Samstag, 5. Juli 2025

Reinhard Goering: Wie in sanftem Kahn. . . / Wir gleichen solchen, die auf hohem Meer. . .

 



Wie in sanftem Kahn. . . 

Wie in sanftem Kahn
An ein Zauberreich
Trieb ich an den Morgen an
Aus der Nacht, dem dunklen Teich.

Zauberhaft die Welt
Neu für mich gemacht
In den Strahl gestellt
aus der andern Nacht.

Wie – ihr tiefster Sinn,
Ich – zur ihr bereit,
Wunderbar gelandet bin
Aus der Nacht Unendlichkeit.


Wir gleichen solchen, die auf hohem Meer. . . 

Wir gleichen solchen, die auf hohem Meer,
Umhüllt von Dunkel, ziehn ins Unbekannte.
Zufall am Steuer, Tod des Schiffes Herr,
Der Hauch im Segel ist das Ungenannte.

Zwei- oder dreimal wird es Licht,
Dann löst Erstarrung sich und alles Grauen
Vor eines andern göttlichem Gesicht,
Daraus noch schön die ewigen Sterne schauen.

Dann grüßt der Gleiche stumm den teuren Gleichen
Und es geschieht, dass, eh das Licht verblich,
Sie sich den Mund zu einem Kusse reichen
Und so ihr Scheiden heißt: Ich liebe dich!

Aus: Reinhard Goering, Prosa, Dramen, Verse, München 1961

Reinhard Goering, geboren am 23. Juni 1887 auf Schloss Bieberstein, Hessen; gestorben Mitte Oktober 1936 in Bucha bei Jena, Schriftsteller des Expressionismus.

1912 erschienen mit einigen Gedichten in einer Anthologie erstmals Texte von Goering, ebenso wie der im Folgejahr 1913 erscheinende Roman Jung Schuk blieben sie aber fast ohne Widerhall bei Publikum und Kritik.

Die Frühsommermonate der Jahre 1915 und 1917 bis 1919 verbrachte er in der Aussteigerkolonie Monte Verità von Ascona, zeitweise als Einsiedler in dem Vogelfängerturm „Roccolo“ lebend. Unter dem Einfluss des Dichters und Naturpropheten Gusto Gräser unternahm er seine „buddhistische Wanderung“. In einem Versuch der Loslösung von allen gesellschaftlichen Bindungen führte Goering für kurze Zeit das Leben eines wandernden Bettlers. Nach seiner Rückkehr zur Familie schrieb er in rascher Folge vier weitere Schauspiele, bevor er fast vollständig verstummte.

Das Bild ist von Karl Wilhelm Diefenbach (1851 - 1913)


Freitag, 4. Juli 2025

Frieda Mehler: Gebet

 



Gebet

Aller Urgrund meiner Ruh’
Bist Du!
Du bist in mir, und weil Du in mir bist.
Bin ich, lebe ich, unsterblich Leben zu jeder Frist,
Und meine Seele jauchzt Dir zu.
Aller Urgrund meiner Unruh’
Bist Du!
Ich bin ein ewig Werden und Vergehen,
Ein rauschend Strömen, Niemals-stille-stehen,
Und meine Seele strömt Dir zu.
Aller Urgrund meines Sein
Ist Dein.
Du nimmst mein Herz in Deine Hände,
Wende und ende
Mein Leid und lass’ mich stille sein.

Dann aber werde ich von hinnen gehen,
Zum großen Tor der Ewigkeit gewandt,
Ich werde zögernd an der Pforte stehen,
Und nach dem Riegel, tastend, sucht die Hand.
Was ich gewesen, fällt von mir herab.
Was ich gewollt, getan, geträumt, gedacht,
Und was ich forderte und was ich gab,
1st die Sekunde einer kurzen Nacht.
Verschwunden ist das irdische Geschehen.
Ich bin ein Teil noch jener großen Macht,
Die mich ins Irdische hinein gesandt,
Um einst zu neuem Leben zu erstehen.
Nicht Ziel und Ende —
Anfang ist das Grab.

Aus: Wir - Gedichte von Frieda Mehler, Berthold Levy / Jüdischer Buchverlag, Berlin 1937

Frieda Mehler, Dichterin und Kinderbuchautorin, geboren am 20. Mai 1871 in Halberstadt. Am 28. Februar 1939 emigrierte sie in die Niederlande. Am 2. Juli 1943 wurde sie vom Lager Westerbork in das Vernichtungslager Sobibor deportiert, wo sie wahrscheinlich am 5. Juli 1943 ermordet wurde.


