Samstag, 27. Januar 2018

Richard Zach: Ich bin den andern Weg gegangen




Ich bin den andern Weg gegangen

Was soll ich um mein Leben rechten?
Ich hab' gewagt
, hab' nicht gefragt,
ob's gut ist
, wenn man alles wagt,
und ob die Taten Zinsen brächten!

Bequemer wäre es gewesen,
den Kopf zu senken, klug zu lächeln,
die Knie verrenken, Demut fächeln
und kein verbotenes Buch zu lesen.
 
Die Möglichkeit stand häufig offen,
sich wirklich gut und weich zu betten
,
den eigenen schönen Kopf zu retten
und auf Beförderung zu hoffen.
 
Ich bin den anderen Weg gegangen.
Verzeiht
- es tut mir gar nicht leid,
obwohl es elend steht zur Zeit
.
Wird keiner um sein Leben bangen,
 
der weiß, wozu er es verwendet,
bedachte, was sein Glaube wiegt.
Er hat am Ende doch gesiegt
,  
und wenn er auf der Richtstatt endet!

Richard Zach geboren am 23. März 1919 in Graz, war ein österreichischer Widerstandskämpfer und Dichter. Am 31.Oktober 1941 wurde er verhaftet und von einem Militärgericht in Berlin am 18.August 1942 wegen "Wehrkraftzersetzung" zum Tode verurteilt und am 27. 1. 1943 in Berlin – Brandenburg hingerichtet. In der Zeit seiner Haft schrieb er mehrere hundert Gedichte.

Mittwoch, 24. Januar 2018

Clara Blüthgen: Brautlied




Brautlied

Komm her zu mir! Im wallenden Gewande,
Umweht vom Nelkendufte harr ich Dein.
Komm her zu mir! Wir sind im Zauberlande,
der Mittag brütet rings - wir sind allein.

An meinen Busen lehne Deine Wangen -
so sanft ward nie Dein Dichterhaupt gewiegt;
so haben keine Arme Dich umfangen,
so hat kein Herz an Deines sich geschmiegt.

Belausche dieses Herzens mildes Regen
und seine Wünsche sprich sie hold zur Ruh.
Sieh! Meine Lippen blühen Dir entgegen
und meine Seele duftet Deiner zu.

Nicht traure um die Jahre, die entschwunden:
Jung wie das erste Weib im Paradies,
von Liliths Zauber bin auch ich umwunden,
wie jener Küsse sind die meinen süß.

Sprich nicht von Herbst. Nimm atmend warmes Leben,
Erneute Jugend saug aus meinem Kuß.
Komm her zu mir! Noch hab ich reich zu geben -
erschauert's Dich in diesem Überfluß? - -




Clara Blüthgen, geborene Kilburger, geboren am 25. Mai 1856 in Halberstadt; gestorben am 24. Januar 1934 in Berlin, war Schriftstellerin, Dichterin und Aphoristikerin.

Dienstag, 23. Januar 2018

Ernst Blass: An Gladys / Strand / In sanften Wehen ist der Herr




An Gladys (Die Straßen komme ich entlang geweht)

So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht,
Den schwarzen Hut auf meinem Dichterhaupt.
Die Straßen komme ich entlang geweht.
Mit weichem Glücke bin ich ganz belaubt.

Es ist halb eins, das ist ja noch nicht spät. . .
Laternen schimmern süß und schneebestaubt.
Ach, wenn jetzt nur kein Weib an mich gerät
Mit Worten, schnöde, roh und unerlaubt!

Die Straßen komme ich entlang geweht,
Die Lichter scheinen sanft an mir zu saugen,
Was mich noch vorhin von den Menschen trennte;

So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht. . .
Freundin, wenn ich jetzt dir begegnen könnte,
Ich bin so sanft, mit meinen blauen Augen!


