sich die Fluten des Flusses in dumpfem Gebrause
unter den dämmernden Bögen verändern.

Und dann fliegen sie, silbern die Flügel schlagend,
auf in die sternigen Weiten, zu Gott zurück …
Ach, sie lassen dir eine Nacht ohne Glück!
Nacht der Menschen, aus trotzigen Türmen ragend
Nacht der Erde, da Schrecken und Schauer sich schart.
Wohl schaust ihnen du nach, in das Dunkel fragend,
aber verlassen und fast verzagend
wie die Jünger der Himmelfahrt.

Aus: Gedichte. Carl Troemers Universitäts-Buchhandlung, Freiburg 1912.

Arnold Oppel, geboren 1887, gefallen im Oktober 1916 in der Schlacht an der Somme.

Sonntag, 8. Oktober 2023

Isidor Quartner: Große Träume wiegen mich. . .

 


Große Träume wiegen mich. . .

Wälder, deren Bäume lange Bärte tragen,
Wälder, in denen nachts unzählige Kerzen brennen,
Irgendwo in euern Kronen lieg ich in einer Wiege.

Meere, deren Wogen in den Wolken lachen,
Meere zu deren Grund nachts sterbende Sterne sinken,
Irgendwo in euern Tälern lieg ich wie in einer Wiege.

Immer flüstert euer ewiges Atemholen in meine Ohren,
Immer trägt mich euer sanfter Gesang in den Schlaf.
Wälder und Meere, irgendwo in euch lieg ich wie in einer Wiege.

Isidor Quartner (geboren 1891, „gefallen“ im September 1915), aus Der Sturm, Jahrgang 7, Nummer 3, 15. Juni 1916

Das Bild ist von Jézef Pankiewicz (1866 - 1940)

Samstag, 7. Oktober 2023

Alfons Paquet: Herbstmorgen auf der Reichenau

 


Herbstmorgen auf der Reichenau

Liegt selig, die glückliche Insel
wie ein großes Schiff
im Glanz des Wassers.
Netze trocknen am See
auf den Uferpfaden.
Die Fahnen des Schilfgestrüpps
vor dem Ausblick auf die Landschaft,
und das Wasser, das weiß glänzt,
vom Spiel der Fische gekräuselt.

Alfons Paquet, geboren am 26. Januar 1881 in Wiesbaden; gestorben am 8. Februar 1944 in Frankfurt am Main war Journalist, (Reise-)Schriftsteller, Konservativer, überzeugter Pazifist und seit 1933 Quäker. Er wurde 1935 von den Nationalsozialisten als „Kommunist“ verhaftet, kam aber frei und konnte sich ein einkommen als Journalist und Reiseschriftsteller sichern. Er verzichtete auf Emigration, obwohl viele seiner Bücher verboten und verbrannt wurden. Am 8. 2. 1944 starb er während eines Bombenangriffes an einem Herzinfarkt im Keller seines Wohnhauses.

Das Bild von der Insel Reichenau ist von Georg Röder (1867 - 1958)

Freitag, 6. Oktober 2023

Arthur Ernst Rutra: Schwere des Abends / Und Gottes Schweigen / Die Toten

 



Schwere des Abends

Schwere des Abends,
niederschwebend zur Welt,
Endliches erlösend,
das umfangen hält.

Abgeschieden Mensch;
einsamer Führer mächtigen Heers,
trunkener Büßer im Traum -
schwer wie ein Stein am Grunde des Meers.


Und Gottes Schweigen


Und Gottes Schweigen wuchs aus diesem Baum -
und überwuchs und brandete
an den unendlichen Saum.
Und irgendwo, eingeengt
zwischen Wachen und Traum,
landete
mein Erinnern, wie Blei sich senkt.

Arthur Ernst Rutra, aus der Gedichtfolge Einsamkeit in: Das Landhaus, Eine literarische Monatsschrift, herausgegeben von Toni Schwabe, Fünfter Jahrgang / Erstes Heft; Jena, Januar 1920


Die Toten

Ach, sie sind
wie blasse Gedanken,
hingeträumt in irrende Welt -
letzten Geschehens blind
hintastendes Schwanken,
das müde in eigene Schwere fällt.

Und wir sind
ein letztes Verweilen,
ein Ruhen an Grenzen,
wenn Leben beginnt -
sind Wunden, die schmerzlos verheilen,
Sterne, die morgens verglänzen.

Arthur Ernst Rutra, aus: Einsamer Weg, Gedichte, Verlag Dr. Werner, Wien 1937

Arthur Ernst Rutra, geboren am 18. 9. 1892 in Wien, war Schriftsteller, Lektor und Übersetzer. Er wurde 1918 Lektor im Georg Müller Verlag, später Mitarbeiter an verschiedenen Münchner Verlagen. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten emigrierte Rutra nach Österreich, nach dem Anschluss Österreichs 1938 wurde er verhaftet und befand sich ab dem 2. April 1938 im KZ Dachau, ab dem 9. Oktober 1939 in Buchenwald. 1941 wurde er vom Volksgerichtshof zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Am 5. Oktober 1942 wurde er durch die Gestapo Wien nach Minsk verschleppt, wo er am 9. Oktober 1942 im nahegelegenen Vernichtungslager Maly Trostinez ermordet wurde.

