Freitag, 30. Juni 2023

Karl Wolfskehl: Mittelklasse 1933 / Wir sind gefeit / Ich trags mit euch

 



Mittelklasse 1933


Erst stürmten sie mir fast die Bude:
Wir helfen. Schand ists. Bist so nett!
Dann hieß es: Achtung! Er ist Jude.
Mit denen hat man nur G´frett.

Es gab ein Schwänzeln und Scherwenken,
Der bog ums Eck, der grüßte flau.
„Wir haben auch nichts zu verschenken.
Man stellt sich bloß und seine Frau!“

„Ich bin sklerotisch.“ „Ich bin Gelehrter.“
„Ein Künstler ich, es tut mit leid.“
„Schaug selber wo´sd´ bleibet, Bazi Gscherter.“
„Mich bindet mein Beamteneid!“

So ist denn jeder eingeordnet,
Baut, kaut, verdaut den gleichen Kohl.
Ein Spießer ist man und ka Lord net,
Duckt, drückt sich, flüstert: Lebewohl!

Ihr könnt mich alle nicht enttäuschen,
Gelassen folg ich meinem Stern.
Bei euern Weibern, Ängsten, Räuschen
Bleibts fein zu Haus und - habt mich gern!


Wir sind gefeit


Das letzte Korn vom Menschentume
Reißt euch heraus mit Stumpf und Stiel,
Zertretet nur die letzte Blume
Der Herzen, nie kommt ihr ans Ziel!

Treibt uns aus allen euren Werken,
Dass keiner blickt in euer Spiel:
Was ihr beginnt, wer solls nicht merken?
Noch unsre Blinden sehn zuviel!

Ihr könnt uns nimmermehr versehren,
Und wenn ihr unser Letztes rafft -
Wir stehn vorm Gotte unsrer Lehren.
Erwählt, gesalbt von seiner Kraft.

Ihr könnt uns nimmermehr verblöden:
Verschließt ihr uns des Wissens Tor:
Er überleuchtet unsre Öden
Hebt uns in seinem Glanz empor.

Ihr könnt uns nimmermehr entehren,
Kein Schimpf, kein Fluch, wir sind gefeit!
Und seine erstgebornen Söhne,
Uns traf ein Ruf: macht euch bereit!

Frei ziehn wir weiter, auserkoren,
Ob unserm Weg sein Himmel weit,
Sein Bund mit uns aufs neu beschworen,
Von seinem Wort das Ziel geweiht!

Geschrieben 1934


Ich trags mit euch

Ich sag für euch
Von Sünd und Angst und Hoffen,
Bin aller Mund
Tu allen kund:
Wollt nur! Das Thor ist offen!

Ihr riefet nach
Ihr liefet nach
Wie ich des Landes Söhnen:
„Verhüllt die Zeichen
Wir sind die Gleichen,
Die gleichen Bräuchen fröhnen!“

So ging es lang
Verfing es lang
Bis unsres Frevels Schale
War übervoll,
Und seinen Zoll
Gott hob mit einem Male.

Zersplissen sind
Gerissen sind
Gespinste, Fäden, Bande.
Verruf, Hohn, Hassen -
Wir stehn verlassen,
Gebannt im Varerlande.

Doch schwerste Not
Doch hehrste Not
Zerbrach des Truges Scherbe.
Im Vaterlande
Erfuhrt ihr Schande.
Auf zu der Väter Erbe!

Obs würgt und webt
ER bürgt und weht
Um uns in sanftem Sausen:
„Nun seit gestrost,
Erlost, erlost,
Daheim heiß ich euch hausen!“

Karl Wolfskehl, aus: Autographs Collection 1933 - 1948, Leo Baeck Institute, New York

Karl Wolfskehl, geboren am 17. 9. 1869 in Darmstadt, gestorben am 30. 6. 1948 im Exil in Auckland, Neuseeland. Er war aktiv im Münchner Kreis um Stefan George, mit dem er von 1892 bis 1919 die Zeitschrift „Blätter für die Kunst“ und 1901 bis 1903 die Sammlung „Deutsche Dichtung“ herausgab.

Karl Wolfskehl hat sich über den Charakter des Regimes der Nationalsozialisten nichts vorgemacht. Während andere seiner Freunde, vornehmlich aus dem Georgekreis, noch abwarteten, reiste er am Tage der Machtergreifung über Basel erst ins italienische, 1938 ins neuseeländische Asyl, ins Antithule, wie er die Insel am entgegengesetzten Teil der Erde nannte, so weit von Deutschland weg wie irgendwie möglich.

Das Foto zeigt Karl Wolfskehl im September 1935

Donnerstag, 29. Juni 2023

Alexander von Zemlinsky: Süße, süße Sommernacht. . .

 



Süße, süße Sommernacht,
Liegt die Welt im Traume,
Warme Winde singen sacht
Über dem Lindenbaume.

Breit ergoss'ner Mondenschein
Zeichnet helle Säume
Um ein off'nes, kleines Fensterlein:
Träume mein Liebling, träume.

Alexander von Zemlinsky, geboren am 14. Oktober 1871 in Wien; gestorben am 15. März 1942 in Larchmont, New York, österreichischer Komponist und Dirigent. Unter anderem komponierte er 1930 - 32 die Oper Kreidekreis nach dem Stück von Klabund. Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 musste er das Land verlassen, zuerst nach Prag und schließlich im Dezember 1938 nach New York.

Das Portrait von Alexander von Zemlinsky fertigte Richard Gerstl (1883 - 1908) im Juli 1908 an.


Mittwoch, 28. Juni 2023

Paul Klee: Ende Juni

 



Ende Juni

die Nacht geht so schnell
so groß schaut der Tag.

nur eines allein
ist nah
im Ich ein Gewicht
ein kleiner Stein.

ein Auge welches sieht – sonderbarer Blick –
das andere welches fühlt

Du still allein,
Ihr Ungeheuer
mein Herz ist euer,
mein Herz ist dein!

nur verhallende Schritte die Bitte.

Paul Klee, geboren am 18. Dezember 1879 in Münchenbuchsee, Kanton Bern; gestorben 29. Juni 1940 in Muralto, Kanton Tessin, Maler und Grafiker (und Dichter) Aus: Gedichte / Neue erweiterte Ausgabe Verlag der Arche, Zürich 1980

Das Bild ist von ihm

Zum Andenken an Oskar Maria Graf: Verbrennt mich!

 


Heimat Überall

So grün hab' ich das Gras noch nie gesehen,
noch nie den See so blau.
Ich muss verwundert stehen bleiben
Und frage mich: "Was ist geschehen?"
Ich kenne doch die Gegend so genau
und könnte blind das kleinste Ding beschreiben.
Ich denke nicht ans Weitergehen
und schaue nur in dieses Grün und Blau ...

Mir ist, als stünde ich wie in den Kindertagen
erstaunt und dennoch tief bekannt
vor diesem fremden Wasser und den Wiesenstreifen
und ich vermag es nicht zu sagen,
wie mich dieses Wiedersehen übermannt
mit diesem Gras, mit jedem Wellenschlagen,
als würde meine Heimat eine Welt umgreifen,
als wär' ich nicht mehr fremd in diesem Land …

Oskar Maria Graf, auf der Seite der Oskar Maria Graf Gesellschaft e. V., ausgewählte Texte.

Oskar Maria Graf, geboren am 22. Juli 1894 als Oskar Graf in Berg; gestorben am 28. Juni 1967 in New York City), selbsternannter Provinzschriftsteller. Am 17. Februar 1933 fuhr er zu einer Vortragsreise nach Wien, wo er Mitglied der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller wurde. Dies war der Beginn seines anfangs freiwilligen Exils. Als Graf aufgrund einer Meldung im Berliner Börsen-Courier erfuhr, dass seine Bücher nicht der Bücherverbrennung durch die Nazis am 10. Mai 1933 zum Opfer gefallen seien und ihre Lektüre sogar empfohlen würde, veröffentlichte er am 12. Mai 1933 in der Wiener Arbeiter-Zeitung den Artikel Verbrennt mich! Darin heißt es:

„Und die Vertreter dieses barbarischen Nationalismus, der mit Deutschsein nichts, aber auch schon gar nichts zu tun hat, unterstehen sich, mich als einer ihrer ´Geistigen` zu beanspruchen, mich auf ihre sogenannte weiße Liste zu setzen, die vor dem Weltgewissen nur eine schwarze Liste sein kann.

