Donnerstag, 30. November 2023

Ite Liebenthal: Geht der Wind um dein Haus / Nicht immer. . . / Alle Abendwolken wandern. . .

 



Geht der Wind um dein Haus

Geht der Wind um dein Haus, fürchte dich nicht:
Ich bin im Winde.
Und wenn des Dunkels sausende Stille spricht,
sing ich gelinde.

Mit meines Herzens ruhig lebendigem Schlag
bin ich im Liede:
Warte ein wenig, bald kommt der Feiertag,
bald kommt der Friede.

. . . 


Nicht immer, wenn dein heiliger Name
von fremden Lippen fällt, ist eine Schale
so wie mein Herz bereit ihn aufzufangen.
Auf Straßen liegt er achtlos übergangen.
Oft las ich ihn wie eine wundersame
Bergblüte auf im dunsterfüllten Tale.

Und meine Tränen lösten ihn vom Staube.
Ich flüchtete wie mit geweihtem Raube
zur Höhe, wo die reine Sonne schien
auf frommen Bodens unversehrte Scholle,
und kniend hob ich in die andachtvolle
Stille vor Gottes Antlitz ihn.

. . . 


Alle Abendwolken wandern
still hinab durchs goldne Tor.
Lächelnd tritt nun aus dem andern
die verhüllte Nacht hervor.

In den Falten ihres Kleides
komm ich zu dir, tief versteckt.
Alle Zeichen meines Leides
hat ihr Leuchten zugedeckt.

Und sie neigt sich auf dein Lager,
während sie dein Traum begrüßt.
Hab ich heimlich und mit zager
Liebe deine Hand geküsst?

Ite Liebenthal, aus: Gedichte, Erich Lichtenstein Verlag Jena 1921

Ite Liebenthal, Lyrikerin, geboren am 15. Januar 1886 in Berlin. Bereits 1906, mit 20 Jahren, veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband (Aus der Dämmerung). Weitere Veröffentlichungen folgten in der Zeitschrift Die Argonauten. 1921 erschien ein Band mit Gedichten im Erich Lichtenstein Verlag Jena.

Rilke ist von ihren Werken beeindruckt. Am 18. Januar 1922 schreibt er in einem Brief an Ite Liebenthal:

„Noch diesen Morgen, als ich die ›Gedichte‹ wieder vornahm, fiel mir eine köstliche alte Apotheke ein, die ich vor Jahren einmal in der einstigen Bischofstadt Carpentras, um ihres künstlerischen Werthes willen, zum Kauf angeboten bekam. Ihre Verse, heute, brachtens mit sich, daß ich auf einmal im Dunkel des schönen, offenen, die Wände auffüllenden Geschränkes, die geschlossenen Vasen vor mir sich hinreihen sehe: jede anders im blaublumigen, ausdrucksvollen Ornament, und doch wieder alle gleich; jede ein Gift, eine Gluth oder eine Kühlung einschließend, mit dem vollen großen, ja geschwungenen Namen dieses Inhalts, ihn so offen ansagend ― und doch wieder ihn völlig verhaltend, jede einzelne, in ihrer, die Verschließung so unübertrefflich aussprechenden Gestaltung…“

Auch als ihre Schwester Erna und ihr Bruder Werner nach der Machtergreifung der Nazis emigrierten, blieb Ite Liebenthal in Berlin. Zuletzt wohnte sie als Untermieterin in der Hektorstraße 3 in Berlin-Halensee. Am 27. November 1941 wurde sie zusammen mit 1052 anderen deutschen Juden vom Bahnhof Grunewald aus nach Riga deportiert.

Die Deportierten wurden, so eine Überlebende, in den eiskalten Wirtschaftsgebäuden des Jungfernhofes bei Riga untergebracht. Von dort gingen ab Februar 1942 Transporte ab, zuletzt am 26. März 1942 ein Transport mit ca. 1700 Menschen. Alle Abtransportierten wurden am gleichen Tag in einem Wald bei Riga erschossen.

Das zehnte Heft der Reihe VERSENSPORN, Jena ist Ite Liebenthal gewidmet. Das Foto von ihr stammt daraus.

Dienstag, 28. November 2023

Karl F. Kocmata: Dämmerung im Atelier / Träumekranke Nacht

 



Dämmerung im Atelier

Der helle Tag neigt sich zu Ende.

