Die Liebe und die Not
Wenn wir einander in den Armen lagen,
Ganz außer uns, unendlich nah,
Und hörten beide Herzen in uns schlagen,
Als seien zwei in jedem da:
Dann kams und flüsterte und ließ mir sagen,
Ich wisse doch, was rings geschah,
Und donnerte: Darf man den Kuß noch wagen,
Wenn Kampf ruft? Und du hauchtest: Ja!
Jedoch verwandelt waren meine Arme,
Ich bebte widerhallend vom Alarme,
Dir noch zur Lust, mir schon zur Pein.
Gleich dem magnetisch ferngelenkten Schiffe,
So wandte mich mit unsichtbarem Griffe
Der Ruf herum! Ich ging, allein.
Es quält, in armer Zeit zu reich zu sein.
Ein Gefangener
Du schreibst rasch vor dich hin,
Aus Angst, den Verstand zu verlieren,
Schreibst, schreibst du vor dich hin
Auf Toilettepapieren.
Du weißt kaum noch, was du meinst.
Einst liebtest du schreiben und lesen.
Jetzt sagst du schon immer: einst.
Das ist noch nicht lange gewesen.
Erinnerung zerrt dich zurück,
Weil jetzt die Stunden stehen.
Doch siehst du zuviel Glück
Durch die Vergangenheit gehen.
Du schreibst vor lauter Angst,
Man nähme dir bald die Feder,
Denn wie du selbst sie verlangst,
So hungert nach ihr ein jeder.
Eine einzige geht hier herum,
Sie braucht manche Mühe und Finte.
Zerkaut ist der Halter rundum,
Verschimmelt wie Brot ist die Tinte.
Du stolperst übers Papier,
Um nur keine Zeit zu verlieren.
Das ist ein Ausflug von hier.
Sonst geht man wenig spazieren.
Du hältst überhaupt nicht mehr an,
Man kann auch das Schreiben verlernen -
Da siehst du jäh einen Mann
Mit dem Schreibzeug sich entfernen.
Deine Hände sind nun leer.
Statt zu schreiben, willst du nicht singen.
Für den Wächter war es nicht schwer,
Dich um das letzte zu bringen.
Dich selber holt er nicht.
Du bleibst, nickst, starre Pagode.
Dich selber holt er nicht
Zum Leben oder zum Tode.
Herbst
Die Sonne sinkt mit jedem Abend schneller,
Man denkt schon morgens an des Tages Ende,
Das ist die schon so oft erlebte Wende.
Da sinkt der Mut mit langsamem Propeller.
Es ist, als wartete ein düstrer Keller
Auf die vom Flug durch duftende Gelände
Verwöhnte Lunge, und sie atmet Wände.
Der Straßen Licht macht nur die Steine heller.
Und doch, manch Held des Sommers wäre froh,
Wenn er im kalten Wind nun wüßte, wo
Er landen kann, in welcher Stadt der Erde.
Er sänke gerne andern Sternen zu -
Hier reißt der Herbst herab die letzte Ruh,
Und wer gehört nicht zu der Blätter Herde?
Aus: Alfred Wolfenstein Werke
Erster Band: Gedichte
Alfred Wolfenstein, geboren am 28. Dezember 1883 in Halle (Saale); gestorben am 22. Januar 1945 in Paris, war Lyriker, Dramatiker und Übersetzer.
1922 erschien im E. Reiss – Verlag, Berlin, sein umfangreicher Essay „Jüdisches Wesen und neue Dichtung“. Er war dem Andenken Gustav Landauers gewidmet, der 1919 in München von gegenrevolutionären deutschen Soldaten im Gefängnis ermordet worden war. In dem Essay stehen die Sätze: „Der Dichter ist der unter die Völker Verstreute; aus tieferem Grunde kommend und in höherem Sinne ortlos; der Verbannte. Er ist, heute zumal, der ungewiß Wohnende unter Fremden, – denen er sich doch glühend zugehörig fühlt. […] Ähnlich ergeht es dem Juden.“
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten emigrierte Wolfenstein im März 1933 wie viele andere deutsche politisch und religiös Verfolgte zunächst nach Prag. Zwei Jahre später flüchtete er nach Paris.
In den Jahren im französischen Untergrund hatte sich Wolfensteins Herzerkrankung verschlechtert. Zunehmend körperlich beeinträchtigt und depressiv, nahm sich Wolfenstein am 22. Januar 1945 in einem Pariser Krankenhaus das Leben.
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