Diese Unehre habe ich nicht verdient!

Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, daß meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbanden gelangen!

Verbrennt die Werke des deutschen Geistes! Er selber wird unauslöschlich sein, wie eure Schmach!“

Montag, 26. Juni 2023

Gerda von Robertus: Das Hohelied der Nacht

 



Das Hohelied der Nacht

Zwei Tage reichen sich die Hand -- der eine schied, 
ein Flüstern raunt es durch die tiefe Stunde. 
Es klingt ein Lied -- der Nacht ein Hohelied -- 
Ich sing es mit, -- Du küsst es mir vom Munde: 
O hehre Nacht, tu auf dein Wunderland, 
Lass alles Leiderinnern Ruhe finden. 
Der Liebe Meer umrauscht ja Deinen Strand, 
Drin alle Ströme meiner Sehnsucht münden.

Gertrud Emily von Schlieben, verh. Borngräber (* 20. Januar 1873 in Dresden; † 27. Juli 1939 ebenda) war eine deutsche Schriftstellerin, die unter dem Pseudonym Gerda von Robertus schrieb.

Der Komponist Rudolf „Rudi“ Stephan (* 29. Juli 1887 in Worms; † 29. September 1915 bei Tarnopol, Galizien, Österreich-Ungarn) hat dieses Gedicht vertont.

Das Bild ist von Józef Chełmoński (1849 - 1914)


Sonntag, 25. Juni 2023

Andreas Thom: Oft war mein Wunsch. . .

 



Oft war mein Wunsch. . .

Oft war mein Wunsch,
Ein Körnchen Sand zu werden
Um mich über Erden
Morgenwindgehoben
Jenseitsoben
Ohne müdes Zagen
In den Himmel fortzutragen.
Eitle Sucht
Einfältig frommer Träume,
Als ob mich die weiten Räume
Nicht mit allen meinen Bängen
Ewiglich in sich verschlängen;
Als ob keine Last der Weile
Mich dem Zeitlichen verbände
Und inmitten irrer Eile
Nicht aus kosmischen Gelände
Mit verstörendem Gezänke
In die Tiefe meines Selbst versänke,
Weil nur Spiel gewesen
Was mich erdenaufgelesen.

O Entzücken
Im Gelingen
Unter allen Dingen
Dieses Nichts zu sein
Mit sich allein!

Andreas Thom, aus: Die Botschaft - Neue Gedichte aus Österreich, herausgegeben von Emil Alphons Reinhardt, Ed. Strache, Wien 1920

Andreas Thom geboren als Rudolf Csmarich (* 11. Mai 1884 in Wien; † 25. Juni 1943 in Mooskirchen, Steiermark) war ein österreichischer Schriftsteller und Volksschullehrer.

Das Bild ist von Nicholas Roerich (1874 - 1947)

Otfried Krzyzanowski: Frage, Cantate

 


Frage

Ist deine Liebe wie eine Herde von Wölfen!
Lautlos rennt sie durch die endlose Steppe;
Ihnen heißt der Himmel, der endlos grau
Über den Wütigen hängt, ihr Hunger.

Oder lauerst du auf Beute:
Im Geröll als Natter verborgen?

Wer bist du? Gib acht: eine flüchtige Katze
Nimmt deine Seele mit sich.


Cantate

Ach, dir gehört die Liebe,
Leichter Flieder!
Und dir gehört die Jugend,
Leben! Tod!

Und zwischen hohen Häusern
Schreiten Mädchen,
Sie schreiten unter blauem
Himmel hin.

Und zwischen grauen Häusern

Spielen Buben.
Dir gelten Mut und Bangen:
Hohe! Welt!

Und dir gehört die Liebe,
Leichter Flieder!

Ach, dir gehört die Jugend,
Leben! Tod!

Otfried Krzyzanowski, aus: Unser täglich Gift - Gedichte, Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1919

Otfried Friedrich Krzyzanowski, geboren am 25. Juni 1886 in Starnberg, Bayern; gestorben am 30. November 1918 in Wien, Bohémien und Lyriker. Ab 1912 erschienen in Zeitschriften einige wenige Gedichte und Prosaskizzen, Er lebte zu dieser Zeit in Not und Armut. Seine Gönner fand er in den Kaffeehäusern, besonders im Café Central im Kreis um Franz Blei und Franz Werfel. Wesentlich bekannter als durch seine Werke ist er als Gestalt des Wiener Kaffeehauses. Franz Werfel verewigte ihn in seinem Schlüsselroman Barbara oder die Frömmigkeit in der Figur des Gottfried Krasny. Auch in den Werken von Alfred Polgar, Anton Kuh, Albert Ehrenstein, Otto Soyka u. a. finden sich Schilderungen Krzyzanowskis.

Während der Wirren nach Ende des Ersten Weltkrieges stirbt Krzyzanowski am 30. November 1918 durch Verhungern. Als offizielle Todesursache wird vom Wiener Allgemeinen Krankenhaus „Auszehrung“ und „Entkräftung“ angeführt.

Freitag, 23. Juni 2023

Albert Michel: Wir Jungen

 



Wir Jungen


Wir wanken angestrengt,
gepeitscht, gehetzt, entzwei gerissen;
und möchten doch nicht Freude missen
und Licht und Tag. . .
Doch unser Herze trauert,
Wir wissen nicht, was uns bedrängt
und fürchten immer einen Schlag,
der irgendwo im Ungewissen lauert.

Albert Michel

Notiz in Die Aktion, 1915: „Albert Michel, zwanzigjährig, wurde Ende Juni, als dienstpflichtiger Soldat, im Westen getötet."

Das Bild „Schicksal“ (1918) ist von Fritz Baumann (1886 - 1942)

Isidor Quartner: Ich ging dir nach. . .

 



Ich ging dir nach durch schnittreife Felder.
Wie sich da neigten die Ähren
Über deinen Weg.

Zwischen den Halmen
Beugten sich tief die demütigen Kinder
Und legten die Hände auf Stirne und Herz.

Auf den Scheiteln der Berge,
Von Wolken umhüllt,
Will ich dir dienen.

Deine Hände, die mich segnen,
Sind goldene Sonnen
Über meinem Haupt.

Mein Antlitz ist ganz verschüttet
Vom lichten Staube der Lilien,
Die in den Falten deines Kleides blühen,

Meine Stirne und meine bestirnten Brauen
Und der Boden vor dir
beten zusammen.

Nur dass deine Flügel noch im Winde rauschen. . .

Isidor Quartner, (1891, „gefallen“ im September 1915) aus: Der Sturm 1912 / 13

Das Bild (Landweg in Bergen, 1912) ist von Leo Gestel (1881 - 1941)

Mittwoch, 21. Juni 2023

Friedrich Wilhelm Wagner: Erlösung / Abend

 


Erlösung

Ein Mensch zerbrach und zerfloss in die Welt.
Da heulten die Wölfe.
Aber ein Weib hob seine Hände.
Segnend.
Da glätteten sich alle Wellen.
Und die Nacht leuchtete mild.
Und alle Fernen wurden nah und klar.
Und ein Kind sang.

Friedrich W. Wagner, aus: Die Aktion 1914


Abend

Der Tag verklingt
In einem rosenen Ton.
Das Wasser singt
Sich müde. Es dämmert schon.

Im dunklen Park
Regt sich ein leises Graun.
Vor dem Hauche der Nacht
Frösteln steinerne Fraun.

