Montag, 29. April 2019

Maria Janitschek: Mädchenfrage



Mädchenfrage

Als Kind hab ich oft geweint,
wußt nicht, warum,
nun muß ich oft heimlich lachen,
weiß nicht warum.

Es greift in meine Saiten
eine rätselhafte Hand,
ein Fremdes will mich leiten
in ein unbekanntes Land.

Seltsam wunderliche Gedanken,
die mein Wort nicht nennen kann,
baun um mich purpurne Schranken
und halten mich in Zauber und Bann.

Ich fasse dich nicht o Leben,
weiß nicht, wer wir beide sind,
weiß nicht, wohin wir streben,
wo ich mein Ziel wohl find.

Als Kind hab ich oft geweint
wußt nicht, warum ...
nun muß ich oft heimlich lachen,
weiß nicht, warum.

Maria Janitschek (1859 - 1927) Die Farbstiftzeichnung ist von der 2017 verstorbenen Fredellsoher Künstlerin Andrea Rausch

Sonntag, 28. April 2019

Maria Janitschek: Ein modernes Weib



Ein modernes Weib

Ein Mann beleidigte ein Weib. Es war
Von jenen schnöden Thaten eine, die
Kein Weib vergessen und vergeben kann.

Geraume Zeit verstrich. Da eines Abends
Ward an die Thür des Frevlers laut gepocht.
Er rief: "Herein", und sah voll tiefen Staunens,
In Trauerkleidern eine Frau vor sich.

Sie schlug den Schleier bald zurück. Er blickte
In ihre großen stolzerstarrten Augen,
In diese großen schmerzversengten Augen ...
Er lächelte verlegen, denn ein Schauer
Erfaßte ihn ... Er bot ihr höflich Platz,
Sie aber dankte, und mit ruhiger Stimme
Sprach sie zu ihm: "Du hast mich schwer beleidigt,
Es war nur Gott dabei ... vor diesem Gott,
Vor dir, und mir allein, will ich den Flecken
Den Makel meiner Ehre, zugefügt
Von deiner Hand, verlöschen.
Höre nun!
Um dies zu thun, bleibt mir ein Mittel nur:
Ich kann nicht gehn, um einem fremden Menschen
Das was ich selbst mir kaum zu sagen wage,
Zu offenbaren. Für mich herrscht kein Richter,
Er wär' denn blind und taub und stumm, deshalb
(Ein Schildern des Vergangenen glich' aufs Haar
Der neuen That, hieß' selber mich entehren),
Deshalb gibt's eins nur: hier sind Waffen, wähle!"
Sie stellte auf den Tisch ein Kästchen hin
Und öffnete den Deckel. - -
Lange standen
Die beiden Menschen stumm. Er sah sie an,
Sie hielt das glänzend große Aug' gerichtet
Fest auf die Waffen.
Plötzlich brach er aus
In lautes Lachen. Da durchglühte feurig
Ein tiefes Rot die farbenlosen Wangen
Der jungen Frau. Wie, wenn die ganze Antwort
Dies Lachen wär'? Sie hätte schreien mögen

Vor Wut und Elend. Aber sie bezwang sich,
Und sagte mild: "Wenn dir ein Unvorsichtiger
Zufällig auf den Fuß getreten wäre,
Du würdest ohne lange Ueberlegung
Ihm deine Karte in das Antlitz schleudern,
Nichts Lächerliches fändest du dabei.
Nun denk': nicht auf den Fuß trat mir ein Mensch,
Mein Herz trat er in Stücke, meine Ehre!
Verlang' ich mehr, als du verlangen würdest
Für einen unvorsichtigen Schritt, sag' selbst,
Ist das nicht billig?"

Lächelnd sah er ihr
Ins zornerglühte Antlitz. "Liebes Kind,
Du scheinst es zu vergessen, daß ein Weib
Sich nimmer schlagen kann mit einem Manne.
Entweder geh zum Richter, liebes Kind,
Gesteh ihm alles, gerne unterwerfe
Ich seinem Urteil mich. Nicht? Nun dann bleibt
Dir nur das eine noch: vergesse, was du
Beleidigung und Schmach nennst. Siehst du, Liebe,
Das Weib ist da zum Dulden und Vergeben ..."
Jetzt lachte sie.
"Entweder Selbstentehrung
Wenn nicht, ein ruhiges Tragen seiner Schmach,
Und das, das ist die Antwort, die ein Mann
In unserer hellen Zeit zu geben wagt
Der Frau, die er beleidigt."
"Eine andere
Wär' gegen den Brauch."
"So wisse, daß das Weib
Gewachsen ist im neunzehnten Jahrhundert,"
Sprach sie mit großem Aug', und schoß ihn nieder.


