Der Abend
Wenn wir am Abend von der Arbeit gehn,
lockt uns kein Heim mit buntem Lampenschimmer.
Wir bleiben zögernd auf den Gängen stehn,
weil es uns graut vor unsrem dunklen Zimmer.
Man nahm uns jetzt zur Strafe noch das Licht,
denn irgendwer hat irgendwas verbrochen.
Was eigentlich, erfährt das Lager nicht.
Nun hausen wir im Dunklen schon seit Wochen.
So steht man denn in dem Arkadengang
und schaut zum Himmel auf in all die Sterne.
Die Abende sind jetzt so schön und lang,
und voller Stimmen ist noch die Kaserne.
Es ist, als lernten wir erst jetzt verstehn,
wie wunderbar die gold'nen Sterne scheinen.
Und überhaupt, man sollte schlafen gehn,
dann müßte man nicht jeden Abend weinen.
Wiegala
Wiegala, wiegala, weier,
Der Wind spielt auf der Leier.
Er spielt so süß im grünen Ried,
die Nachtigall, die singt ihr Lied.
Wiegala, wiegala, weier,
der Wind spielt auf der Leier.
Wiegala, wiegala werne,
Der Mond ist die Laterne,
er steht am dunklen Himmelszelt
und schaut hernieder auf die Welt.
Wiegala, wiegala, werne,
der Mond ist die Laterne.
Wiegala, wiegala, wille,
wie ist die Welt so stille.
Es stört kein Laut die süße Ruh
schlaf, mein Kindchen, schlaf auch du
Wiegala, wiegala, wille,
wie ist die Welt so stille.
Vor dem Einschlafen
Schlaf, mein kleiner Struwwelpeter,
fünfundsiebzig Zentimeter
Platz teil ich mit dir.
Über unserer Kaserne
stehen längst schon Mond und Sterne
denn die gibt's noch hier.
Stoß mich nicht mit deinen Beinchen,
träume von daheim, mein Kleinchen,
träum von deinem Bett.
Weiß war es, mit grünem Gitter,
und es hatte keine Splitter
wie das Kavallett.
Wo du jetzt wohl weilst im Traume?
Dreißig sind wir hier im Raume.
Das ist bißchen viel.
Über uns die Betten krachen,
unten die zwei Mädel lachen
und die Luft ist schwül.
Gute Nacht! Und rück ein bißchen,
so, jetzt kriegst du noch ein Küßchen,
kleiner Übermut!
Dunkle Nacht wird bald vergehen,
Sonne hell am Himmel stehen,
dann wird alles gut.
Abschied
Eines Tages ist alles zu Ende,
jeder Kummer und jedes Weh.
Dann reichen wir uns die Hände
und sagen einander Ade.
Dann öffnet sich uns die Pforte,
wir gehen ins Leben zurück,
wir scheiden ohne Worte
und tauchen nur Blick in Blick.
Wir sind nicht länger gefangen,
und freundlicher winkt das Geschick.
Doch mit dem Leid, das vergangen,
vergeht unsrer Freundschaft Glück.
Ich kann deine Hand nicht mehr fassen,
die Mut mir oft gab und Ruh,
denn auf verschiedenen Gassen
gehn wir der Zukunft zu.
Beim letzten Druck der Hände
versagt mir jedes Wort.
Ja, jedes Leid ist zu Ende -
aber du, aber du bist fort.
Ilse Weber, geborene Herlinger, wurde am 11. Januar 1903 in Witkowitz, Österreich-Ungarn; sie wurde am 6. Oktober 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet. Aus: In deinen Mauern wohnt das Leid - Gedichte aus dem KZ Theresienstadt, Bleicher-Verlag, Gerlingen 1991
Als Ilse Herlinger schrieb sie mit 14 Jahren erste Kindermärchen und kleine Theaterstücke für Kinder. Diese wurden in verschiedenen deutsprachigen Zeitschriften veröffentlicht. 1930 heiratete sie Willi Weber. Am 6. Februar 1942 wurde sie von Prag in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort arbeitete sie als Krankenschwester in der Kinderkrankenstube.
Im Lager entstanden weitere Gedichte. Bekannt wurde ihr Lied, „Ich wandre durch Theresienstadt“. das Ilse Weber für ihren Sohn Hanuš geschrieben hat, „den sie vor Ausbruch des Krieges in Prag in einen Zug gesetzt hatte, in der Hoffnung, ihn eines Tages wiederzusehen“. Er wurde mit in Prag organisierten Kindertransporten nach England verschickt und entkam der Vernichtung. Seine Mutter und sein Bruder Tomas („Tommy“, geboren 1934) wurden am 6. Oktober 1944 im KZ Auschwitz ermordet. Beim Gang in die Gaskammer soll Weber für ihren Sohn und die anderen Kinder das von ihr komponierte Schlaflied Wiegala gesungen haben.
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