Ich möchte in diesem Blog Werke von Dichterinnen und Dichtern einstellen, welche mir bei meinen Streifzügen durch die Welt der Poesie begegnet sind, und die mir gefielen. So wird dies ein ganz persönliches Kompendium, von dem ich mir dennoch erhoffe, dass es auch anderen Menschen Freude macht. Also, viel Spaß beim Stöbern wünscht Dingefinder Jörg Krüger.
Montag, 8. April 2019
Max Herrmann-Neiße: Die Rose für den Dichter
Die Rose für den Dichter
Sie wagte durch den ganzen Saal zu schreiten,
sie dachte: Alle blicken auf mich hin
und sehn, wie töricht ich errötet bin -
was ahnen sie von meinen Seligkeiten!
Sie legte linkisch eine Rose nieder
neben die Kerze auf den leeren Tisch
und fand auf ihren Platz nachtwandlerisch
und saß, als wäre nichts geschehn, schon wieder.
Und alles schwieg. Nun stand der Dichter oben
und fing zu sprechen an, daß die Musik
klingender Verse wie ein Springbrunn stieg,
im Silberstrahl zum Himmel aufgehoben.
Er stand in ihrem Glanze, sie verschönten
sein aufgetanes Alltags-Angesicht.
Er sah den Saal und seine Menschen nicht
im Rausch der Strophen, die ihn groß umtönten.
Sie tönten noch, als er von seinem Blatte
aufblickte und der Beifall ihn umfing.
Er wußte nicht, als er vom Podium ging,
daß er in seiner Hand die Rose hatte.
Erst nachts in seinem heimatlosen Zimmer
hat er das göttliche Geschenk erkannt.
Und immer auf dem Tisch die Rose stand
in unverwelklichem, weltfremdem Schimmer.
Max Herrmann-Neiße, geboren am 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; gestorben am 8. April 1941 in London, Deutscher Dichter, von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, in dem er 1941, wurzellos, starb.
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