Friedrich W. Wagner, aus: Die Aktion 1915

Friedrich Wilhelm Wagner, geboren am 16. August 1892 in Hennweiler, Hunsrück; gestorben am 22. Juni 1931 in Schönberg, Schwarzwald

1911 entstand ein erster Gedichtband Aus der Enge, den er im Lehrer-Verlag von Th. Scheffer veröffentlichte. In diesem Jahr begann er zwei Semester an der Philosophischen Fakultät der Universität München zu studieren. 1912 folgte ein weiterer Gedichtband, Der Weg des Einsamen, 1913 lebte er eine Zeitlang in Paris, 1914 wieder in München. Nach einem Zwischenaufenthalt in der Schweiz war er von 1914 bis 1918 als Kriegsverpflichteter in der Gemeindeverwaltung von Bretzenheim tätig. Wagner war zu dieser Zeit morphiumsüchtig und wurde zeitweise in eine Irrenanstalt eingewiesen. Er suchte vergeblich, seine Gedichte im Kurt Wolff Verlag zu veröffentlichen, und gab sie schließlich 1918 im Selbstverlag heraus. Nach einem Aufenthalt in einer Heilanstalt in Eglfing zog er 1919 nach Hannover, wo er mit Christof Spengemann die literarische Zeitschrift Der Zweemann herausgab. Bereits 1920 verließ er Hannover wieder und gab in der Folge das Schreiben auf. Den Rest seines Lebens verbrachte er als Bankangestellter in Bad Kreuznach.

Das Bild ist von Mario Segantini (1885 - 1916)

Dienstag, 20. Juni 2023

Georg Heym: Sonnwendtag

 



Sonnwendtag

Es war am Sommerwendtag,
Dein braunes Haar im Nacken lag
Wie Gold und schwere Seiden.

Da nahmst du mir die feine Hand.
Und hinter dir stob auf der Sand
Des Feldwegs an den Weiden.

Von allen Bäumen floß der Glanz.
Dein Ritt war lauter Elfentanz
Hin über rote Heiden.

Und um mich duftete der Hag,
Wie nur am Sommerwendtag,
Ein Dank und Sichbescheiden.

Aus: Georg Heym (1887 - 1912) Dichtungen und Schriften Gesamtausgabe
Herausgegeben von Karl Ludwig Schneider Band 1 Lyrik
Verlag Heinrich Ellermann 1964

Das Bild „Johannisfeuer“ ist von Fritz Erler (1868 - 1940)

Montag, 19. Juni 2023

Bruno Frank: Vereinsamt, Wandlungen, Der Glücklichste, Neue Hoffnung

 



Vereinsamt

Viel frohe Freunde hattest du erkoren
Zu Sang und Tanz und heiterm Liebesspiele,
Doch endlich suchtest du zum eignen Ziele
Den eignen Weg  –  da hast du sie verloren.

Wie kann der Wandrer nach Vergangnem fragen?
Der Wandrer geht vorbei an manchen Orten.
Wer viel geliebt hat und geliebt ist worden,
Der hat auch viele Toten zu beklagen.

(1905)


Wandlungen

Stiller Stunden Traumgewalten
Hatten lachend wir gebannt
Und nach derberen Gestalten
Griffen wir mit fester Hand.

Nun das Sichre uns versunken,
Das Erkannte endlos weit,
Nun vertraun wir, traumestrunken,
Jener andern – Wirklichkeit.

(1907)


Der Glücklichste

So wie er Vögel über blassern Wiesen
Sich sammeln sieht und hin und wider schießen
Pfeilauf, pfeilab, pfeilaus,
Und weiß: in schönem Zuge hingetragen
Entgleiten sie nach wenig Tagen –

So mag sein Wünschen auf und nieder schwirren,
So mag sein Los mit fremdem Los sich wirren,
Ihn irrt die Irrsal nicht.
Er traut: beim großen, gar nicht fernen Fluge
Bin ich an meinem Ort im schönen Zuge.

Simplicissimus, 16. Jahrgang, Heft 33, 13. November 1911


Neue Hoffnung

Auch das enttäuschte Herz beginnt zu schlagen,
Da seidenzart der Himmel wieder blaut.
Und Liebe, scheu, will neue Flüge wagen,
Da sich die Welt voll Hoffnung auferbaut.

Vergangne Freuden gleich geheimen Sagen
Gemahnen uns, kein Guter ruft sie laut.
Doch nur ein Herz, das auf das Schöne traut,
Ein hoffend Herz nur, kann das Schwere tragen.

(1917)

Alle aus: Bruno Frank, Werke, 4. Gedichte, Stuttgart 2016




Bruno Frank, geboren am 13. Juni 1887 in Stuttgart; gestorben am 20. Juni 1945 in Beverly Hills. Er bestimmte die literarische Szenerie der 1920er Jahre in Deutschland maßgeblich und war ein namhafter Exilautor. Seine bedeutendsten Werke sind die Erzählungen Tage des Königs und Trenck, die beide um Friedrich den Großen kreisen, die Politische Novelle, mit der er die deutsch-französische Aussöhnung thematisierte, die Komödie Sturm im Wasserglas und die Exilromane Cervantes, Die Tochter und Der Reisepaß. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten Franks Werke eine kurze Renaissance, gerieten jedoch ab den 1990er Jahren in Vergessenheit.

Einen Tag nach dem Reichstagsbrand 1933 verließ er in klarer Voraussicht des kommenden NS-Terrorregimes seine Heimat. Er lebte zuerst am Luganersee in der Schweiz, dann abwechselnd in Salzburg und London, zeitweise auch in Paris und Südfrankreich. 1937 emigrierte er nach Kalifornien, wo er nach dem Ende des Kriegs 1945 starb, ohne seine Heimat wiedergesehen zu haben. In der Emigration kämpfte er literarisch und politisch gegen das Dritte Reich, zusammen mit vielen anderen namhaften Exilautoren, und unterstützte zusammen mit seiner Frau seine notleidenden Kollegen mit Rat, Tat und Geld.

(Wiki)

Die Illustration ist von Otto Friedrich Carl Lendecke (1886–1918) - Simplicissimus, Jahrgang 22, 1917

Das Foto zeigt den Dichter 1906

Sonntag, 18. Juni 2023

Gertrud Kolmar: Die Gauklerin

 



Die Gauklerin

Die gelben Vögel ängsten nie,
Wenn ich sie greifen will,
Als flaum'ge Kugeln halten sie
Dem losen Handwerk still;
Wer kennt auch grünes Gläserspiel,
Das nicht beim Sprung zerklirrt,
Den Silberreif, der läutend fiel,
Im Gleiten unverirrt ?

Es wird, was lächelnd ich geschafft,
Ein Lächeln eben wert;
Wohl keines ist so elfenhaft,
Gering und leicht entbehrt.
Ein veilchenscheuer Becher trug
Die Lehre, die ich trank,
Von grober Hölzer zartem Flug,
Von blöder Steine Schwank.

Verwahrt, was gründelos und kurz,
Die Kunst, den Seifenball,
Der farb'gen Bänder Wassersturz,
Den Regenbogenfall,
Der schweigend mischt und schnell verwischt
Ein Rätsel, das er schreibt,
Auf immer, wenn ihr wollt, erlischt
Und, wollt ihr, ewig bleibt.

Verschmäht die ungesetzte Welt,
Daran mein Wesen lebt,
Habt Mitleid mit dem runden Geld,
Das zäh am Finger klebt:
Und doch, wenn einstmals karger Raum
Mit weher Lahmheit schlug,
Beschwingt euch meinen Kindertraum
Und habt an ihm genug.

Gertrud Kolmar, aus: 49 Gedichte in 4 Räumen, geschrieben um 1933, posthum veröffentlicht

Gertrud Kolmar (Pseudonym für Gertrud Käthe Chodziesner, geboren am 10. Dezember 1894 in Berlin; Anfang März 1943 nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet.

Die Illustration ist von Mario Borgoni (1869 - 1936)

Samstag, 17. Juni 2023

Erich von Mendelssohn: Im Traume wandte sich mein Geist zurück. . .

 



Im Traume wandte sich mein Geist zurück,
Er sah und faßte tief, was längst vergangen,
Und alte Bilder, alte Worte klangen
Geheimnisvoll von längst versunknem Glück.

Dies schaute ich: ein weites Trümmerfeld
In einer klaren, reinen Winternacht,
Und über uns der Sterne Silberpracht
Mild lächelnd dieser wirren Klippenwelt.