Am 28. April 1927 starb im München die 1859 geborene Dichterin Maria Janitschek,
In ihrem ersten Gedichtband 1889 „Irdische und unirdische Träume“ befand sich auch das Gedicht „Ein modernes Weib“, welches seinerzeit als skandalös empfunden wurde und heftige Kritik auslöste.

Dienstag, 9. April 2019

Dietrich Bonhoeffer, aus: Nächtliche Stunden




Aus: Nächtliche Stunden

Langgestreckt auf meiner Pritsche
starre ich auf die graue Wand.
Draußen geht ein Sommerabend,
der mich nicht kennt,
singend ins Land.
Leise verebben die Fluten des Tages
an ewigem Strand.
Schlafe ein wenig!
Stärk Leib und Seele, Kopf und Hand!
Draußen stehen Völker, Häuser, Geister und Herzen in Brand.
Bis nach blutroter Nacht
dein Tag anbricht -
halte stand!

Nacht und Stille.
Ich horche.
Nur Schritte und Rufe der Wachen,
eines Liebespaares fernes, verstecktes Lachen.
Hörst du sonst nichts, fauler Schläfer?
Ich höre der eigenen Seele Zittern und Schwanken.
Sonst nichts?
Ich höre, ich höre,
wie Stimmen, wie Rufe,
wie Schreie nach rettenden Planken,
der wachenden, träumenden Leidensgefährten
nächtlich stumme Gedanken.
Ich höre unruhiges Knarren der Betten,
ich höre Ketten.

Ich höre, wie Männer sich schlaflos werfen und dehnen,
die sich nach Freiheit und zornigen Tate sehnen.
Wenn der Schlaf sie heimsucht im Morgengrauen,
murmeln sie träumend von Kindern und Frauen.
Ich höre glückliches Lispeln halbwüchsiger Knaben,
die sich an kindlichen Träumen laben.
Ich höre sie zerren an ihren Decken
und sich vor gräßlichem Albtraum verstecken.

Ich höre Seufzen und schwaches Atmen der Greise,
die sich im Stillen bereiten zur großen Reise.
Sie sahn Recht und Unrecht kommen und gehn,
nun wollen sie Unvergängliches, Ewiges sehn.


Geschrieben im Gefängnis Tegel, 1944

Aus „An den Wind geschrieben - Lyrik der Freiheit 1933 – 1945“, herausgegeben von Manfred Schlösser und Hans-Rolf Ropertz; Schriftenreihe Agora, zweite Auflage,

Darmstadt 1961

Dietrich Bonhoeffer, geboren am 4. Februar 1906 in Breslau; wurde am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet.

Montag, 8. April 2019

Alfred Mombert: Alles ist hier. . .



Den Dichter seh' ich wandeln in der Mondnacht,
und hör' ihn flüstern unter den hohen Bäumen -
so süß! so süß!

Denn das ist Alles Dichtung,
womit ein Mensch sich seine Schmerzen lindert.


Alles ist hier.
Hier sind Berge, sind ziehende Wolken.
Viele Seen, weite Frucht-Ebenen.

Alles ist hier.
Wälder, Wald-Wiesen, liebliche Weiden.
Thäler voll Vogelsang.

Und hier steht mein Zelt:
Bei einem klaren Brunnen
rein erbaut aus Element:
Aus Äther, Meer, aus Licht;
aus Geist des Menschen.
Da wehen die Winde.
Veilchen und Tulpen beblühen seinen Strand.

Drinnen sitze ich nachts.
Dann ruht die Mond-Sichel
silbernfromm auf meiner Schulter.
Bei mir sitzt die himmlische Tänzerin.
Vollendet ist die Zeit in meinem Herzen.
Draußen ist der Gesang aller Sänger der Welt.