Am 23. Januar 1939 starb in Berlin nach schwerer Krankheit und vereinsamt der Dichter Ernst Blass, der 25 Jahre vorher zu den bekanntesten Lyrikern des Expressionismus gehörte. Sein erster Gedichtband  -  „Die Straßen komme ich entlang geweht“ erschien 1912. Von einem Lyriker wünschte er sich: „. . . daß er manchmal recht ins Alltägliche hineingeklebt ist; der noch in der Erhebung weiß, daß man nicht immer erhoben ist.“

Später wandte er sich mit seiner Arbeit mehr der Naturlyrik zu, von Stephan George beeinflusst. Das fand nicht immer den Gefallen seiner Freunde. Genutzt hat ihm es nichts, die Nazis verbrannten seine Bücher trotzdem. Heute ist Ernst Blass ein Vergessener. Zu Unrecht. Schrieb er doch so wunderbare Zeilen wie die folgenden aus seinem Gedicht „Nachts“:

Auf des Daseins geschwungener Brücke
Höre ich dann und wann so ein Lied
Kann nicht recht vorwärts und kann
Nicht zurücke
Doch fühle, daß alles geschieht.

„Der neue Dichter (der den Alltag kennt, der den Schwindel durchschaut) wird gegen künstlerisches Schaffen überhaupt, soweit es unkritisch ist, etwas skeptisch sein, – dennoch wird er eine Melodie haben ...

Weil er wahrheitsliebend ist, werden seine Dichtungen um viel Melodieloses im Erdenleben wissen, – dennoch Dichtungen sein; Dichtungen voll der Schönheit und Intensität eines großen Willens zur Ehrlichkeit. Er wird etwas geben, was, wie Kurt Hiller sagt, funkelt »zwischen Stahl und der Blume Viola«.

Zusammengefaßt: Der kommende Lyriker wird kritisch sein. Er wird träumerische Regungen in sich nicht niederdrücken. Noch im Traume wird er den ehrlichen Willen zur Klärung diesseitiger Dinge haben und den Alltag nicht leugnen. Und diese Ehrlichkeit wird die tiefste Schönheit sein.“

Aus dem Vorwort zu „Die Straßen komme ich entlang geweht“ 1912


Strand

Wir fühlen Sand und Sommer und die Wellen,
Die nachmittags an unsre Träume spülen,
Und sehen in dem Duft von frischen Kühlen
Sehr sichre Segler hell vorüberschnellen.

Und während wir die leichtbeladnen Stunden
Halb spielend und halb fliehend übergleiten,
Steht still in unsern Blicken, ohne Wunden,
Altkluge Trauer und der Glanz der Weiten. 



In sanften Wehen ist der Herr

So war der Lenz, ewigen Glaubens Spender,
Selber so ewig nicht, wie er gelind:
Der heitren Jugend kam der rauhe Wender,
Und unsrer Wiesen Herrscher ward der Wind!

Doch glauben wir, getreu dem ersten Bunde,
Die Kraft von stillen und erhabnem Lied
Und preisen in der nun erhaltnen Wunde
Die Einfachheit des Opfers, das geschieht.

Denn nicht im Feuer und im Wolkenbruche,
Nicht in der Schlachten blutigem Gezerr:
Es lebet Gott in einem schlichten Spruche,
In sanften Wehen ist der Herr.


Montag, 22. Januar 2018

Else Lasker Schüler: Urfrühling / Paul Leppin über die Dichterin

Else Lasker Schüler an Franz Marc 1913: Die Stadt Theben ist entzückt von der Gemse und ich der Kaiser im höchsten Maße gerührt. Zahm wird mein Selbstbild. Was soll ich zu all den bunten Geschenken sagen, Ihr teuren Brüder.


Urfrühling

Sie trug eine Schlange als Gürtel
Und Paradiesesäpfel auf dem Hut,
Und meine wilde Sehnsucht
Raste weiter in ihrem Blut.

Und das Ursonnenbangen,
Das Schwermüt'ge der Glut
Und die Blässe meiner Wangen
Standen auch ihr so gut.

Das war ein Spiel der Geschicke
Ein's ihrer Rätseldinge . . .
Wir senkten zitternd die Blicke
In die Märchen unserer Ringe.

Ich vergass meines Blutes Eva
Ueber all' diesen Seelenklippen,
Und es brannte das Rot ihres Mundes,
Als hätte ich Knabenlippen.