An deiner Seite ging ich schweigend hin,
Dann blieb ich stehn und küßte dir dein Haar,
Dein stiller Zauber freute meinen Sinn.

Versunken ist die Zeit und jenes Land —
Ich weiß nicht, wo und wann es war,
Als wir so lange gingen Hand in Hand.

Aus: Erich von Mendelssohn Bilder und Farben, Privatdruck in 150 Exemplaren, erschienen Weihnachten 1911, geschrieben in den Jahren 1904-11

Erich von Mendelssohn, geboren am 18. Juli 1887 in Dorpat, war Schriftsteller, Dichter und Übersetzer, er übersetzte Werke vor allem aus dem Isländischen, Dänischen und Schwedischen. Befreundet war er mit den späteren Schriftstellern Bruno Frank und Wilhelm Speyer, als er im Landerziehungsheim Haubinda in Thüringen des Reformpädagogen Paul Geheeb Schüler war. Die Erlebnisse in Haubinda verarbeitete Mendelssohn in seinem 1913 geschriebenen letzten Roman „Nacht und Tag“.

Mit dem Jenaer Verleger Eugen Diederichs unternahm er im Juli–August 1910 eine zweite Islandreise, die offensichtlich Diederichs zur Veröffentlichung der Sammlung Thule (Thule – Altnordische Dichtung und Prosa) inspirierte, einer Buchreihe, die die nordischen Sagen und Mythen erstmals in deutscher Sprache publizierte. Von Mendelssohn trug zu dieser Reihe die 1912 im Band 13 veröffentlichten „Grönländer und Färinger Geschichten“ bei. 1913 veröffentlichte der Leipziger Insel-Verlag Mendelssohns „Die Saga vom Freysgoden Hrafnkel.“

Er starb am 17. Juni 1913 in Helsingör an einer Lungenentzündung.

Das Foto zeigt Erich von Mendelssohn 1909; Monacensia, Literaturarchiv und Bibliothek München

Freitag, 16. Juni 2023

Else Feldmann: Ein stilles Weinen ist in mir. . .

 



Ein stilles Weinen ist in mir
Und Abend ist.
Ich gehe durch die knospende Allee
Und Frühling ist.

Auf meine Wangen
Fallen weiße, allererste Blüten.
In meinem Haar
Spielt leis der Wind.

Dieses kleine Gedicht ist aus dem Roman Löwenzahn von Else Feldmann: Löwenzahn - Eine Kindheit, Rikola-Verlag, Wien, Berlin, Leipzig, München, 1921

Else Feldmann, geboren am 25. Februar 1884 in Wien. Ab 1908 veröffentlichte sie zahlreiche kleine Erzählungen sowie journalistische Berichte wie Jugendgerichtsreportagen und Texte zu sozialkritischen Themen wie Kindernot, Jugendkriminalität und die Elendsbezirke der Stadt. Ihre erste selbstständige Buchveröffentlichung war 1921 der Roman Löwenzahn – Eine Kindheit. Am 14. Juni 1942 wurde sie von der Gestapo verschleppt und drei Tage später im Vernichtungslager Sobibór, das im östlichen Polen an der ukrainischen Grenze liegt, ermordet.

Das Foto zeigt die Schriftstellerin ca. 1934

Donnerstag, 15. Juni 2023

Rudolf Borchardt: Idyllische Elegie

 



Idyllische Elegie

Eine große trauervolle Stille
Füllt den Traumweg und den schönen Garten
Meine leicht und schweren Füße folgen
Ungesehen unsichtbaren Schritten

Einer hat das Gras mit seinem Fuße
Von dem toten Brunnen weggeschoben
Einer hat die Sohle
Auf den Marmorrand gesetzt. Von Rosenhecken
Ist ein Blatt gestreift und liegt und zittert.

Eine Hand hat von der grünen Höhle
Drin das Wasser fällt den Stein geschoben
(Eine Treppe windet sich hinunter
Wenn die schwere Platte sich gelüftet)

Unsichtbarer Fuß von Beet zu Beete
Ist durch alle Blumen hingelaufen
Rätselvoller Schritt geheimer Wandrer
Durch die Grotten durch die Taxushecken

Ist es der der von dem Blütenhause
Dieser Rose flammenhaften Becher
Fortgerissen
Deren dunkles Blut ein tiefes Zeichen
Ward wie Druck von Lippen eines Gottes

Hinter sich hat er die Tür des Hauses
Nicht ins Schloß gestoßen. Duft des Abends
Ist als wärs mit Gliedern wärs mit Locken
Hergeschwebt und haftet in den Wänden

Und so folg ich jeder seiner Spuren
Und das Herz schlägt mit in meinen Brüsten
Nebenan vermein ich ihn zu hören
Jedem Winkel geisterhaft vertraulich

Hier das Bette. Hier die weite Lampe
Hier der Maske wächsernes Gebilde
Gegen dem behauchten Spiegel über
Der der Blassen blassere Antwort zuwirft

Aber welch verwegne Hand oh Lampe
Hat Dein Öl verschüttet hingegossen
Welche Hand mißgönnt mir meine Nächte
Halb im Licht halb singend zu verweinen

Einsamkeit und Einsamkeit und Schweigen
Dringt von irgendwo ein dunkles rufen
Seh ich irgendwo in einem schwarzen
Spiegel-Wasser
Ein Gesicht in Tränen und erkenn ichs
Ist es meines war es eines andren

Weiß ich dieses nicht und fühl ein andres
Rätselhaftes Haus um Deine Schwelle
Die ein tot-entrückter Fuß betreten
Haucht ein bittrer Duft ein tränenloses
Letztes Schweigen schwankt und zieht von hinnen

Schöner ist Dein Garten Deine Rosen
Voller deine Nachtigall verworrner
Deine sieben Brunnen sprechen ewig einen Namen
Und Du sprichst ihn wieder

Ja ich fühle Dich und schaudre fühlend
Lust oh Duft geheimnisvoller Nähe
Um die Dinge schwebend an den Orten
Haftende wo Liebe ging und eintrat

Stand und lauschte und sich gern verweilte


Rudolf Borchardt, aus: Gedichte aus den Jahren 1898 - 1944

Rudolf Borchardt, geboren am 9. Juni 1877 in Königsberg; gestorben am 10. Januar 1945 in Trins bei Steinach in Tirol, Schriftsteller, Lyriker, Übersetzer

„Das lyrische Schaffen Rudolf Borchardts, der zunächst dem Georgekreis verbunden war, kann nur schwer bestimmten literarischen Strömungen seiner Zeit wie der Neuromantik oder dem Fin de siècle zugerechnet werden. Infolge selbstgewählter Isolation blieb er ein Solitär, ein poeta doctus mit höchstem Anspruch an sich und andere. Er wurde geprägt vom Studium der Altertumswissenschaft und durch die Dichtungen Georges und Hofmannsthals.“ (WiKi)

Aufmerksam wurde ich auf den Schriftsteller durch das Buch „Der leidenschaftliche Gärtner - Ein Gartenbuch“, das 1951 bei Arche in Zürich posthum erschien, und das 1987 in Hans Magnus Enzensbergers Reihe „Die Andere Bibliothek“ neu aufgelegt wurde. Ein Buch, das mich als Gärtner ebenso begeistert wie als Wortliebhaber. Staunend las ich in dem als Abschluss dieses Buches beigefügten »Katalog der Verkannten, Neuen, Verlorenen, Seltenen, Eigenen« über Pflanzen, deren Namen mir nicht im Entferntesten ein Begriff waren, und dieser leidenschaftliche Gärtner wusste über jede dieser pflanzlichen Kleinode genaue Kulturanweisungen zu geben. Zum Beispiel über die Michauxia tchihatcheffii, ein Glockenblumengewächs, über das eine Staudengärtnerei schreibt: „Riesige, weiße, türkenbundähnliche Blüten, wobei die Blütengröße durchaus schwanken können. Bester Standort ist an einer trockenen Hauswand oder im sonnigen Kiesgarten. Durch die relativ schwierige Anzucht bleibt das Angebot stets beschränkt!“

Das Bild ist von Constant Montald (1862 - 1944)

Mittwoch, 14. Juni 2023

Hugo Salus: Blühende Äste

 



Blühende Äste

Meinem Fenster genüber, über die Mauer,
Steckt ein blühender Baum seine fröhlichen Äste,
Frühlingsmirakel, ein bunter Blütenschauer,
Leuchtende Fahnen zum sonnigen Frühlingsfeste!