Aus: Alfred Mombert, „Der himmlische Zecher“, Insel Verlag, Leipzig, 1922

Alfred Mombert, geboren am 6. Februar 1872 in Karlsruhe; gestorben am 8. April 1942 in Winterthur. 1934 wurden seine Werke von den Nationalsozialisten in Deutschland verboten. Im Oktober 1940 wurde er in das Lager Camp de Gurs in Südfrankreich deportiert, wo er bis April 1941 interniert war. Im Oktober 1941 durfte er  in die Schweiz ausreisen, wo er am 8. April 1942 in Winterthur an den Folgen des Lageraufenthalts verstarb.

 Das Bild ist von der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch

Max Herrmann-Neiße: Die Rose für den Dichter




Die Rose für den Dichter

Sie wagte durch den ganzen Saal zu schreiten,
sie dachte: Alle blicken auf mich hin
und sehn, wie töricht ich errötet bin -
was ahnen sie von meinen Seligkeiten!

Sie legte linkisch eine Rose nieder
neben die Kerze auf den leeren Tisch
und fand auf ihren Platz nachtwandlerisch
und saß, als wäre nichts geschehn, schon wieder.

Und alles schwieg. Nun stand der Dichter oben
und fing zu sprechen an, daß die Musik
klingender Verse wie ein Springbrunn stieg,
im Silberstrahl zum Himmel aufgehoben.

Er stand in ihrem Glanze, sie verschönten
sein aufgetanes Alltags-Angesicht.
Er sah den Saal und seine Menschen nicht
im Rausch der Strophen, die ihn groß umtönten.

Sie tönten noch, als er von seinem Blatte
aufblickte und der Beifall ihn umfing.
Er wußte nicht, als er vom Podium ging,
daß er in seiner Hand die Rose hatte.

Erst nachts in seinem heimatlosen Zimmer
hat er das göttliche Geschenk erkannt.
Und immer auf dem Tisch die Rose stand
in unverwelklichem, weltfremdem Schimmer.

Max Herrmann-Neiße, geboren am 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; gestorben am 8. April 1941 in London, Deutscher Dichter, von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, in dem er 1941, wurzellos, starb.

Sonntag, 7. April 2019

Anna Ritter: Philisterglück



Philisterglück

Gestern standen sie im Blättchen
Als Verlobte. Heut, zur Stunde
Der Visiten, wird die Runde
Abgegangen durch das Städtchen. –
Freudig warten schon die Tanten. –

Er im Gehrock, sie in Seide,
Sittsam lächelnd alle Beide,
Mit gewinnenden Manieren,
Führen sie ihr Glück spazieren
Zu den Freunden und Verwandten!

Hinter ihnen wandelt Amor ...
Amor – wirklich? Baß erschrocken
Seh ich ihn: ist das der böse,
Hübsche, kecke Liebesbengel?
Fein und sittsam wie ein Engel

Schreitet er, die goldnen Locken
Glatt gescheitelt, voll Pomade.
Sammtne Pluderhosen decken
Tugendhaft des Bübchens Blöße,
Und die kleinen Füße stecken
Bis zur rundlich festen Wade
Ehrbar in gestrickten Socken!
Schade – !

Anna Ritter (1865 - 1921)

Das Bild ist von der Bremer Künstlerin Slvia Händel, mit freundlicher Genehmigung

Freitag, 5. April 2019

Elsa Asenjieff: Weib von Geschlecht - Katze von Geblüt / Die Blume an den Frühling

Max Klinger (1857 - 1920): :Elsa Asenjieff (um 1900)



Weib von Geschlecht - Katze von Geblüt

Weib von Geschlecht –
Katze von Geblüt,
Trag ich erbliches Recht
Zu schnurren und zu spielen.
Heimlich an weisser Brust
Hängt ein verborgner Opal.
Rühr ich mich unbewusst –
Schlägt er mir die Brust –
Niemand weiss davon,
Es ist nur mir zum Spiel.
Oft wein ich schon –
Er bringt mich just zum Lachen!
Weib von Geschlecht –
Katze von Geblüt,
Trag ich erbliches Recht
Zu schnurren und zu spielen . . .
Schönster, hüte dich . . .!