Und das Abendröten glühte
Sich schlängelnd am Himmelssaume,
Und vom Erkenntnisbaume
Lächelte spottgut die Blüte.


Paul Leppin: Die Lasker-Schüler

Keine von den Frauen, die ich kenne, ist so meilenweit von aller Literatur entfernt, so unbedingt in ihre Gesichte versponnen, mit Riten, Symbolen, Liebhabereien gesegnet, wie Else Lasker-Schüler. Sie ist die Verkünderin, die inbrünstige Ausdeuterin in einer kaum vorstellbaren Weise. Sie hat eine legendenhafte Art, mit den Herrlichkeiten der Schöpfung zu kosen, sie andächtig zu betrachten, mit den Fingern an sie zu rühren. Die lichtgesprenkelte Pfauenschleppe des Kometen, der blühende Mond, das Abendrot, dunkle Rubine funkeln in ihren Verszeilen. Sie hat Schicksal, Einsamkeit, brennendes Herzweh erlebt, dürftige Jahre, heischende Pflichten. Nichts, was mit ihr geschehen konnte, war angetan, die drängende Fülle ihrer Berufung zu zerstören. Sie ist wie die Bäume, von denen sie erzählt, daß sie im Erdboden haften, wo die Erwartung des Himmels sie festhält. Der Baum, die Pflanze, die Blume haben keine Weltanschauung. Aber die Welt kommt zu ihnen, sie lassen sich feierlich von der Welt anblicken und wachsen in ihre Träume. So geschieht es der Dichterin. Sie ist mit der Welt vertraut, ist mit ihr zusammen zur Schule gegangen und Gottes monumentaler Schrank beliefert sie mit Paradestücken. Wenn sie von ihrer Kindheit berichtet, dem sauren Kirschbaum im Garten des Vaterhauses, den Schaumkrautwiesen und versunkenen Wäldern ihrer Sonntagsausflüge im Wuppertale, von der Knopfsammlung, die sie in ebenmäßiger Reihe als bunte Strophe auf dem Tische ordnete, kommen Geheimnisse zutage, schüchterne Anmerkungen und Bekenntnisse. Da war ein Knopf, der war der schönste von allen, der durfte überall liegen, wo er wollte. »Er war aus Jett, besät mit goldenen Sternlein, und ich staunte ihn an. Er war das Himmelreich meiner Knöpfe und hieß: Josef von Ägypten. So oft neckt man mich mit einem Ausdruck, der sich immer wiederhole in meinen Gedichten. Es ist wahrscheinlich der sternbesäete Knopf.«

Der Hang zu Tand und schimmernden Nichtigkeiten, farbigen Schnüren, Perlen und koboldartigen Dingen ist ihr geblieben. Er ist wohl in der spanischen Blutmischung begründet, die ihr »liebmütterlicherseits« zuteil ward. Als ich sie kennenlernte, als junger Mensch, der neugierig im Wellenschlag des Berliner Literaturlebens stöberte, war sie mein stärkster Eindruck. Sie war anders als der Betrieb, der sie mitriß, unnachgiebig und sonderbar. Sie war vor Zugeständnissen gefeit, die ihr an den Leib rückten. Sie hatte Geschenke und Auszeichnungen zur Hand, mit denen sie Auserwählte beglückte: Glassteine aus einer vertrackten Schatulle, die sie stolz und verheißungsvoll auskramte, Ordenszeichen und Titel, mit denen sie Freunde dekorierte. Snobismus und journalistische Halbheit haben sie nie erreicht. Sie war immer vom Geiste besessen, der in ewigen Räumen schweifte, ein unzerbrechliches Gefäß der Offenbarung in einer von stumpfer Begier zerbröckelten Gegenwart. In den Kaffeehäusern ihres Bezirkes saßen die Aristokraten, die ihre Gnade ernannt hatte, ihre Zuneigung salbte. In allen Städten Europas hatte sie Statthalter ihrer Freundschaft. In der Nacht ihrer Not erhob sie sich selbst zum Prinzen von Theben. Es ist naheliegend, über ein Zeremoniell zu spotten, das Embleme und fremdartige Anschriften ersann, mit Siegel und Halbmond ihre Dekrete fertigte. Aber die unerschütterliche Haltung dieser Frau, ihr allezeit beglaubigtes Dichtertum, der Glanz des »Gottostens«, der ihren Sprüchen vorausgeht, die Gerechtigkeit und der Sinn ihres reinen Herzens strafen die nüchterne Skepsis Lügen. Die Staatsgalerie hat vor einigen Jahren ihre bizarren Zeichnungen angekauft, gekrönte Köpfe, paradiesische Fahrten ins Flitterland ihrer Gedanken, Mondsicheln und Heiligkeiten. Es sind vom Wege verirrte Szenen, vergittertes Temperament, Schwüre und Verzückungen, die so stark auf sie einströmten, daß die Umfriedung ihrer Verse nicht ausreichte, daß sie Tuschfeder und Goldlack zu Hilfe nehmen mußte, um sie zu bannen.