Müssen die Leute, die da vorübergehen,
Unter dem Frühlingsbogen die Köpfe neigen,
Stehen bleiben, um lachend empor zu sehen,
Und einander das frohe Wunder zu zeigen.

Aber die jungen Mädchen, die schließen die Lider,
Als ob ein liebes Geheimnis ihnen geschehe,
Und schaun beschämt und ertappt auf die Erde nieder,
Daß nur kein Mensch, kein Mensch ihre Träume erspähe...

Hugo Salus, aus der Zeitschrift Jugend 1900

Hugo Salus, geboren am 3. August 1866 in Böhmisch-Leipa; gestorben am 4. Februar 1929 in Prag.

„Salus ist den meisten Lesern besser aus Beiträgen für die `Jugend` und andre Zeitschriften bekannt als aus seinen Gedichtsammlungen. Das ist schade, denn gerade seine schönsten Gedichte eignen sich nicht für Zeitschriften, und die sich dafür eignen, verzerren sein dichterisches Bild. Er ist ein Sänger und ein Bildner, und die Beimischung des goldigen Humors gibt keinen schlechten Dreiklang. . .“

Karl Kraus

Die Illustration ist von Heinrich Vogeler (1872 - 1942)

Dienstag, 13. Juni 2023

Heinrich Vogeler, aus: DIR

 



Hohe Blumen, steile Gräser
Zittern leis im frühlingstrunknem Duft.
Dämmernd schimmern Apfelblüten
In der hohen Abendluft.
Golden kriecht die letzte Sonne
Durch das wirre Baumgeäst
Küsst zur Nacht die kleinen Blüthen,
Küsst das kleine Finkennest.




In weissen Anemonenkissen lag
Ein graugranitner Stein.
Hier sassen manchmal wir bei Tag,
Die Hände ein in ein.

Und vor uns lag
In brauner stiller Haide
Ein blanker See,
Und wie in heller Freude
Spielten mit ihm
Die Wolken aus luftiger Höh'.

Sie zogen, wenn der Abend naht,
In weite, weite Ferne,
Und bauten Schlösser Thürm und Stadt
Wie folgten wir so gerne.

Und wenn sich dann der Abend müde streckt
Auf seinem weiten braunen Haideland,
Und wenn die Dämmrung dann das Lager deckt
Bis an den fernen, dunstgen Hügelrand,

Dann zittert lockend durch die weiche Luft
Bald mächtig schwellend in der Abendluft
Zu hohem Lied, zu vollem Schall
Der Sang der Nachtigall.



Langsam strich ich durch den alten Garten,
Wo bemooste Apfelbäume starrten
Mit den krummen Knorrenarmen
In die hohe Abendluft,
Wo im erdgen Bodenduft
Kleine weiße Glockenblumen
Auf den Gruß der Sonne warten.



Von dem Berge, durch die niedern Föhren
Stieg ich langsam, Abenddämmerschein
Grauer Winter war's, hoch über Nebelwogen,
Die von unten aus dem Thal herzogen,
Tönte rauh der Wildgans grelles Schrein.

Hinter winterkahlen Lindenhecken
Lag als wollten sie es schützend decken,
Still das weisse, rotbedachte Haus.

Träumend staunen in den alten Garten, -
Wollen sie ein Wunder stumm erwarten? -
Fenster, heimlich blinkende, hinaus.

Müde flüchtend aus den lauten Wogen
Hat es sehnend heimwärts mich gezogen.
Und das Leben, das ich gerne liess,
Tausch ich nun mit trautem Paradies.


Aus: DIR. Gedichte von Heinrich Vogeler, Worpswede. Erschienen im Insel Verlage zu Leipzig 1921 (4. Auflage)

Heinrich Vogeler, geboren am 12. Dezember 1872 in Bremen; gestorben am 14. Juni 1942 im Kolchos Budjonny bei Kornejewka, Maler, Grafiker, Architekt, Designer, Pädagoge, Schriftsteller und Sozialist. Der vielseitig begabte Künstler ist besonders durch seine Werke aus der Jugendstilzeit bekannt geworden. Er gehört zur ersten Generation der Künstlerkolonie Worpswede, sein Wohnhaus, der Barkenhoff, wurde Anfang der 1900er Jahre zum Mittelpunkt der künstlerischen Bewegung.

Montag, 12. Juni 2023

Theodor Däubler: Frieden

 



Frieden

Das blaue Meer verliebt sich in das Leben,
Und tausend Augen sind uns wohlgesinnt:
Ja, schon beginnt der Hauche Tausch, der Kräuselwind!
Und lauter Herzen fangen an zu beben.

Bald wird das Meer sich wohl zum Ufer heben.
Die kleinste Welle, die als Schaum zerrinnt,
Die Spitzenschleier um die Erde spinnt,
Mag sich dann irgendwo und ganz erheben.

Ein blauer Schmetterling hat sich verloren,
Im Blauen draußen find ich ihn nicht mehr:
Hat ihn der Strand als sein Geschenk erkoren?

Mein Herz, Dir werde nicht auf einmal schwer!
Bestimmt hast Du bereits ein Lied geboren,
Nun sing Dich aus am traumhaft blauen Meer.

Theodor Däubler, aus Das Nordlicht, Florentiner Ausgabe. Georg Müller, München u. a. 1910

Theodor Däubler, geboren am 17. August 1876 in Triest, Österreich-Ungarn; Epiker, Lyriker und Erzähler . Er starb am 13. Juni 1934 im Sanatorium St. Blasien an den Folgen eines Schlaganfalles. 1910 erschien sein Versepos „Nordlicht“ in einer ersten Fassung.

Das Bild ist von Edward Reginald Frampton (1870 - 1923)

Sonntag, 11. Juni 2023

Walter Rheiner: Die Straße

 



Die Straße

In meinem Hirn ist sie ein heller Pfad,
der unvermutet in die Wälder führt.
Oft bin ich stumm: ihr süßer Aufstieg rührt
mich fast zu Tränen, wenn in ihrem Bad

ich still verfließe. Wesen nahen sich,
die spülen leicht und einfach in mich ein.
Der Hunde, Pferde sanfter Widerschein
verklärt mir Mensch und Ding, verklärt auch mich.

Die Häuser neigen sich, mein Ohr zu küssen,
und hoch wallt eine Frau durch mildes Feld;
ich werde ihr noch oft begegnen müssen.

Dann kommen Fremde sprudelnd mir entgegen
und gehn vorbei. Doch bin ich ganz erhellt
und groß und klar, und wag mich nicht zu regen.

Walter Rheiner, aus: Die Aktion 1915

Walter Rheiner, eigentlich Walter Heinrich Schnorrenberg, geboren am 18. März 1895 in Köln; gestorben am 12. Juni 1925 in Berlin-Charlottenburg), Schriftsteller des Expressionismus.

Als er 1914 zum Kriegsdienst berufen wurde, nahm Walther Rheiner erstmals Rauschmittel – er gab damit vor, drogensüchtig zu sein, um der Wehrpflicht zu entgehen. Trotz dieses Umstands wurde er eingezogen und mit Beginn des Ersten Weltkrieges an die russische Front beordert. Eine Entziehungskur scheiterte, sein Täuschungsversuch kam 1917 ans Licht, worauf er vom Dienst suspendiert wurde und nach Berlin übersiedelte. Aus seinem anfänglich gemäßigten Drogenkonsum entwickelte sich jedoch mehr und mehr eine Sucht nach Kokain und Morphinen, die ihm letztendlich zum Verhängnis wurde. In einer armseligen Unterkunft in der Charlottenburger Kantstraße setzte er seinem Leben am 12. Juni 1925 im Alter von 30 Jahren mit einer Überdosis Morphin selbst ein Ende.