Donnerstag, 3. Juli 2025

Fritz Brügel: Landschaft in der Ostravica / Fremdes Land / Brief an einen Arbeiterdichter in Dachau

 



Landschaft in der Ostravica


Hier starben viele; Abend ist verschwiegen;
der unerlöste Himmel ist verbrannt!
Es droht der Fluß! Vermeide seinen Strand,
Es wird sein Atem deinen Traum besiegen.

Der Landschaft Schatten habe ich erkannt
und seltene Vögel sah ich sichtbar fliegen;
nie wird sich Licht um diese Berge schmiegen
und ihre Felsen faulen früh im Sand.

Es war ein Wald und Bäume waren nah -
oh, ungeahnten Äthers Tag und Tau -
wie eine Fahne wölbte sich das Blau,
das an dem Himmel dieser Zeit geschah,
Ich war der Dämon, der in trunkener Schau
das Land der Sünde heilig schweigen sah!


Fremdes Land

Oh, fremdes Land der bunten Fahnen
und fremdes Wort, das mich bezwang.
In hellen Fenstern brennt Gesang.
Musik läßt tiefen Kummer ahnen.

Ich werde niemals heimwärts kommen,
mich schlug der Weg ins Labyrinth.
Aus dunkler Kirche bringt der Wind
das stumme Lied der wahrhaft Frommen.

Ich bin im Dunkel und verkünde
zu fremder Uhr die fremde Zeit.
Ich seh´ dich nicht, ich bin zu weit,
ich bin im Dunkel und erblinde.

Fritz Brügel, aus: Drei Gedichte, in Die Wage, 17. III. 1923


Brief an einen Arbeiterdichter in Dachau


Lieber Freund! Wir können uns nicht sprechen,
Weil man dich aus der Gemeinschaft strich,
Um dir Geist und Ehre zu zerbrechen,
Denn - die mächtigen Feinde fürchten sich,
Fürchten sich vor uns, die gar nichts haben
Als der Wahrheit Wort und das Recht,
Das sie täglich töten und begraben,
Das sich täglich aufzustehn erfrecht.
Unsre Feinde fürchten die paar Worte,
Die man nächtens für die Zukunft schrieb,
Und sie hoffen, daß dein Herz verdorrte,
Weil die Mörderfaust dich niederhieb;
Doch ich weiß, was sie auch immer machten,
Was sie dir an Schimpf und Qual verhängt;
Du wirst diese Meute stumm verachten,
Die, bewaffnet, zehn um einen drängt.

Mitten unter euch, wie ihr im Lager,
Hat sich als Genossin euch gesellt:
Mutter Deutschland, aufgereckt und hager,
Wundgeschlagen, aber nicht gefällt.

Sie wie ihr erwartet eine Stunde,
Sie wie ihr ist vor Empörung bleich,
Sie wie ihr weiß, daß sie einst gesunde,
Sie wie ihr harrt auf das freie Reich!
Sie wird eines Tages allen sichtbar
Sich erheben und zum Aufruhr schrein,
Dann ist der Bedränger Meute sichtbar. . .
Und ihr Werk wird nie gewesen sein!

Fritz Brügel, unter dem Pseudonym Wenzel Sladek, in Bunte Woche, Nr. 3, 21. 1. 1934, Wien

Fritz Brügel, geboren am 13. Februar 1897 in Wien; gestorben am 4. Juli 1955 in London. Er wuchs in Prag auf und studierte Geschichte an der Universität Wien. 1921 promovierte er mit einer Arbeit über die Geschichte der Deutschen in Böhmen zum Doktor der Philosophie. Anschließend war er Leiter der Sozialwissenschaftlichen Studienbibliothek der Wiener Arbeiterkammer. Nach dem Scheitern des Februaraufstandes 1934 floh Brügel in die Tschechoslowakei. Nachdem ihm 1935 die österreichische Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, nahm er die tschechoslowakische an. Er war als Legationsrat im Außenministerium der Tschechoslowakei tätig und lieferte Beiträge für verschiedene Zeitschriften. 1936 führte ihn eine Reise in die Sowjetunion. Nach dem Münchner Abkommen vom September 1938 emigrierte Brügel nach Frankreich. Er hielt sich in Paris, später in Südfrankreich auf. 1941 gelang ihm die Flucht über Spanien und Portugal nach Großbritannien. In London war er bis 1945 für die tschechoslowakische Exilregierung und als Autor für die österreichische Exilzeitung Zeitspiegel tätig.


