Freitag, 30. Juni 2023

Karl Wolfskehl: Mittelklasse 1933 / Wir sind gefeit / Ich trags mit euch

 



Mittelklasse 1933


Erst stürmten sie mir fast die Bude:
Wir helfen. Schand ists. Bist so nett!
Dann hieß es: Achtung! Er ist Jude.
Mit denen hat man nur G´frett.

Es gab ein Schwänzeln und Scherwenken,
Der bog ums Eck, der grüßte flau.
„Wir haben auch nichts zu verschenken.
Man stellt sich bloß und seine Frau!“

„Ich bin sklerotisch.“ „Ich bin Gelehrter.“
„Ein Künstler ich, es tut mit leid.“
„Schaug selber wo´sd´ bleibet, Bazi Gscherter.“
„Mich bindet mein Beamteneid!“

So ist denn jeder eingeordnet,
Baut, kaut, verdaut den gleichen Kohl.
Ein Spießer ist man und ka Lord net,
Duckt, drückt sich, flüstert: Lebewohl!

Ihr könnt mich alle nicht enttäuschen,
Gelassen folg ich meinem Stern.
Bei euern Weibern, Ängsten, Räuschen
Bleibts fein zu Haus und - habt mich gern!


Wir sind gefeit


Das letzte Korn vom Menschentume
Reißt euch heraus mit Stumpf und Stiel,
Zertretet nur die letzte Blume
Der Herzen, nie kommt ihr ans Ziel!

Treibt uns aus allen euren Werken,
Dass keiner blickt in euer Spiel:
Was ihr beginnt, wer solls nicht merken?
Noch unsre Blinden sehn zuviel!

Ihr könnt uns nimmermehr versehren,
Und wenn ihr unser Letztes rafft -
Wir stehn vorm Gotte unsrer Lehren.
Erwählt, gesalbt von seiner Kraft.

Ihr könnt uns nimmermehr verblöden:
Verschließt ihr uns des Wissens Tor:
Er überleuchtet unsre Öden
Hebt uns in seinem Glanz empor.

Ihr könnt uns nimmermehr entehren,
Kein Schimpf, kein Fluch, wir sind gefeit!
Und seine erstgebornen Söhne,
Uns traf ein Ruf: macht euch bereit!

Frei ziehn wir weiter, auserkoren,
Ob unserm Weg sein Himmel weit,
Sein Bund mit uns aufs neu beschworen,
Von seinem Wort das Ziel geweiht!

Geschrieben 1934


Ich trags mit euch

Ich sag für euch
Von Sünd und Angst und Hoffen,
Bin aller Mund
Tu allen kund:
Wollt nur! Das Thor ist offen!

Ihr riefet nach
Ihr liefet nach
Wie ich des Landes Söhnen:
„Verhüllt die Zeichen
Wir sind die Gleichen,
Die gleichen Bräuchen fröhnen!“

So ging es lang
Verfing es lang
Bis unsres Frevels Schale
War übervoll,
Und seinen Zoll
Gott hob mit einem Male.

Zersplissen sind
Gerissen sind
Gespinste, Fäden, Bande.
Verruf, Hohn, Hassen -
Wir stehn verlassen,
Gebannt im Varerlande.

Doch schwerste Not
Doch hehrste Not
Zerbrach des Truges Scherbe.
Im Vaterlande
Erfuhrt ihr Schande.
Auf zu der Väter Erbe!

Obs würgt und webt
ER bürgt und weht
Um uns in sanftem Sausen:
„Nun seit gestrost,
Erlost, erlost,
Daheim heiß ich euch hausen!“

Karl Wolfskehl, aus: Autographs Collection 1933 - 1948, Leo Baeck Institute, New York

Karl Wolfskehl, geboren am 17. 9. 1869 in Darmstadt, gestorben am 30. 6. 1948 im Exil in Auckland, Neuseeland. Er war aktiv im Münchner Kreis um Stefan George, mit dem er von 1892 bis 1919 die Zeitschrift „Blätter für die Kunst“ und 1901 bis 1903 die Sammlung „Deutsche Dichtung“ herausgab.

Karl Wolfskehl hat sich über den Charakter des Regimes der Nationalsozialisten nichts vorgemacht. Während andere seiner Freunde, vornehmlich aus dem Georgekreis, noch abwarteten, reiste er am Tage der Machtergreifung über Basel erst ins italienische, 1938 ins neuseeländische Asyl, ins Antithule, wie er die Insel am entgegengesetzten Teil der Erde nannte, so weit von Deutschland weg wie irgendwie möglich.

Das Foto zeigt Karl Wolfskehl im September 1935

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