Das Bild zeigt Arthur Ernst Rutra in einer Aufnahme vor 1928 von Edmund (Eduard) Wasow (1879–1944)

Donnerstag, 5. Oktober 2023

Ilse Weber: Der Abend / Wiegala / Vor dem Einschlafen / Abschied

 



Der Abend

Wenn wir am Abend von der Arbeit gehn,
lockt uns kein Heim mit buntem Lampenschimmer.
Wir bleiben zögernd auf den Gängen stehn,
weil es uns graut vor unsrem dunklen Zimmer.

Man nahm uns jetzt zur Strafe noch das Licht,
denn irgendwer hat irgendwas verbrochen.
Was eigentlich, erfährt das Lager nicht.
Nun hausen wir im Dunklen schon seit Wochen.

So steht man denn in dem Arkadengang
und schaut zum Himmel auf in all die Sterne.
Die Abende sind jetzt so schön und lang,
und voller Stimmen ist noch die Kaserne.

Es ist, als lernten wir erst jetzt verstehn,
wie wunderbar die gold'nen Sterne scheinen.
Und überhaupt, man sollte schlafen gehn,
dann müßte man nicht jeden Abend weinen.


Wiegala

Wiegala, wiegala, weier,
Der Wind spielt auf der Leier.
Er spielt so süß im grünen Ried,
die Nachtigall, die singt ihr Lied.
Wiegala, wiegala, weier,
der Wind spielt auf der Leier.

Wiegala, wiegala werne,
Der Mond ist die Laterne,
er steht am dunklen Himmelszelt
und schaut hernieder auf die Welt.
Wiegala, wiegala, werne,
der Mond ist die Laterne.

Wiegala, wiegala, wille,
wie ist die Welt so stille.
Es stört kein Laut die süße Ruh
schlaf, mein Kindchen, schlaf auch du
Wiegala, wiegala, wille,
wie ist die Welt so stille.


Vor dem Einschlafen

Schlaf, mein kleiner Struwwelpeter,
fünfundsiebzig Zentimeter
Platz teil ich mit dir.
Über unserer Kaserne
stehen längst schon Mond und Sterne
denn die gibt's noch hier.

Stoß mich nicht mit deinen Beinchen,
träume von daheim, mein Kleinchen,
träum von deinem Bett.
Weiß war es, mit grünem Gitter,
und es hatte keine Splitter
wie das Kavallett.

Wo du jetzt wohl weilst im Traume?
Dreißig sind wir hier im Raume.
Das ist bißchen viel.
Über uns die Betten krachen,
unten die zwei Mädel lachen
und die Luft ist schwül.

Gute Nacht! Und rück ein bißchen,
so, jetzt kriegst du noch ein Küßchen,
kleiner Übermut!
Dunkle Nacht wird bald vergehen,
Sonne hell am Himmel stehen,
dann wird alles gut.


Abschied

Eines Tages ist alles zu Ende,
jeder Kummer und jedes Weh.
Dann reichen wir uns die Hände
und sagen einander Ade.

Dann öffnet sich uns die Pforte,
wir gehen ins Leben zurück,
wir scheiden ohne Worte
und tauchen nur Blick in Blick.

Wir sind nicht länger gefangen,
und freundlicher winkt das Geschick.
Doch mit dem Leid, das vergangen,
vergeht unsrer Freundschaft Glück.

Ich kann deine Hand nicht mehr fassen,
die Mut mir oft gab und Ruh,
denn auf verschiedenen Gassen
gehn wir der Zukunft zu.

Beim letzten Druck der Hände
versagt mir jedes Wort.
Ja, jedes Leid ist zu Ende -
aber du, aber du bist fort.

Ilse Weber, geborene Herlinger, wurde am 11. Januar 1903 in Witkowitz, Österreich-Ungarn; sie wurde am 6. Oktober 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet. Aus: In deinen Mauern wohnt das Leid - Gedichte aus dem KZ Theresienstadt, Bleicher-Verlag, Gerlingen 1991

Als Ilse Herlinger schrieb sie mit 14 Jahren erste Kindermärchen und kleine Theaterstücke für Kinder. Diese wurden in verschiedenen deutsprachigen Zeitschriften veröffentlicht. 1930 heiratete sie Willi Weber. Am 6. Februar 1942 wurde sie von Prag in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort arbeitete sie als Krankenschwester in der Kinderkrankenstube.

Im Lager entstanden weitere Gedichte. Bekannt wurde ihr Lied, „Ich wandre durch Theresienstadt“. das Ilse Weber für ihren Sohn Hanuš geschrieben hat, „den sie vor Ausbruch des Krieges in Prag in einen Zug gesetzt hatte, in der Hoffnung, ihn eines Tages wiederzusehen“. Er wurde mit in Prag organisierten Kindertransporten nach England verschickt und entkam der Vernichtung. Seine Mutter und sein Bruder Tomas („Tommy“, geboren 1934) wurden am 6. Oktober 1944 im KZ Auschwitz ermordet. Beim Gang in die Gaskammer soll Weber für ihren Sohn und die anderen Kinder das von ihr komponierte Schlaflied Wiegala gesungen haben.