Chaim Nachman Bialik: Im Grünen

 



Im Grünen

(Aus dem Jüdischen)

Von Blumen und Wundern war ich umgeben,
Wo Tierchen in Strahlennetzen zittern,
Wo die Luft vom Schwirren und Girren bebt -
Umzaubert war ich zu Boden gesunken.

Und warm; und alles schön und mild.
Erstickte Gefühle drängen ans Licht,
Wollen zu Sonne -
Und taumeln, die weichen, schwachen, stillen
Und strecken die Häupter,
Wie Schlangen aus Höhlen die Leiber zieh´n,
Höher und höher -
Und Gottes Sonne blickt mild auf uns
So mild.

Und warm. Und alles gut.
Wie strahlt jetzt Gottes Welt!
Im tiefen Gras, da hüpft es und tanzt.
Der Rasen ist von Blüten voll,
Die Gott mit eigener Hand gepflanzt,
Mit tausend Farben schmückte.
Das weitet sich und breitet sich
Ohn´ Anfang und ohn´ Ende.
Und wie ich einsam lieg´ im Gras,
Fühl ich in mir die ganze Welt.
Das wehet her
Vom freien Feld
Ein Hauch - -

S´ ist still. Und rasch - ein Pfeil! -
So schwebt ein Traum
Von Kindheitstagen -
Und ist schon tausend Meilen fern.
Das war ein Blitz, das war ein Glanz,
So heimatstraut und wundersam,
Es kam durch dumpfe Jahre her,
Versunken und verloren.

Das war ein Blitz! Das war ein Glanz!
Das strömt´ und sprang mir in den Blick -
Ein Tropfen Tau von jungem Glück.
Und schon versiegt? Das war - -
Das blickte so
Der grüne Wald auf mich.

Ch. N. Bialik, aus: Gedichte, aus dem hebräischen übertragen von Ernst Müller, Jüdischer Verlag GmbH, Köln und Leipzig 1911

Chaim Nachman Bialik (jiddisch חיים נחמן ביאַלי , hebräisch חַיִּים נַחְמָן בִּיאָלִי , vereinzelt auch: Chaim Nachum Bialik; geboren am 9. Januar 1873 im Dorf Radin, in der Nähe von Schytomyr, Russisches Kaiserreich; gestorben am 4. Juli 1934 in Wien, war ein russisch-österreichischer jüdischer Dichter, Autor und Journalist, der auf Hebräisch und Jiddisch schrieb. Er ist einer der einflussreichsten hebräischen Dichter und wird in Israel als Nationaldichter angesehen.

Zudem übersetzte Bialik Shakespeares Julius Caesar, Schillers Wilhelm Tell, Cervantes’ Don Quichotte, Gedichte von Heine sowie Der Dybbuk des jiddischen Dichters Salomon An-ski ins Hebräische. Dabei war er sich der Grenzen des Übersetzens sehr bewusst: "Eine Übersetzung zu lesen sei wie die Braut durch den Schleier hindurch zu küssen."

Ein weiteres Gedicht aus diesem Gedichtband hier: Licht


Franz Kafka: Kühl und hart

 



Kühl und hart

Kühl und hart ist der heutige Tag.
Die Wolken erstarren.
Die Winde sind zerrende Taue.
Die Menschen erstarren.
Die Schritte klingen metallen
Auf erzenen Steinen,
Und die Augen schauen
Weite weiße Seen.

In dem alten Städtchen stehn
Kleine helle Weihnachtshäuschen,
Ihre bunte Scheiben sehn
Auf das schneeverwehte Plätzchen.
Auf dem Mondlichtplatze geht
Still ein Mann im Schnee fürbaß,
Seinen großen Schatten weht
Der Wind die Häuschen hinauf.

Menschen, die über dunkle Brücken gehn,
vorüber an Heiligen
mit matten Lichtlein.

Wolken, die über grauen Himmel ziehn
vorüber an Kirchen
mit verdämmernden Türmen.
Einer, der an der Quaderbrüstung lehnt
und in das Abendwasser schaut,
die Hände auf alten Steinen.

Aus einem Brief Franz Kafkas vom 9. November 1903, in dem er als Zwanzigjähriger seinem Schulfreund Oskar Pollak von "einigen Versen" schreibt, die er "in guten Stunden lesen" möge.