Nun ist nach langer Frist eines durch Ungunst erzwungenen Verstummens ihr neues Buch erschienen. Es nennt sich »Konzert« (Rowohlt-Verlag in Berlin) und bringt die gläubig gebündelte Ausbeute von Jahreszeiten und Jahren, die über verklärten Landschaften, gedämpften Erinnerungen stehn. In dieser Folge von Bildern, Gedächtnistagen und Schwärmereien begegnen wir immer wieder dem Angesichte Gottes, wie sie es glühend erlebt, dem Erzengelzauber ihrer Vision, der Bundeslade überirdischer Süchte. St. Peter Hille, der prophetische Apostel, ihr Gottkamerad, wie sie ihn erschauernd anspricht, hat wieder ein ehrfürchtiges Denkmal bekommen. Dieser »abstrakteste Mensch, der zurzeit auf Erden wandelte«, muß ihr wohl irgendwie geglichen haben. Auch sein, des heimlichen Papstes Vatikan, war nicht von dieser Welt. Seine biblische Jüngerin, die er in zärtlich gesinntem Spiel vormalig »Tino«, das Mädchen mit den Knabenaugen nannte, ist gleich ihm der Sentimentalität verfremdet. Und sie verfällt ihr auch nicht, wenn sie in schlichter Verhaltenheit von einem Verstorbenen redet, ihrem süß-schönen Sohne Paul, der als Maler ihre Talente erbte, der nicht nur ihr Kind, der auch ihr kleiner Bruder gewesen war und dem sie ihr Buch in Liebe zueigen gibt. Das »Konzert« der Else Lasker-Schüler ist die Musik der Mythe. Tote und Abtrünnige schlagen die Lider auf, Heerscharen, Gebete und Tierseelen sind darin verzaubert. Es ist Prosa, die tief und einfältig leuchtet und es wundert uns gar nicht, wenn zwischen den Blättern dieser Erzählungen, wie Gold im Gestein, der Rhythmus eines Gedichtes verstreut ist. Versöhnung, edelgewordener Alltag sind holdselig aufgetan. Kummer öffnet den strahlenden Kelch und duftet:

Es ist so dunkel heut,
Man kann kaum in den Abend sehen.
Ein Lichtchen loht,
Verspieltes Himmelchen spielt Abendrot
Und weigert sich in seine Seligkeit zu gehen.
– So alt wird jedes Jahr die Zeit –
Und die vorangegangene verwandelte der Tod.
* * *

Aus: Prager Presse. Jg. 12, Nr. 201 vom 24. Juli 1932. S. 9 (»Kulturchronik«).

Else Lasker-Schüler, geboren am 11. Februar 1869 in Elberfeld; gestorben am 22. Januar 1945 in Jerusalem)

Paul Leppin (1878–1945), Schriftsteller in Prag. Seinen einzigen überregionalen Erfolg erzielte er mit dem 1905 erschienenen Roman »Daniel Jesus«, den Else Lasker-Schüler 1908 in der Zeitschrift »Das Magazin« (Jg. 77, H. 4 vom Januar 1908. S. 65) besprach. Sie hatte Leppin im März 1907 bei einer Lesung im Berliner »Salon Cassirer« kennengelernt und ihn im April 1913 während einer Vortragsreise in Prag besucht. Sie nannte ihn nach seiner Romanfigur »Daniel Jesus« oder auch »Daniel Jesus Paul«. Leppin selbst war auf Else Lasker-Schüler durch ihr »Peter Hille-Buch« (1906) aufmerksam geworden, das er 1909 in der Zeitschrift »Deutsche Arbeit« (Prag) rezensierte (Jg. 8, H. 6 vom März 1909).