Die Blume an den Frühling

Seine Stimme ist eine tiefe Macht!
Sein Blick ist weich wie die Frühlingsnacht...
Sein Mund, der blutrot blüht,
Hat in meinen Tod geglüht:
Da bin ich auferstanden.


Elsa Asenijeff, geboren am 3. Januar 1867 in Wien, gestorben am 5. April 1941 in der „Korrektionsanstalt für asoziale und arbeitsunwillige Erwachsene“ in Bräunsdorf, in die sie von den Nationalsozialisten „verbracht“ wurde, an Lungenentzündung.

Donnerstag, 4. April 2019

Sophie Hoechstetter, aus: Lieder an Liane



Lieder an Liane

I.

Ich wollte einmal dich in meiner Heimat grüßen,
Ich wollte einmal, daß zu deinen Füßen
Die Wege ziehen, die mir lang vertraut.
Ich wollte, daß mein stilles Land dir brächte
Sein tiefes Sehnen, seine hellen Nächte
Und du es sähest, wie ich es geschaut.

Ich wollte einmal deine Lippen küssen —
Ich wollte einmal deine lieben süßen
Geliebten Augen auf mir ruhen sehn —
Ich wollte einmal — einmal nur dir sagen
Wie lang dein Bild im Herzen ich getragen
Und wie es ruht dort bis zum Untergehn.

Dann aber? Oh ich weiß nicht, was noch wäre
Still ruht die Sehnsucht — ankersstill im Meere
Fragst du den Beter, was er noch begehrt
Wenn ihm sein Gott die Seligkeit gewährt?
Fragst du den Schiffer, der den Hafen sieht,
Ob noch ein Wunsch durch seine Seele zieht?

Ich wollte einmal deine Lippen küssen,
Ich wollte dich in meinem Hause grüßen —
Einmal mit dir allein sein — fern vom Leben.
Ich wollte einmal dir in erstem Schweigen
Die Heimat und mich selbst ganz dir zu eigen
Bedingungslos in deine Hände geben.

IV.

In unserm Garten liegt ein Feuerschein,
Des letzten Herbstes flammendes Verglühn.
Die stille, weiche Luft ist klar und rein,
Wir sehen rote Wolken südwärts ziehn.

Im Winde tausend goldne Blätter schwanken
Ein letzter Gruß der Liebe, die vergeht.
Die späte Rose blüht; doch müde sanken
Schon manche Kelche auf das Gartenbeet.

Die Mauer ist umstrickt von Scharlachwein,
Mit Liebesarmen nimmt er sie gefangen,
Und selbst der alte, harte, kühle Stein
Erstrahlt in rotem, brennendem Verlangen.

Ein Glühen rings, ein sonnenrotes Sterben.
Ein Sterben, seliger und schöner noch
Als blassen Frühlingslichtes stilles Werben
Das einst auch über dies Gelände zog.

Du lächelst schmerzlich. Weil die Liebe flieht
Von dieser armen, stillen Gartenerde?
Du lächelst schmerzlich, weil der Herbst uns glüht
Und weil er kommt mit strahlender Geberde?

Sieh doch: was hier vergeht, uns bleibt es immer,
Uns grüßt der Herbst, uns grüßt er wunderzart,
Weil unserer Herzen roter Liebesschimmer
Für eine traumeskurze Zeit ihm ward.

Wir können froh und lächelnd von ihm scheiden,
Ein sterblich Abbild ist, was hier vergeht
Von dem Unsterblichen, dem, was uns beiden
Als unvergänglich vor der Seele steht.

Bis auf der alten, lieberoten Erde
Das letzte, leise Wort uns klingt,
Bis zu uns als geleitender Gefährte,
Der letzte Erdenton noch dringt.

Bis wir den letzten Blick noch tauschen,
Wenn einst der Tag uns letzten Abschied bringt —
Und wenn im fernen Windesrauschen
Das Herz im All versinkt.

Aus: Vielleicht auch Träumen, Verse von Sophie Hoechstetter

München und Leipzig Bei Georg Müller 1906

Sophie Hoechstetter, geboren am 15. August 1873 in Pappenheim, gestorben am 4. April 1943 in der Moosschwaige bei Dachau war Schriftstellerin, Dichterin und Malerin.