Franz Kafka, geboren am 3. Juli 1883 in Prag, Österreich-Ungarn; gestorben am 3. Juni 1924 in Kierling, Österreich

Mittwoch, 2. Juli 2025

Franz Werfel: Benennung

 



Benennung

Noch einmal seh´ und nenn´ ich
Erhabenes Antlitz der Bäuerinnen,
Heiligen Kinderknix in Kirchen,
Riesigen Blick des Priesters - -
Ah, ein Vogel hüpft  -  hüpft über die Straße.
O Menschenschritt! Noch einmal - - -
(Wie unbenannt die Welt noch
Unbenannt, ihr Freunde) - - -
Noch einmal seh´ und nenn´ ich,
Eh´ ich dahin ein Wind bin,
Ich Wolkenzug,
Ich ohne Bindung, Heimat, ich Halbtraum,
Ich Flüchtling aufgebrauchter Städte,
Geborgener ich aus uralter Feuersbrunst,
Schlaf, Wollust und den Namen Gottes rettend. -
Noch einmal weiß ich mich,
Freundin, in deinem Dahingehn,
Das Schicksal weiß ich, Nächte weiß ich,
Die mich in die Schleuder tun,
Daß ich mit euch bin, der ich bin,
Ich erlöschender Fluß,
Hinstickend schon durch die Höhlen,
Daß ich mit euch noch hier bin, ich Oednis,
Daß ich mit euch noch bin, umrollt von Lauf,
Befohlen von Gestirnen,
Kreis und heiliger Zahl,
Daß du Geliebte welkst an mir hinab . . .
So faß ich mich nochmals,
Nenne mich
Ich Heimat-, Höllen., Himmelloser,
Mein Haus aufbauend auf
Zufälligen und flüchtigen Gesängen.

Franz Werfel, aus: Daimon, Eine Monatsschrift, Herausgeber Jakob Moreno Levy, Redakteur E. A. Reinhardt; 2. Heft April 1918, Verlag Brüder Suschitzky, Wien

Franz Werfel, geboren am September 1890 in Prag, Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker, ging 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich ins Exil, zuerst nach Frankreich, dann in die USA. 1941 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er starb am 26. August 1945 in Beverly Hills, Kalifornien.

Das Bild „Le réfugié" ist von Felix Nussbaum (geboren am 11. Dezember 1904 in Osnabrück; gestorben nach dem 20. September 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau)

Montag, 30. Juni 2025

Karl Wolfskehl: zum klaren Berg der blauen Seligkeiten. . . / Du weisst es. . . / Sie schwebt im blau des morgenwindes. . .

 



Zum klaren Berg der blauen Seligkeiten
Vergessene müde pilger schreiten
Die pforte schloss • sie pochen pochen.

Verlorner töne himmlisch sehnend schweifen
Schlingt sich um sie in elfenzauberreifen •
Sie pochen pochen.

An ihrem leibe fremde gluten rinnen
Der berg der Seligkeiten strahlet innen
Sie aber pochen pochen . . .

Karl Wolfskehl, aus: Ulais, Verlag der Blätter für die Kunst, Berlin 1897

* * *

Du weisst es • keine zeichen irrten
Wir schieden unsern heiligen bund.
Nachtvögel unser haupt umschwirrten.
Da wir der trennung rosse schirrten
Log unserm herzen unser mund.

Wir haben uns zurückgefunden
Im herbstlaub • wie's in flammen steht!
Vom höchsten Schicksal überwunden
Sind wir ob aller zeit verbunden
Noch eh das fest zu enden geht.

* * *

Sie schwebt im blau des morgenwindes
Im zweifellicht von tag und nacht
Im aug das lächeln eines kindes
Dem eine krone sie gebracht.

Von ihren lippen fliesst ein schweigen
In schwerer falten heiligem chor
Der sich die lilien schauernd neigen
Die rote rose sich erkor.

Aus: Gesammelte Dichtungen, Georg Bondi Berlin 1903

Karl Wolfskehl, geboren am 17. 9. 1869 in Darmstadt, gestorben am 30. 6. 1948 im Exil in Auckland, Neuseeland. Er war aktiv im Münchner Kreis um Stefan George, mit dem er von 1892 bis 1919 die Zeitschrift „Blätter für die Kunst“ und 1901 bis 1903 die Sammlung „Deutsche Dichtung“ herausgab.

Karl Wolfskehl hat sich über den Charakter des Regimes der Nationalsozialisten nichts vorgemacht. Während andere seiner Freunde, vornehmlich aus dem Georgekreis, noch abwarteten, reiste er am Tage der Machtergreifung über Basel erst ins italienische, 1938 ins neuseeländische Asyl, ins Antithule, wie er die Insel am entgegengesetzten Teil der Erde nannte, so weit von Deutschland weg wie irgendwie möglich.