Alfred Wolfenstein: Die Liebe und die Not / Ein Gefangener / Herbst



Die Liebe und die Not

Wenn wir einander in den Armen lagen,
Ganz außer uns, unendlich nah,
Und hörten beide Herzen in uns schlagen,
Als seien zwei in jedem da:

Dann kams und flüsterte und ließ mir sagen,
Ich wisse doch, was rings geschah,
Und donnerte: Darf man den Kuß noch wagen,
Wenn Kampf ruft? Und du hauchtest: Ja!

Jedoch verwandelt waren meine Arme,
Ich bebte widerhallend vom Alarme,
Dir noch zur Lust, mir schon zur Pein.

Gleich dem magnetisch ferngelenkten Schiffe,
So wandte mich mit unsichtbarem Griffe
Der Ruf herum! Ich ging, allein.

Es quält, in armer Zeit zu reich zu sein.


Ein Gefangener

Du schreibst rasch vor dich hin,
Aus Angst, den Verstand zu verlieren,
Schreibst, schreibst du vor dich hin
Auf Toilettepapieren.

Du weißt kaum noch, was du meinst.
Einst liebtest du schreiben und lesen.
Jetzt sagst du schon immer: einst.
Das ist noch nicht lange gewesen.

Erinnerung zerrt dich zurück,
Weil jetzt die Stunden stehen.
Doch siehst du zuviel Glück
Durch die Vergangenheit gehen.

Du schreibst vor lauter Angst,
Man nähme dir bald die Feder,
Denn wie du selbst sie verlangst,
So hungert nach ihr ein jeder.

Eine einzige geht hier herum,
Sie braucht manche Mühe und Finte.
Zerkaut ist der Halter rundum,
Verschimmelt wie Brot ist die Tinte.

Du stolperst übers Papier,
Um nur keine Zeit zu verlieren.
Das ist ein Ausflug von hier.
Sonst geht man wenig spazieren.

Du hältst überhaupt nicht mehr an,
Man kann auch das Schreiben verlernen -
Da siehst du jäh einen Mann
Mit dem Schreibzeug sich entfernen.

Deine Hände sind nun leer.
Statt zu schreiben, willst du nicht singen.
Für den Wächter war es nicht schwer,
Dich um das letzte zu bringen.

Dich selber holt er nicht.
Du bleibst, nickst, starre Pagode.
Dich selber holt er nicht
Zum Leben oder zum Tode.


Herbst

Die Sonne sinkt mit jedem Abend schneller,
Man denkt schon morgens an des Tages Ende,
Das ist die schon so oft erlebte Wende.
Da sinkt der Mut mit langsamem Propeller.

Es ist, als wartete ein düstrer Keller
Auf die vom Flug durch duftende Gelände
Verwöhnte Lunge, und sie atmet Wände.
Der Straßen Licht macht nur die Steine heller.

Und doch, manch Held des Sommers wäre froh,
Wenn er im kalten Wind nun wüßte, wo
Er landen kann, in welcher Stadt der Erde.

Er sänke gerne andern Sternen zu -
Hier reißt der Herbst herab die letzte Ruh,
Und wer gehört nicht zu der Blätter Herde?

Aus: Alfred Wolfenstein Werke
Erster Band: Gedichte

Alfred Wolfenstein, geboren am 28. Dezember 1883 in Halle (Saale); gestorben am 22. Januar 1945 in Paris, war Lyriker, Dramatiker und Übersetzer.