Das Bild ist von Artur Markowicz (1872 - 1934)

Samstag, 10. Juni 2023

Hermann Plagge: Heimgang im Regen

 


Heimgang im Regen

Die Dunkelheit hockt, eine graue Wachtel,
Auf den Gerüsten eines Riesenbaus.
Die Bahn stößt mich unter den Bäumen aus
Und surrt - und wird fern klein wie eine Schachtel.
Der Asphalt schimmert regenschwarz, wie Eis,
Darin man Wassertümpel eingeschlagen.
Gestalten stelzen fort in hohen Kragen.
Ein Auto spritzt brutal durch das Geschmeiß.
Ich bin so plötzlich aus der Stadt entrückt.
Der böse Regen pladdert auf den Park.
Kieswege werden weich und weiß wie Quark.
Bänke stehen leer und schroff zurechtgerückt.
Ferne schrein Autos hilflos und verirrt.
Ein Teich im Park glänzt tintig und verdickt.
Die goldenen Fische sind im Schlamm erstickt. . .
Ein Denkmal steht am Ufer weiß und friert.

Hermann Plagge, aus: Die Aktion 1915


Hermann Plagge, geboren am 11. Juni 1888 in Weener, gestorben am 16. September 1918 in Mainz, wo er beim Baden ertrank. Seine Tätigkeit als Schriftsteller begann mit eher lokalen Beiträgen für die Zeitungen Hannoverland, Das Land und Weser-Zeitung. Durch Oskar Kanehl, dem Herausgeber des Wiecker Boten, bekam er Kontakt zu Franz Pfempferts Zeitschrift Die Aktion.

„Plagge freute sich, im Gegensatz zum Großteil seiner Dichterkollegen, nicht über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er notierte die Erlebnisse als Soldat sofort äußerst distanziert und hielt seine Beobachtungen nüchtern fest. Das für diese Zeit typische Pathos blieb ihm fremd. Er vermied abstruse Überhöhungen, hielt nicht an Traditionen fest und schrieb ohne Reime und ausgesprochen frei. Er entwickelte eine eigene Form und bewegte sich im frühen Übergang vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit.“ (Wiki)

Von ihm sind Gedichte Heft Nr. 53 der Lyrik-Reihe „Versensporn“ neu aufgelegt und editiert worden.

Das Bild ist Hans Baluschek (1870 - 1935)

Freitag, 9. Juni 2023

Carl Dallago: Wünsche

 



Wünsche


Viel Sonne!
Soviel Sonne als nur möglich.
Einen Himmel klar und blau und licht
Wie ein süßes Angesicht.
Rote Wolken um die Sonne
Und ein Bett im Haidekraut
Hoch und plan, um weit zu sehen
Wie es lebt und blüht und taut.
Fernher tiefen Glockenklang,
Den die Winde halb verwehen.
Eine süße, schmale Hand
In der meinen,
Zweier Augen lieben Schein
Um mich her,
Die mich wiegen:
So zu zweien ganz allein - -
Weithin Ruhe! Ruhe! Ruhe -

Aus: Ein Sommer, Liederreigen von Carl Dallago, Berlin E. Ebering 1901

Carl Dallago, geboren am 13. Januar 1869 in Bozen, Österreich-Ungarn; gestorben am 18. Januar 1949 in Innsbruck), Schriftsteller und Naturphilosoph.

Dallago war ein radikaler Kritiker des Bürgertums, deren Angehörige von ihm als „Philister“ bezeichnet wurden, sowie der Katholischen Kirche und galt als „enfant terrible“ in der Tiroler Literaturszene des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Von 1922 bis 1926 lebte er mit seiner Familie in Nago am Gardasee, wo er die Werke Die rote Fahne un Die Diktatur des Wahns verfasste, in denen er Kritik an Mussolinis faschistischem Regime übte.

Ab 1932 in Arzl in Nordtirol beheimatet, war Dallago ein überzeugter Gegner des Nationalsozialismus. (Wiki)

Das Bild ist von Alphonse Osbert (1857 - 1939)

Jakob Wassermann: Ein jeder Tag / Wie liegt das Land in Blüten weiß

 



Ein jeder Tag


Ein jeder Tag wird mir so lang.
Ach, wie so schwer die Nacht
Wenn ich sie wieder hingebracht
Traumlos und jesusbang.

Der Orgelton beim Abendmahl
Macht mir vor Leid die Wangen fahl
Und betend fall' ich nieder.
Wie duftet süß der Flieder


Wie liegt das Land in Blüten weiß


Wie lag das Land in Blüten weiß.
Mir ist bei Gott die Seele heiß
Ich bin so fremd geworden.
Ich hab' der Tage viel verweint,
Bin froh, wenn keine Sonne scheint
Bis an des Todes Pforten.

O, käm doch wer und trüge mich
Wohl in ein fernes Land,
Hast mir die Seele wundgebrannt
Ich wollt' dein Buhle schlüge dich.

Es steht ein Baum auf grüner Heid
Gar einsam in der Frühlingszeit,
Will träumen, will träumen,
Muß halt sein Glück versäumen.

Im Schlaf erschreckt mich dein Gesicht,
Es blinkt das scheue Morgenlicht
Ins Fenster meiner Kammer.
Ich krieche furchtsam aus dem Stroh
Und nehme des Erwachens froh
Die Kutte von der Klammer.

Wie liegt das Land in Blüten weiß,
Es kräht der Hahn, es springt die Gais
Wie müd' sind meine Hände!
Du weißt ja nicht, wie Liebe thut.
Oh hätt' ich nur ein Särglein gut
Damit ich Ruhe fände.

Jakob Wassermann, aus: Simplicissimus, 1. Jahrgang Heft Nr. 4, 25. 4. 1896


Jakob Wassermann, geboren am 10. März 1873 in Fürth; gestorben am 1. Januar 1934 in Altaussee. Er zählte zu den produktivsten und populärsten Erzählern seiner Zeit. Gleichzeitig mit der Bücherverbrennung 1933 in Deutschland wurden seine Bücher verboten, obwohl er bis dahin einer der meistgelesenen Autoren war. Das bedeutete für ihn nicht nur den materiellen Ruin, sondern vor allem den Zusammenbruch seiner lebenslang gehegten Hoffnungen, durch sein Werk mithelfen zu können, eine Welt des Friedens ohne nationale Spannungen und ohne Rassenhass aufzubauen. Wassermann starb am 1. Januar 1934 im Alter von 60 Jahren in Altaussee, verarmt und psychisch gebrochen.

Das Bild ist von Claude Monet (1840 - 1926)

Das Portrait des Schriftstellers von 1899 ist von Emil Orlik (1870 - 1932)

Mittwoch, 7. Juni 2023

Joseph von Eichendorff: Mondnacht

 



Mondnacht

Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt’.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Joseph von Eichendorff (1788 - 1857), schuf damit eines der bekanntesten (und beliebtesten) Gedichte deutscher Sprache, geschrieben um 1835, erstmals veröffentlicht 1837. Thomas Mann nannte es „die Perle der Perlen“, und Theodor W. Adorno empfand, „als wäre es mit dem Bogenstrich gespielt“. Die Lyrikerin Ulla Hahn meinte: „Innere und äußere Landschaft verschmelzen miteinander“. Peter Paul Schwarz sprach von „einer Verwandlung oder Verzauberung der Wirklichkeit“, und Wolfgang Frühwald von der „orphischen Melodie der Nacht“. (Wiki)

Das Bild ist von Henry Farrer (1844 - 1903)

Dienstag, 6. Juni 2023

Friedrich Hölderlin: Der Spaziergang

 



Der Spaziergang

Ihr Wälder schön an der Seite,
Am grünen Abhang gemalt,
Wo ich umher mich leite,
Durch süße Ruh bezahlt
Für jeden Stachel im Herzen,
Wenn dunkel mir ist der Sinn,
Den Kunst und Sinnen hat Schmerzen
Gekostet von Anbeginn.
Ihr lieblichen Bilder im Tale,
Zum Beispiel Gärten und Baum,
Und dann der Steg, der schmale,
Der Bach zu sehen kaum,
Wie schön aus heiterer Ferne
Glänzt einem das herrliche Bild
Der Landschaft, die ich gerne
Besuch′ in Witterung mild.
Die Gottheit freundlich geleitet
Uns erstlich mit Blau,
Hernach mit Wolken bereitet,
Gebildet wölbig und grau,
Mit sengenden Blitzen und Rollen
Des Donners, mit Reiz des Gefilds,
Mit Schönheit, die gequollen
Vom Quell ursprünglichen Bilds.