Wir lebten dieses Tages Werden und Vergehn
und müssen morgen wieder einsam stehn.

Nun fühl ich segnend deine weichen Hände.

Ich ruhe aus in deiner lieben Ras
und bin nun deiner Stille stillster Gast.


Träumekranke Nacht


Ich will dich ja so gerne sehn und hören.
Doch soll´s am Tage sein? Nein! In der Nächte Gluten.
Wo unsre Seelen ineinanderfluten.
Und dunkle Geister unsern Sinn betören.
Hat dich noch nicht der Mond geweckt?
Und ganz berückt, wenn Silberstrahlen
im Zimmer zarte Bilder malen,
die Herz und Hirn dir aufgeschreckt?
Des Nachts, du Ellis, wenn die Gräser raunen,
die Wasser müde gurgeln ihre Bahn.
Wenn unsre Sinne schrein und sie staunen
und willig dienstbar jedem Wahn?
Wo alles schläft, wir wandern sacht.
Still Fuß an Fuß und Schritt um Schritt.
Durch diese unsre träumekranke Nacht
und nehmen unsre sehnsuchtskranken Herzen mit.

Karl F. Kocmata, aus: Einsamer Wald - Ausgewählte Gedichte, Verlag von Frisch & Co., Wien und Leipzig, 1919

Karl Franz Kocmata, (16. Januar 1890, Wien – 29. November 1941, Wien), Pseudonym Karl Hans Heiding, war ein österreichischer Schriftsteller, Dichter, Zeitschriftenherausgeber und später Anarchist. Er war mit Erich Mühsam befreundet.

Marianne Dora Rein: Vergänglichkeit / Dämmerung / Abendlied

 



Vergänglichkeit

Geruch des Lorbeer bringt die Bitterkeit
der frühen Abende, die blass vergehen,
wie Rosen ihren Duft ins Dunkel hauchen.
Und im Gebüsch hält sich schon Herbst bereit
die ersten welken Blätter zu verwehen,
die mit den Wasservögeln abwärts tauchen.

Platanenrinde fällt mit dumpfen Ton
ins leichte Sommergras, das leise zittert,
Mohnkapseln schwanken auf dem dünnen Stiel.
Die Mauerschwalben flogen längst davon,
Und Fuchs und Wiesel haben schon gewittert,
die Spur des Wildes, das im Dickicht fiel.

Und unter Bäumen, schweigendem Verfall,
geh´n Liebende gelichtetere Pfade
und ihr Verlangen wandelt sich in Trauer.
Der Sanftheit Seufzer stirbt vor dem Verhall.
Im morschen Stamme schlummert die Dryade
und durch die Wipfel wehen kühle Schauer.


Dämmerung

Wenn sich Wipfel in die Wolken schmiegen,
sehnt die Erde sich der Nacht entgegen.
Ihre Boten - schnelle Schwalben - fliegen
zwitschern hell den süßen Abendsegen.

Lichtbeglänzte Wolken ziehn vorüber.
Abend kommt wie Wein geflossen.
Weißer Lilien Kelche scheinen trüber,
Wenn die Blüte letzten Glanz vergossen.

Aufgeblättert, auf entfärbten Weiher,
treibt des Lichts entseelte Farbenrose.
Fahle Dämm´rung spinnt den blauen Schleier
und erstickt den hingesunk´nen Tag im Moose.

Beide Gedichte: Marianne Dora Rein, aus: Typoskript, Brief an Jacob Picard, Leo Baeck Institute, New York Berlin; letzteres mit dem Zusatz: „Wenn ich zu mir selber ehrlich bin, dieses Gedicht mag ich nicht.


Abendlied

Der Abend trinkt die Welt wie Wein.
Sie trinkt davon und schlummert ein.
Mond überglänzt das letzte Rot,
So rund, wie ein frischbacken Brot.
Und durstgestillt und hungersatt
entschlafen Blüte, Baum und Blatt.