Mittwoch, 4. Oktober 2023

Gustav Sack: Herbst

 



Herbst

Die Schwalben sammeln lärmend ihre Züge
und stieben von den Telegraphendrähten,
als ob der Herbst mit Daunenkissen schlüge
und wirbelnd aus den aufgeplatzten Nähten
die weiße Wolle in den Himmel würfe.

Dann fliegen sie in ferne Palmenländer –
und eine Krankheit wird die Welt befallen,
bis über ihre purpurnen Gewänder
die hohlen Winde aufeinander prallen
und lange Nächte durch unsinnig wüten.

Und hangend wie in ungeheuren Schächten,
wirst du mit weiten Augen lauschend liegen
in diesen lauten windewilden Nächten;
kein Arm wird sich um deine Schulter schmiegen,
und dir wird sein, als ob dein Herz zerfiele.

Gustav Sack Aus der Sammlung Die drei Reiter, Gedichte 1913 bis 1914, Gesammelte Werke Band 2, S. Fischer Verlag, Berlin 1920

Gustav Sack, geboren am 28. Oktober 1885 in Schermbeck; „gefallen“ am 5. Dezember 1916 bei Finta Mare, Rumänien), Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker.

Das Bild ist ein Frühwerk von Piet Mondrian (1872 - 1944)

Dienstag, 3. Oktober 2023

Victor Hadwiger: Nächte

 



Nächte


Es ist wie Atem dunkelblauer Nächte,
Wie Raunen toter Büßerlitaneien,
Als wie durch Gottes rächende Rechte
Untergegangen sein.

Ein großes Friedensfest, wo Tote wohnen,
Ein weites Sich-die-Hände-reichen,
Und um die Stirnen stiller Schläfer schleichen
Die Träume, Pagen unbekannter Kronen.

Das sind die Nächte, die mich laben werden,
Ich will mit ihrer Maske, die ich trage,
Unter der Schwelle großer Tage
Begraben werden.

Victor Hadwiger (1878 - 1911), aus: Die Aktion, 10. Januar 1914. Das Bild ist von William Degouve de Nuncques (1857 - 1935)

Montag, 2. Oktober 2023

Anselm Ruest: Herbstmorgen

 



Herbstmorgen

Aus fröstelnder Umklammrung Nebelnacht
Rollt sich die Flur zum kühlen Morgenlichte;
Grün schimmert unter´m Reif nur noch die Fichte,
Indes der Laubwald wie verhext erwacht.

Und wie aus Dämpfen aufsteigt Pracht um Pracht,
Erstaunt sich starrend in ihr Fremdgesichte -
Schmiegt sich´s getrost zu neuem Farbgedichte,
Das schon versöhnt dem grellen Tage lacht.
Ob tollster Mut gebar so wirre Träume?
Sind´s kranke Wünsche, deren Farben blassten?
Ein trunkner Aether - raschelnd welk in Kränze

Doch sicher ist´s ein Tod, als ging´s zu Tänzen!:
So soll auch meine Seele dumpf nicht rasten
Webt einst die Nacht ihr Flughemd durch die Räume. . .

Anselm Ruest (1878 - 1943)

Aus: Die Aktion - Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst; Sondernummer „Lyrische Anthologie“, 1913

Das Bild „Herbst“ ist von Leon Spilliaert (1881 – 1946)

Sonntag, 1. Oktober 2023

Victor Wittner: Herbstliches Lied

 



Herbstliches Lied

Diese Stunde kommt erwartet:
Sommer, durchliebt zum Herbst zu zweit,
Neigt doppelt und schwer. Die geistliche Zeit
Feiert, noch grün umgartet.

Geliebt einander, jetzt sterben leicht
Die wilden Tiere. Zum Erinnern
Blüht, die Lust der Welt im Innern,
Letzte Rose neben müdem Zweig.

Liebe diese beiden! Blume
Und Frucht, am dunklen End'.
Sanftmütige Freundin, welche sie kennt,
Belaubt noch den Tod, geht ein zum Ruhme.

Victor Wittner, aus: „Der Sprung auf die Straße - Gedichte“, Verlag Die Schmiede, Berlin 1924

Wittner, Victor, geboren am 1. 3. 1896 in Herta, Rumänien, gestorben am 27. 10. 1949 in Wien, Schriftsteller und Lyriker.

Wittner arbeitete ab 1928 als Redakteur und von Januar 1930 bis Mai 1933 als Chefredakteur der in Berlin herausgegebenen Kulturzeitschrift „Der Querschnitt. Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte“. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 ging er zurück nach Wien, wo er aus Armut häufig die Wohnung wechseln musste. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 floh er nach Prag und dann in die Schweiz. Er wurde zunächst interniert und lebte dann in Flüchtlingsunterkünften in Zürich. Er erhielt in der Schweiz erst 1945 eine Arbeitserlaubnis. Ab 1947 hielt er sich zeitweise auch wieder in Wien auf.

Das Bild ist von Ernest Biéler (1863 – 1948)