„Liebe, Arbeit und soziales Engagement durch Schreiben sind die zentralen Themen der Werke Sophie Höchstetters. Liebe, die durch Schranken des Standes (Die Verstoßenen), der Religionszugehörigkeit (Max Mühlen) und durch Sitten (Das Krongut) begrenzt wird - oder auch erfüllte Liebe, die bis zur Selbstaufgabe führt. . . . Dargestellt wird, wie die Ehe als Institution die Liebe der einzelnen überformt und dem Mann das Recht des Herrschers gibt. In Sehnsucht, Schönheit, Dämmerung (1898/1909)“

Madeleine Marti (FemBio. Frauen.Biographieforschung)

Das Foto ist von einem unbekannte Fotografen aus: Timon Schroeter: Für unser Heim, Bunte Spenden Deutscher Dichter und Denker der Gegenwart,

J. J. Weber, Leipzig 1902,

Mittwoch, 3. April 2019

Jakob Haringer: Tauben flattern ums Gefängnis

Erich Büttner (1889 - 1936): Portrait Jakob Haringer


. . . lasst mich allein mit der Liebsten,
wir fordern nichts ein.
Wir wollen nur ganz einfach
miteinander sein.


Tauben flattern ums Gefängnis


Die Tage können nicht mehr kleiner sein.

Zwar sitzt du noch bescheiden in der Sonne.

Du weißt bestimmt : es wird kein Glück mehr kommen,
und du bist toter als der ärmste Stein;
den wird vielleicht noch Abend überglänzen,
und Moos und Tiere ja sind gut zu ihm,
nur dich erharrt kein schimmernd Abendfenster,
befleckst Voll Grau das letzte Kindergrün.
Es ist ganz gleich, ob du auch noch mal betest,
ob du im Morgen, ob im Abend bist,
Ob dich auch leis ein kleiner Brief noch rötet,
du weißt bestimmt, daß du Verloren bist.

Für dieses Leben hilft kein Glaube mehr,
keine Marie. Du liest die Zeitung noch,
und so als seist du schon verstorben. Und doch
zieht süß ein Duft von Rosen zu dir her.

Am 3. April 1948 starb in Zürich der 1898 in Dresden geborene Dichter Jakob Haringer.

„Die Gedichte sind echtes Gewächs, keine lyrische Ware. Dreierlei gehört zur Kunst: einmal, daß einer etwas ist, – einmal, daß er zu sich gefunden hat, – einmal, daß er etwas kann. Das ist dreifache Gnade. Haringer schreibt, wie ihm zu Mut ist. Dabei wäre nichts. Aber er ist von Haus aus Lyriker und Könner. Und darum ist es alles. Selbst wenn die Gedichte zu einem Teil sich formal nicht schließen, als Einzelwesen schwer bestehen. Woran denke ich bei diesen Stücken? An Tübingen, Hölderlin, die Maler Spitzweg, an Richter, Blechen. Eine sehr deutsche Pflanze. Verschollener Typ eines vagierenden Poeten. Er schreibt von Kinos, Cafés, aber fühlt Rothenburg und Nürnberg…“

Alfred Döblin über Jakob Haringers Lyrik

René Schwachhofer schrieb 1947 in der verdienstvollen Auswahl vergessener, von den Faschisten verfemter Lyriker Vom Schweigen befreit:

„Haringer hat einige der schönsten deutschen Gedichte geschrieben; sie könnten im Volksmund umgehen. Einst wird man fragen: Wer war ihr Verfasser?“

Dienstag, 2. April 2019

Alice Berend: Kleine Ballade / Der Backfisch

Lovis Corinth (1858 - 1935) Portait Alice Berend



Kleine Ballade

Sie wohnte vier Treppen,
Er unten im Keller,
Und beide hatten sie keinen Heller.

Wohl litten sie nicht Hunger und Not,
Doch was sie verdienten mit ehrlichem Sinn,
Das reichte so gerade zum Leben hin.

Jung waren sie beide und lebensfroh,
Machten sich weiter keine Sorgen.
Kam heute das Glück nicht, kam's wohl morgen.

Kehrten arbeitsmüd' sie am Abend heim,
So schauten beide zum Fenster hinaus
Und sahen nach dem Glücke aus.

Aus dem Dache sah sie,
Aus dem Keller sah er,
Und mancher Seufzer flog hin und her.