Friedrich Hölderlin, geboren am 20. März 1770, gestorben am 7. Juni 1843 (Gedichte 1806 - 1843)

Das Bild ist von Ferdinand Hodler (1853 - 1918)

Montag, 5. Juni 2023

Peter Baum: Die Rosen glühn / Weltfremd / Eiserne Brücken. . ., Else Lasker-Schüler: Peter Baum

 



Die Rosen glühn
                                                    
Die Rosen glühn so abendrot,
Die blauen Wipfel stehn geneigt
Vorm Hauch, der überm Dämmer geigt,
Die Rosen glühn so abendrot.

Dort, wo die Sonne niederging,
Noch ihre Totenfackel steht
Auf Gräsern, die der Wind zerweht,
Dort, wo die Sonne niederging.

Es schwebt ein schwarzer Schmetterling,
Wie eine Seele anzusehn,
Der möchte in die Fackel wehn,
Dort, wo die Sonne niederging.


Weltfremd

Tief ist die Sonne schon hinabgeloht.
Ein letztes Blinken überm Villendache!
Der Mond steht überm Sumpfe – scharlachrot,
Als stiege er aus einer blut’gen Lache.
Kein Windhauch geht, die Luft ist still und schwül,
Ein Nachen dämmert regungslos im Teiche.
Darüber schattet eine mächtige Eiche
Und spiegelt schwarz sich in dem Wasserpfühl.

Seltsame Stille! Als ein Kind ich war,
Nannt’ ich dich Heimat, und in Knabenjahren
Bin oft ich, wenn die Sonne müde war,
Im Abendglanze auf dem Teich gefahren;
Nun droht so geisterhaft mir tote Zeit,
Vergebens will ich altes Leben fassen –.
Nur mit dem Sphinxgesicht, dem toten, blassen,
Schaut kalt und fremd mich an die Einsamkeit.

Peter Baum, aus Gott - Und die Träume (1902) in Gesammelte Werke, Band 1, Ernst Rowohlt Verlag 1920

Eiserne Brücken, durch die Luft getragen,
Sind in der Nacht mit Lichtern ausgeschlagen.
Und der du Feind im fremden Graben stehst,
Im stillen Schnee in gleichen Träumen wehst.
Fremd zwischen Völkern, die sich mordend hassen,
Sind Menschen wir, die bei den Stirnen fassen.
Und über Schlangen, die die Tode schwingen,
Erhebt sich schweigend von uns gleiches Singen.

Peter Baum, aus: Schützengrabenverse. Verlag Der Sturm, Berlin 1916


Peter Baum

Er war des Tannenbaums Urenkel,
Unter dem die Herren zu Elberfeld Gericht hielten.

Und freute sich an jedes glitzernd Wort
Und ließ sich feierlich plündern.

Dann leuchteten die beiden Saphire
In seinem fürstlichen Gesicht.

Immer drängte ich, wenn ich krank lag,
„Peter Baum soll kommen!!“

Kam er, war Weihnachten –
Ein Honigkuchen wurde dann mein Herz.

Wie konnten wir uns freuen!
Beide ganz egal.

Und oft bewachte er
Im Sessel schmausend meinen Schlummer.

Rote und gelbe Cyllaxbonbons aß er so gern;
Oft eine ganze Schüssel leer.

Nun schlummert unser lieber Pitter
Schon ewige Nächte lang.

„Wenn ich Euch alle glücklich erst
Im Himmel hätte –“

Sagte einmal gläubig zu den Söhnen
Seine Mutter.

Nun ist der Peter fern bewahrt
Im Himmel.

Und um des Dichters Riesenleib auf dem Soldatenkirchhof
Wächst sanft die Erde pietätvoll.

Else Lasker-Schüler, aus: Gesammelte Gedichte, Verlag der weißen Blätter, Leipzig 1917

Peter Baum (* 30. September 1869 in Elberfeld; † 6. Juni 1916 bei Keckau/Riga)

In Berlin gehörte er von 1892 bis zur Auflösung des Dichtervereins 1898 dem „Tunnel über der Spree“ an. Seit 1898 stand Baum in Verbindung zum Autorenkreis um Peter Hille. Eine Freundschaft verband ihn mit Herwarth Walden, an dessen Zeitschrift „Der Sturm“ er mitwirkte. Baum war Mitglied der lebensreformerischen Vereinigung „Die Kommenden“ und stand der „Neuen Gemeinschaft“ nahe. Er galt als engster Vertrauter von Else Lasker-Schüler. Nach der Scheidung seiner ersten Ehe mit Johanna Mathilde Stivarius im Jahre 1913 war er mit der Künstlerin Jenny Boese verheiratet. Peter Baum, der sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges als Freiwilliger gemeldet hatte, „fiel“ 1916 im Baltikum.

In der Reihe Versensporn -  Heft für lyrische Reize, Edition Poesie schmeckt gut,  ist das Heft Nr. 15 dem Dichter gewidmet. 

Spuk

Und der Große im weißen Bart nimmt den Knaben auf seinen Schoß und lehrt ihn mit Namen nennen die Wunder der Luft – die Vögel, die dicht an den grauen Wolkenwäldern dahingleiten, und all die anderen Tiere, die man fängt und jagt. Und er lehrt ihn mit Namen nennen die Sträucher, die ihre Finger zusammenschließen, wenn ein Wind kommt und die Schmetterlinge, die morgens ihre Kelche ausbreiten, wie kleine auffliegende Himmel.

Und dann baut er dem Knaben noch eine Welt über dieser Erde auf – eine Welt, die aus Klängen und Buchstaben, über unsere Flüsse und Wälder hinweg – ein Riesenbau – in die Luft steigt.

Und Hans lernt und fasst mit seinem morgenjungen und doch geschlechteralten Hirn alles, was ihm verwandt ist und lässt alles Fremde wieder fortfliegen, wie Vögel aus der flachen Hand.

Manchmal sieht ihn der Alte bekümmert an: Wir sind altes Geschlecht. Wir mögen uns nicht mehr mühen. – – –

Hans wird das ganze Leben – die Wälder, Felsen, Flüsse und Kinder – zum Märchen, er selbst zum Zauberer.

Aus: Peter Baum: Spuk. Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Berlin 1905

Sonntag, 4. Juni 2023

Thekla Mervin: Dämmerung

 



Dämmerung

Am Horizont verblasst das Abendrot,
Grau wird der letzte rosenfarb’ne Strich,
Nacht, Schlaf und Tod
Vermischen ihren Atem wunderlich.

Der Wind seufzt leise, und dann schweigt die Flur,
Unwirklich ist das Sein, sind ich und du,
Und allen Dingen bleibt nur die Kontur
… Seele, du wanderst fernen Tagen zu.

Du wanderst und du wanderst ohne Rast,
Bis sich der Schoß, der alle Pflanzen hält,
Dir öffnet, dir, der Erde flüchtigem Gast –
Dann wirst du selbst ein Teil der stummen Welt.

Du bist die Dryas, die im Dämmer nickt,
Der Bach, der durch den stillen Abend fließt,
Der Stein, der eine letzte Stätte schmückt,
Die Blume, die aus morschem Leibe sprießt.

Und tiefste Ahnung peinigt dich und droht,
Mit dunkeln Augen naht das Ewige sich
… Nacht, Schlaf und Tod
Vermischen ihren Atem wunderlich.

Thekla Mervin, aus: Neues Wiener Tagblatt, 15. Mai 1921

Thekla Merwin, österreichische Schriftstellerin, wurde am 25. April 1887 in Riga geboren.