1922 erschien im E. Reiss – Verlag, Berlin, sein umfangreicher Essay „Jüdisches Wesen und neue Dichtung“. Er war dem Andenken Gustav Landauers gewidmet, der 1919 in München von gegenrevolutionären deutschen Soldaten im Gefängnis ermordet worden war. In dem Essay stehen die Sätze: „Der Dichter ist der unter die Völker Verstreute; aus tieferem Grunde kommend und in höherem Sinne ortlos; der Verbannte. Er ist, heute zumal, der ungewiß Wohnende unter Fremden, – denen er sich doch glühend zugehörig fühlt. […] Ähnlich ergeht es dem Juden.“

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten emigrierte Wolfenstein im März 1933 wie viele andere deutsche politisch und religiös Verfolgte zunächst nach Prag. Zwei Jahre später flüchtete er nach Paris.

In den Jahren im französischen Untergrund hatte sich Wolfensteins Herzerkrankung verschlechtert. Zunehmend körperlich beeinträchtigt und depressiv, nahm sich Wolfenstein am 22. Januar 1945 in einem Pariser Krankenhaus das Leben.

Freitag, 19. Januar 2018

Rosa Mayreder: In deine Hände. . .




In deine Hände, diese milden Hände,
Verberg ich tiefbekümmert mein Gesicht.
Was mich erschüttern mag, o frage nicht,
Wenn ich so ratlos stumm zu dir mich wende,

Errat es nicht, durchschau es nicht, und sende
Für mich nur still zum Himmel ein Gebet;
Wenn deiner Liebe Inbrunst darum fleht,
Gewährt er dir, daß dieses Leiden ende.

Es legt ein Heiliger dem armen Kranken
Die gnadenvollen Hände liebreich auf,
Und mit der Kraft gesammelter Gedanken,

Stark durch die Liebe, mächtig durch den Willen,
Tut er sein Werk. Da hält in ihrem Lauf
Selbst die Natur, ein Wunder zu erfüllen.

Rosa Mayreder, aus: Zwischen Himmel und Erde, Sonette, Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1908

Rosa Mayreder, geboren am 30. November 1858 in Wien; gestorben am 19. Januar 1938 ebenda, Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Kulturphilosophin.

Vor und während des Krieges engagierte sie sich gemeinsam mit Bertha von Suttner in der Friedensbewegung und wurde 1919 Vorsitzende der „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“ (IFFF). Sie kritisierte alle Formen des Militarismus, den sie als typisch männliches Machwerk analysierte.

Sonntag, 14. Januar 2018

Hans Schiebelhuth: Aus "Wegstern"

Andrea Rausch (Fredelsloh): Landschaft oben und unten


Reisesegen


Tut Türen weit auf. Viel Licht
Fließ über Fliesen.
Wandrer steh auf. Gürte dich.
Freu dich ins Fremde.

Geh gegen Wolken. Zieh wider Wind,
Berg und Tal, stille Straße.
Überm Weg weben Wünsche,
Gold, Glück.


Trostvogel

Seit deines Abschieds Düsterhimmel aufstieg,
Hockt jede Nacht ein fremder weißer Vogel
Zu Füßen meiner Bettstatt, bis es graut,

Und tröstet mich, dieweil ich traurig bin,
Mit solchen Worten, einer solchen Stimme,
Wie nie sie Sterblichen vom Mund entfuhr.

Viel Weisheit sagt er, Dinge, die auf Erden
Unsichtbar sind. Gibt Wissen mir um Wege,
Die Sehnsucht-Kraft durch Zeit und Raum sich baut.

Und vortags fliegt davon auf weiten Schwingen
Trostvogel er. Und trägt im goldnen Schnabel
Mein Lied für dich zum ewigen Azur.


Geistige Landschaft

Wenn nachtgangs nun dich gütig Mond begleitet,
Der Himmel sich für dich mit Sternen schmückt
Und dich der dünne Nebelrauch entzückt,
Ein silbrig Netz aufs Ährenfeld gebreitet,

Ist es umsonst, dass dich mein Lied geleitet:
Dem Duft der Gärten bist du so entrückt
Und siehst von Regenbögen überbrückt
Dein Sehnsuchtsland in langem Traum bereitet.

Ein Trunkner, dem Berauschtsein widerstreitet,
Bleib ich zum Wunderbrunnen tief gebückt –
Sternspiegel, dessen Zauber mich erdrückt! –

Forschend und formend, lust- und qualzerstückt,
Nur hoffend Herz und gülden übersaitet
Von deinem Glück, das mir nie ganz geglückt.