An einem heissen Maientag
Sprach er sie schüchtern drunten an,
Als sie die Treppen zu steigen begann.

»Da oben ist's wohl jetzt schön heiss?«
»Ja,« lacht sie, »ja, der Sonnenschein
Heizt etwas stark mein Zimmerlein.«

»Und zu mir kommt gar keine Sonne herein.«
»Nun,« meint sie mit einem fröhlichen Nicken,
»Ich werd' etwas Sonne hinunterschicken.«

»Dürfte ich sie nicht holen kommen?«
»Nein, i bewahre!« Und im Lauf
Rennt sie die vier Treppen hinauf. – – –

Doch seltsame Dinge geschehen im Mai,
Am selben Abend, der Mond schien herein,
Holte er noch seinen Sonnenschein. 



Aus: Die zehnte Muse, Dichtungen vom Brettl und fürs Brettl, herausgegeben von Maximilian Bern, Verlag Otto Eisner, Berlin, 12. Tsd. 1904 

 

Alice Berend, geboren am 30. Juni 1875 in Berlin; gestorben am 2. April 1938 in Florenz war eine erfolgreiche Romanschriftstellerin. Seit etwa 1910 schrieb sie eine Reihe von humoristischen bis realistischen Romanen und Kinderbüchern, die ihr den Ruf einer „kleinen Fontane“ einbrachten. Im Jahr 1933 wurden ihre Werke von den Nationalsozialisten auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt. Im Jahr 1935 emigrierte sie nach Florenz. Dort starb sie am 2. April 1938 verarmt und als Schriftstellerin vergessen. 

 

Ihr bekanntestes Gedicht (sie schrieb vereinzelt Werke für´s Kabarett) ist wohl das Werk "Der Backfisch". Selbst heute noch lesenswert, denn wer eine pubertierende junge Frau im Hause hat, erkennt darin sicher einiges wieder. . .




Der Backfisch.

Kichernd
Und wispernd,
Geheimnisse flüsternd,
Vor Lachen erstickend,

Verlegen sich drückend,
Vor Neugierde zitternd,
Unpassendes witternd,
In Liebesgram härmend,
Für Lehrer schwärmend,

Immer schleckend und naschend, –
Mit Notentaschen,
Mit langem Zopf
Am zappligen Kopf,
Bestrebt, zu probieren

Das Kokettieren,
Ganz ohne Sorgen
Für heut oder morgen
Und zehnmal klüger als Mama,
Schwupp – so steht der Backfisch da.


Montag, 1. April 2019

Erich Wiesengärtner, aus: Schlemmerdämmerung




Goldes wert

Eigener Herd ist Goldes Wert.
Wer erdwärts fährt
fährt nie verkehrt,
denn Goldes Wert
ist, wie man hier erfährt,
der eigne Herd.
Viel mehr wert
als ein eignes Pferd
ist eigner Herd:
denn der ist gülden Goldes wert.


Schlemmerdämmerung

Schlimme Schlemmer schlemmen ungehemmt
Ungehemmte schlimme Schlemmer
Stemmen ungehemmt die Hämmer,
Die schlimmen Hämmerstemmer
sind ungehemmte schlimme Schlemmer.


Gruben graben I

Wer andern eine Grube gräbt
Wer andern eine Tube trägt
Wer wandernd ein Grabe grubt
Wenn samstags er am Grabe tubt
Wer andern eine Trübe trägt
Wer trübe eine Grübe frägt
Wer ungefragt hier graben tut
Der verliere nicht den Mut.


Gruben graben II

Wer andern eine Grube gräbt
oder eine Rübe sät
in die er eine Lüge legt
und zu einer Rüge rät
und dann in die Biege geht
weil er auf der Liege steht
und mit einer Wiege wägt
dabei an der Stiege sägt
hinterher dann müde mäht
weil der Hahn so rüde kräht
dem vor lauter Sprich das Wort vergeht.


Aus: Schlemmerdämmerung, Verlag Die Waagschale, Zweite erweiterte Auflage, Bern 1923

Zur Erinnerung an den Lyriker Erich Wiesengärtner, geboren 1. 4. 1903 in Mölln, früh verstorben an dementia praecox am 1. 4. 1927 in Oberschilda (Schweiz). Das meiste seines umfangreichen Œuvres ist leider verschollen.