Mittwoch, 11. Oktober 2023

Alfred Kerr: Die Illegalen / Für meine Eltern

 



Die Illegalen

Die Welt erfährt kaum, wie sie heißen.
Sie schweben dahin, dunkel und licht.
Man will den Hut vom Kopfe reißen,
sie tausendmal grüßen - sie sehn es nicht.

Sie schreiten und gleiten; Stürme tosen,
manchen packt es, er lebt nicht mehr.
Doch lebt der Bund der Namenlosen
das unsichtbare Helferheer.

Die Folter droht, die Qual ist bitter,
der Kampf geht weiter unbeirrt.
Sie sind die Heiligen und die Ritter
des Menschenreichs, das kommen wird.

Uns ist die Heimat tief entehrt,
längst hat sich mancher abgekehrt.
Wir sind Verbannte, Leiderkorene

ein Land erstirbt, ein Traum zerstiebt.
Ihr aber seid das Unverlorene,
was wir an Deutschland einst geliebt.


Für meine Eltern

Welcher Wahn dem Erdengast
Auch entdämmert und erblasst –
Eines fühlt man in dem Treiben:
Eltern … bleiben.

Stiller Pol im Lebensbraus.
Leuchten. Übers Grab hinaus.
Minne fällt und Freundschaft fällt,
Wenn die Seelen unsrer Welt 
Sich in Trug und Kampf zerreiben:
Eltern … bleiben.

Welcher Wahn dem Erdengast
Auch entdämmert und erblasst:
Eines starken Engels Hand
Soll es überm Totenland
In die ewigen Sterne schreiben:
Eltern … bleiben.

Alfred Kerr - aus: Liebes Deutschland. Gedichte (Werke in Einzelbänden, Bd 2) Hrsg. Thomas Koebner. Argon, Berlin 1991

Alfred Kerr, geboren am 25. Dezember 1867 in Breslau; gestorben am 12. Oktober 1948 in Hamburg, Schriftsteller, Theaterkritiker und Journalist. Sein Geburtsname war Alfred Kempner, er publizierte aber von Anfang an unter dem Namen Kerr, um nicht mit der (mit ihm nicht verwandten) Dichterin Friederike Kempner in Verbindung gebracht zu werden. 1909 wurde sein Name gemäß Verfügung des Regierungspräsidenten zu Potsdam offiziell in Alfred Kerr geändert.

Er war einer der einflussreichsten deutschen Kritiker in der Zeit vom Naturalismus bis 1933. Er veröffentlichte unter anderem in den Zeitungen und Zeitschriften Breslauer Zeitung, Der Tag, Neue Rundschau, Pan und Berliner Tageblatt. Kerr sah in der Kritik eine eigene Kunstform.

Kerr war am 15. Februar 1933 nach Prag geflohen, dann nach Lugano, wo seine Familie am 4. März eintraf. Dann ging die Familie nach Zürich und nach Paris und schließlich 1935 nach London. Die Tochter Judith Kerr beschrieb später in ihren Büchern Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, Warten bis der Frieden kommt und Eine Art Familientreffen die Flucht aus Deutschland und das Leben im Exil aus der Perspektive eines jungen Mädchens.

Das Bild (Ausschnitt) zeigt Alfred Kerr 1907, porträtiert von Lovis Corinth (1858 - 1925)

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