Hans Schiebelhuth (* 11. Oktober 1895 in Darmstadt; † 14. Januar 1944 in East Hampton, New York, USA) war ein expressionistischer Schriftsteller und Dichter. Die Gedichte sind aus seinem Band "Wegstern" von 1921

Samstag, 6. Januar 2018

Franz Hessel: Die Vertriebenen

Ein Bild der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch


Die Vertriebenen

Des Vaters Zorn vertrieb uns aus den Hallen.
Ich schlich an deiner starken Hand ein Kind.
Dir hat die Fahrt, der Drang, die Qual gefallen,
Ein Widerhall war dir der wilde Wind.

Du bettetest mich auf gesunknen Steinen
Verlornen Rechts und gesunkner Grenzen.
Du lehrtest mich, mein Weh nicht zu verweinen,
Die kranke Stirn mit buntem Laub zu kränzen.

Uns war genug: tägliche Not zu stillen
Am Ackerrand mit Früchten fremder Erde
Um unsrer neuen Wege Freiheit willen. –
Nun sehn ich mich nach ahnenaltem Herde.

Ich fühle deine Füße dir versagen
Und deine Stimme, die geliebte, schwach.
Du trugst mich fort: Soll ich zurück dich tragen
Nach einem mondbeschienenen Gemach?

Franz Hessel, geboren am 21. November 1880 in Stettin; gestorben am 6. Januar 1941 in Sanary-sur-Mer) war Schriftsteller, Übersetzer und Lektor.

Bekannt wurde er vor allem als Lyriker, Romancier und Prosaiker. Hessel blieb trotz Berufsverbots bis 1938 im nationalsozialistischen Deutschland weiterhin als Lektor im Rowohlt Verlag tätig. Das Schreiben musste er einstellen, jedoch übersetzte er Jules Romains. Schließlich folgte er dem Rat seiner Frau und seiner Freunde und emigrierte widerstrebend kurz vor dem Novemberpogrom 1938 nach Paris. Den Vormarsch der deutschen Besatzer fürchtend, übersiedelten Hessel und seine Familie in das südfranzösische Exilzentrum Sanary-sur-Mer. Schon bald darauf wurde er auf Veranlassung des französischen Innenministers Georges Mandel gemeinsam mit seinem älteren Sohn Ulrich und vielen anderen Emigranten wie beispielsweise Lion Feuchtwanger in dem Lager Les Milles bei Aix-en-Provence interniert. Der 60-jährige Hessel erlitt während des zweimonatigen Aufenthalts im Lager einen Schlaganfall und starb 1941 kurz nach seiner Entlassung an den Folgen der Lagerhaft in Sanary-sur-Mer.

Mittwoch, 3. Januar 2018

Ernst Hardt: Abendlied / Am letzten Tor

Ein Bild der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch


                  Abendlied

Still! Der Wald ist schwarz geworden,
zu Tale zieht des Hirten Melodie ...
Die Lüfte ruhen — nächtige Vögel
entflattern lautlos jedem Strauch.
Walddunkel träufelt Tau und Düfte,
den Kronen stirbt der Winde Hauch,
die rieseln in die Ebene nieder
und spielen mit dem Hüttenrauch.
Nun breitet Finsternis die Flügel,
nun schwindet das Gelände auch ...

Still! Der Wald ist stumm geworden.
Im Fernen zagt des Hirten Melodie:
„Gelie..bte du ... Gelie..bte du ..."


                     Am letzten Tor

Sieh da! An diesem Tor steht nun der Ehrenposten
Mit Hippe, Lampe und dem Stundensand.
Noch einmal lass mich Süß und Bitter kosten,
Dann, Wächter, leuchte vor ins unbekannte Land.




Ernst Hardt, geboren am 9. Mai 1876 in Graudenz, Westpreußen; gestorben am 3. Januar 1947 in Ichenhausen bei Günzburg war ein Schriftsteller, Übersetzer, Theater- und Rundfunkintendant.