1911 erschienen Merwins erste Publikationen, anfangs noch gezeichnet mit Thekla Merwin-Blech. Sie veröffentlichte Gedichte, Feuilletons, kurze Prosawerke und Dialoge in dutzenden Zeitschriften und Zeitungen, eine selbstständige Publikation kam jedoch nicht heraus. 1933 wurde sie Mitglied der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller. Thekla und Magda Merwin wurden am 24. September 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert. Mit dem Transport vom 19. Oktober 1944 wurden Mutter und Tochter ins KZ Auschwitz-Birkenau gebracht und am 20. Oktober 1944 in der Gaskammer des Krematoriums III ermordet.

Die Illustration ist von Charles Allen Winter (1869 - 1942)

Samstag, 3. Juni 2023

Georg Kaiser: Auf jedem Markt

 


Auf jedem Markt

Auf jedem Markte dies: das Mal des Unbekannten.
Wer aus des Hauses Sicherheit vorüberzieht,
soll immer so erinnert sein, des Ungenannten,
daß alles das mißlang, was euch so gut geriet.

Er strich auf wehen Sohlen durch die kalten Straßen
und sucht´ ein kaltes Lager auf dem harten Stein -
er wagte nie die Bitte, ihn doch einzulassen
und euer lieber Nächster eine Nacht zu sein.

Ihr saßet dreimal satt an den bedeckten Tischen
und voll Behagen rundum im erwärmten Raum -
und da er zögernd pochte, war es von den Fischen
der Rest, den ihr verschmäht, ihm reichtet, kaum.

Er war nur einer derer, die sich selbst verbannten
und tiefster Einsamkeiten hoher stiller Held -
Errichtet auf dem Markt das Mal des Unbekannten
ihm, wenn er lautlos zwischen euch zusammenfällt.

Aus: „An den Wind geschrieben - Lyrik der Freiheit 1933 - 1945“, gesammelt, ausgewählt von Manfred Schlosser unter Mitarbeit von Hans-Rolf Ropertz, Agora, eine humanistische Schriftenreihe, Darmstadt 1961

Georg Kaiser, geboren am 25. 11. 1878 in Magdeburg war ein deutscher Schriftsteller. Er war der erfolgreichste Dramatiker der expressionistischen Generation. Mit seinem 1917 in Frankfurt am Main aufgeführten Drama Die Bürger von Calais (1912/13) errang Kaiser einen ersten großen Erfolg. In diesem Stück geht es um die moralische Haltung, „den Hass ... durch Menschenliebe und stellvertretendes Opfer zu überwinden“. Seine Werke wurden ein Opfer der Bücherverbrennung vom 10. 5. 1933 Trotzdem versuchte er, noch in Deutschland zu bleiben. Er schloss sich Widerstandskreisen an und verfasste Flugblätter. Erst kurz vor einer Gestapo-Hausdurchsuchung flüchtete er 1938 in die Schweiz. Kaiser, der sich seit November 1944 auf dem Monte Verità in Ascona aufhielt, starb dort am 4. Juni 1945 an einer Embolie. In seinen letzten Lebensmonaten schrieb er noch mehr als 150 Gedichte.

Das Foto zeigt Georg Kaiser vor 1921

Freitag, 2. Juni 2023

Grete Edsen: Eine Näherin dichtet

 



Eine Näherin dichtet


Ich bin nicht arm, ich hab´ ein kleines Zimmer.
Ein Geranientopf blüht unter der Gardine.
Am weißen Fensterbrett, im Sonnenflimmer
steht die bald abbezahlte, neue Nähmaschine.

Ich bin nicht schön, mein Spiegel sagt es täglich;
zeigt mir kein jugendfrisches Angesicht.
Doch ist mein Ruf, ich sei recht still, verträglich,
und tät´ als Näherin stets meine Pflicht.

Ich bin nicht jung, ich habe nie geblüht.
Die Jugend liegt in weiter, weiter Ferne.
Es hat sich niemand recht um mich gemüht -
nur Kinder haben mich zuweilen etwas gerne.

Einmal kam er, ein entfernt Verwandter,
ein blonder, niedriger Unterbeamter.
Der war wie alle Männer sind,
und ließ mich sitzen - ohne Kind.

Das war ein Schmerz, oh, dass er ging,
sich nicht in meinem Netz verfing.
Hätt´ ich ein Kind von ihm besessen,
wie leicht könnt´ ich ihn dann vergessen.

Es hat sich niemand um mein Wohl gebangt.
Ich bin von allen eigentlich gemieden.
Es gibt keinen, der nach mir verlangt.
Ich bin nur einsam - sonst bin ich zufrieden.

Grete Edsen, aus der Zeitschrift UHU, Band 7, 8. Mai 1930. Über die Dichterin habe ich leider nichts herausfinden können.

Das Foto zeigt eine Näherin um 1930

Donnerstag, 1. Juni 2023

Bess Brenck-Kalischer: Schöpfung / Du / Lucifer / Prometheus

 



Schöpfung

War einsam
Barg seine Träume in Nacht.
Und einmal zwang er sie zur Gestaltung.
Erkannte, wandte sich
Barg seine Träume in Nacht.


Du

Wie fühlte ich mich tief,
Neige Du Deinen Kelch,
Dringe.
Die sieben zitternden Hüllen
Litt ich um Dich
Du.


Lucifer

Die Schrift erblich
Dies einzige Mal.
Lucifer drang in die Tiefe.
Nun trägt er durch Gestirne
Den Traum des doppelten Tages.
Die Abkunft des Sohnes,
Sein.

Bess Brenck-Kalischer, aus: Die neue Jugend, Juni 1914, auch in: Dichtung (Dichtung der Jüngsten, Band I). Dresdner Verlag von 1917, 1917


Prometheus

Otto Gross

Urgestein, Blut durchsickert,
Zackige Fahne – Prometheus
Stürmt das Feuer der wachen Pforte,
Streut es jauchzend den Völkern der Erde,
Aber die Vielen betrüben die Glut,
Biss und Hass spaltet den Brand,
Verqualmtes Geschlinge.
Da rang sich Prometheus wider dem Felsen,
Zwang von Neuem in jede Spalte
Heiligen Samen.
Nun quillt es leise
Um keusche Knospen,
Demütig zu lösen
Die Wehe der Welt.

(1913)


Wenn du im Grauen die Zeichen durchdringst.
Vogelflug kommende Sonne kündet.
Beuge, o beuge dein Haupt.
              Mensch,
Du wardst Sein.

Aus: Bess Brenck-Kalischer, Dichtung (Dichtung der Jüngsten, Band I). Dresdner Verlag von 1917, 1917

Bess Brenck-Kalischer, geboren als Betty Levy am 21. November 1878 in Rostock; gestorben am 2. Juni 1933 in Berlin.

1905 veröffentlichte sie erste Gedichte in der Zeitschrift „Charon“. 1906 Heirat mit dem Schriftsteller Siegmund Kalischer (1880–1911). Veröffentlichung von Gedichten und Prosa in den Zeitschriften „Neue Jugend“ (1914) und „Die schöne Rarität“ (1917). Spätestens seit 1917 lebte sie in Dresden-Hellerau, dort war sie Mitbegründerin der Expressionistischen Arbeitsgemeinschaft Dresden. 1922 erschien ihr Roman Die Mühle.

Die Illustration ist ein Holzschnitt, „Verkündigung“, von Walter Otto Grimm (1894 - 1919), der ebenfalls der Expressionistischen Arbeitsgemeinschaft Dresden angehörte.

Otto Gross (1877 - 1920) war Psychoanalytiker und Psychiater, der eine Zeit lang in Ascona lebte und dort dem Umkreis der Gruppe um den Monte Verità angehörte, und 1913 der Gruppe um Franz Pfempfert und der Zeitschrift Die Aktion.

Gedichte von Bess Brenck-Kalischer wurden auch im Versensporn. Heft für lyrische Reize Nr. 3. Edition Poesie schmeckt gut, Jena 2011 neu veröffentlicht.