Dienstag, 9. April 2019

Dietrich Bonhoeffer, aus: Nächtliche Stunden




Aus: Nächtliche Stunden

Langgestreckt auf meiner Pritsche
starre ich auf die graue Wand.
Draußen geht ein Sommerabend,
der mich nicht kennt,
singend ins Land.
Leise verebben die Fluten des Tages
an ewigem Strand.
Schlafe ein wenig!
Stärk Leib und Seele, Kopf und Hand!
Draußen stehen Völker, Häuser, Geister und Herzen in Brand.
Bis nach blutroter Nacht
dein Tag anbricht -
halte stand!

Nacht und Stille.
Ich horche.
Nur Schritte und Rufe der Wachen,
eines Liebespaares fernes, verstecktes Lachen.
Hörst du sonst nichts, fauler Schläfer?
Ich höre der eigenen Seele Zittern und Schwanken.
Sonst nichts?
Ich höre, ich höre,
wie Stimmen, wie Rufe,
wie Schreie nach rettenden Planken,
der wachenden, träumenden Leidensgefährten
nächtlich stumme Gedanken.
Ich höre unruhiges Knarren der Betten,
ich höre Ketten.

Ich höre, wie Männer sich schlaflos werfen und dehnen,
die sich nach Freiheit und zornigen Tate sehnen.
Wenn der Schlaf sie heimsucht im Morgengrauen,
murmeln sie träumend von Kindern und Frauen.
Ich höre glückliches Lispeln halbwüchsiger Knaben,
die sich an kindlichen Träumen laben.
Ich höre sie zerren an ihren Decken
und sich vor gräßlichem Albtraum verstecken.

Ich höre Seufzen und schwaches Atmen der Greise,
die sich im Stillen bereiten zur großen Reise.
Sie sahn Recht und Unrecht kommen und gehn,
nun wollen sie Unvergängliches, Ewiges sehn.


Geschrieben im Gefängnis Tegel, 1944

Aus „An den Wind geschrieben - Lyrik der Freiheit 1933 – 1945“, herausgegeben von Manfred Schlösser und Hans-Rolf Ropertz; Schriftenreihe Agora, zweite Auflage,

Darmstadt 1961

Dietrich Bonhoeffer, geboren am 4. Februar 1906 in Breslau; wurde am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet.

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