Donnerstag, 12. Oktober 2023

Gerrit Engelke: An die Soldaten des großen Krieges

 



An die Soldaten des großen Krieges

Herauf! aus Gräben, Lehmhöhlen, Betonkellern, Steinbrüchen!
Heraus aus Schlamm und Glut, Kalkstaub und Aasgerüchen!
Herbei! Kameraden! Denn von Front zu Front, von Feld zu Feld
Komme euch allen der neue Feiertag der Welt!
Stahlhelme ab, Mützen, Käppis! und fort die Gewehre!
Genug der blutbadenden Feindschaft und Mordehre!
Euch alle beschwör' ich bei eurer Heimat Weilern und
Städten,
Den furchtbaren Samen des Hasses auszutreten, zu jäten,
Beschwöre euch bei eurer Liebe zur Schwester, zur Mutter, zum Kind,
Die allein euer narbiges Herz noch zum Singen stimmt.
Bei eurer Liebe zur Gattin – auch ich liebe ein Weib!
Bei eurer Liebe zur Mutter – auch mich trug ein Mutterleib!
Bei eurer Liebe zum Kinde – denn ich liebe die Kleinen!
Und die Häuser sind voll von Fluchen, Beten, Weinen!

Lagst du bei Ypern, dem zertrümmerten? Auch ich lag dort.
Bei Mihiel, dem verkümmerten? Ich war an diesem Ort.
Dixmuide, dem umschwemmten? Ich lag vor deiner Stirn,
In Höllenschluchten Verduns, wie du in Rauch und Klirrn,
Mit dir im Schnee vor Dünaburg, frierend, immer trüber,
An der leichenfressenden Somme lag ich dir gegenüber.
Ich lag dir gegenüber überall, doch wusstest du es nicht!
Feind an Feind, Mensch an Mensch und Leib an Leib, warm und dicht.

Ich war Soldat und Mann und Pflichterfüller, so wie du,
Dürstend, schlaflos, krank – auf Marsch und Posten immerzu.
Stündlich vom Tode umstürzt, umschrien, umdampft,
Stündlich an Heimat, Geliebte, Geburtsstadt gekrampft
Wie du und du und ihr alle. –
Reiß auf deinen Rock! Entblöße die Wölbung der Brust!
Ich sehe den Streifschuß von fünfzehn, die schorfige Krust,
Und da an der Stirn vernähten Schlitz vom Sturm bei Tahüre –
Doch daß du nicht denkst, ich heuchle, vergelt' ich mit gleicher Gebühr:
Ich öffne mein Hemd: hier ist noch die vielfarbige Narbe am Arm!
Der Brandstempel der Schlacht! von Sprung und Alarm,
Ein zärtliches Andenken lang nach dem Kriege.
Wie sind wir doch stolz unsrer Wunden! Stolz du der deinigen,
Doch nicht stolzer als ich auch der meinigen.

Du gabst nicht besseres Blut, und nicht rötere Kraft,
Und der gleiche zerhackte Sand trank unsern Saft! –
Zerschlug deinen Bruder der gräßliche Krach der Granate?
Fiel nicht dein Onkel, dein Vetter, dein Pate?
Liegt nicht der bärtige Vater verscharrt in der Kuhle?
Und dein Freund, dein lustiger Freund aus der Schule? –
Hermann und Fritz, meine Vettern, verströmten im Blute,
Und der hilfreiche Freund, der Jüngling, der blonde und gute.
Und zu Hause wartet sein Bett, und im ärmlichen Zimmer
Seit sechzehn, seit siebzehn die gramgraue Mutter noch immer.
Wo ist uns sein Kreuz und sein Grab! –

Franzose du, von Brest, Bordeaux, Garonne,
Ukrainer du, Kosak vom Ural, Dnjestr und Don,
Österreicher, Bulgare, Osmanen und Serben,
Ihr alle im rasenden Strudel von Tat und von Sterben –
Du Brite aus London, York, Manchester,
Soldat, Kamerad, in Wahrheit Mitmensch und Bester –
Amerikaner, aus den volkreichen Staaten der Freiheit:
Wirf ab: Sonderinteresse, Nationaldünkel und Zweiheit!
Warst du ein ehrlicher Feind, wirst du ein ehrlicher Freund.
Hier meine Hand, daß sich nun Hand in Hand zum Kreise binde
Und unser neuer Tag uns echt und menschlich finde.

Die Welt ist für euch alle groß und schön und schön!
Geht her! staunt auf! nach Schlacht und Blutgestöhn:
Wie grüne Meere frei in Horizonte fluten,
Wie Morgen, Abende in reiner Klarheit gluten,
Wie aus den Tälern sich Gebirge heben,
Wie Milliarden Wesen uns umbeben!
O, unser allerhöchstes Glück heißt: Leben! –

O, daß sich Bruder wirklich Bruder wieder nenne!
Daß Ost und West den gleichen Wert erkenne:
Daß wieder Freude in die Völker blitzt:
Und Mensch an Mensch zur Güte sich erhitzt!

Von Front zu Front und Feld zu Feld,
Lasst singen uns den Feiertag der neuen Welt!
Aus aller Brüsten dröhne eine Bebung:
Der Psalm des Friedens, der Versöhnung, der Erhebung!
Und das meerrauschende, dampfende Lied,
Das hinreißende, brüderumarmende,
Das wilde und heilig erbarmende
Der tausendfachen Liebe laut um alle Erden!

Gerrit Engelke, aus: Rhythmus des neuen Europa, Jena 1921

Gerrit Engelke wurde am 21. Oktober 1890 in Hannover geboren. „Gewiß ist Engelke der Dichter des Maschinenzeitalters, doch unter dem Einfluß Whitmans erscheint bei ihm die Arbeitswelt in idealisierter Sicht. . . . Trotz aller Faszination teilte er freilich den unreflektierten Fortschrittsglauben seiner Zeit nicht.“ , heißt es über ihn im Buch „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen - Vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts“ von Hans J. Schütz.

Am 13. Oktober 1918 fiel er an der Westfront, kurz nachdem er einem Freund geschrieben hatte, er wolle über das „vom Krieg befreite, wieder menschlich-brüderlich werdende Völkereuropa der Städte, der Arbeit, des Lebens“ schreiben.

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