Handschriftliches Manuskript, Leo Baeck Institute, New York, Berlin

Marianne Dora Rein, geboren am 2. Januar 1911, war eine junge hoffnungsvolle jüdische Dichterin aus Würzburg. Am 27. November 1941 wurde Marianne Rein zusammen mit ihrer Mutter mit dem ersten aus Würzburg abgehenden Transport zusammen mit weiteren 200 Personen, darunter 40 Kindern und Jugendlichen, deportiert. Der Transport ging über Nürnberg nach Riga. Die Deportierten wurden, so eine Überlebende, in den eiskalten Wirtschaftsgebäuden des Jungfernhofes bei Riga untergebracht. Von dort gingen ab Februar 1942 Transporte ab, zuletzt am 26. März 1942 ein Transport mit ca. 1700 Menschen. Alle Abtransportierten wurden am gleichen Tag in einem Wald bei Riga erschossen. Von den im November 1941 aus Franken nach Riga Deportierten haben, soweit bekannt, zwei Personen überlebt.

Das Foto zeigt die Dichterin circa September 1940, Jacob Picard Collection, Leo Baeck Institute, New York, Berlin

Das Leo Baeck Institut (LBI) ist eine unabhängige Forschungs- und Dokumentationseinrichtung für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums mit drei Teilinstituten in Jerusalem, London und New York City mit Zweigstelle in Berlin. Es wurde 1955 von Hannah Arendt, Martin Buber, Siegfried Moses, Gershom Sholem, Ernst Simon und Robert Weltsch gegründet und setzt sich zum Ziel, deutsch-jüdische Geschichte und Kultur wissenschaftlich zu erforschen und ihr Erbe zu bewahren.

Sonntag, 26. November 2023

Paul Leppin: Stimmen am Abend / Gedenken

 



Stimmen am Abend

Ich will nicht die heißen Lichter,
Die in den Wolken sind,
Ich bin ein Träumer und Dichter,
Uralter Märchen Kind.

Ich will in verlorenen Tönen
Ein Wundereiland sehn
Und dort mit meinem Sehnen
Allein durch den Frühling gehn.

Und sanfte Farben möcht' ich
Tief auf des Himmels Grund
Und eine Blume prächtig,
Vor der ich staunend stund. -

Und daß mein Wünschen und Trauern
In ihren Düften wär,
Nach rissigen Klostermauern,
Nach Liedern süß und schwer. -

Nach all der alten Romantik,
Nach versunkenem Sagenspiel,
Nach dem Zauberkarfunkel kantig
Und Lippen rot und kühl . . .

Und süßer Frauen Prunken,
Mit Augen wunderbar,
Deren Trauer ich einmal getrunken
Vor manchem verklungenen Jahr.


Gedenken

Ein Singen von schönen Frauen
Süß und schwer,
Mir klingt es aus wundersam blauen
Zeiten her -

Es steigen seltsame Weisen
Tief und weh
Empor aus dem alten und leisen
Märchensee.

Ein lange vergessenes Sehnen
Hat mich gefaßt,
Nach ihren Zauberschwänen
Im Glaspalast.

Wo sie im See seit Tagen
Sitzt und sinnt
Und ihre traurigen Sagen
Und Träume spinnt.

Nach den Fischen am grünen Grunde
Und ihrem Spiel,
Und ihrem Munde
Rot und kühl.

Nach ihrem stolzen Werben
Wild und krank
Und einem seligen Sterben
Bei ihrem Sang,

Wenn die Harfen golden klingen
Wunderbar
Und in ihrem Singen
Die Liebe war,

Die mich in dunklen Stunden
Märchensüß
An ihren Wunden
Vergehen ließ.

Paul Leppin, aus: Glocken die im Dunkeln rufen, Gedichte, Schafstein & Co. Verlag in Köln 1903

Paul Leppin, geboren am 27. 11. 1878 in Prag, gestorben ebenda am 10. 4. 1945, entstammte ärmlichen Verhältnissen. Zwar besuchte er das Gymnasium bis zur Matura, war danach jedoch gezwungen, eine Stelle bei der Prager Post- und Telegrafendirektion anzunehmen. Er war bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung im Jahre 1928 als Beamter tätig. Neben dieser bürgerlichen Existenz begann er früh mit dem Schreiben. Um die Jahrhundertwende galt Leppin, der unter anderem mit Victor Hadwiger, Gustav Meyrink, Richard Dehmel und Else Lasker-Schüler befreundet war, als einer der Protagonisten der literarischen Bewegung „Jung-Prag“ und pflegte auch enge Beziehungen zu tschechischen Autoren. Nach dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei im Jahre 1939 wurde er von der Gestapo verhaftet und erlitt nach der Freilassung einen Schlaganfall. (Wiki)

Das Bild „Dreamland“ (1906) ist von Alice Pike Barney (1857 - 1931)

Joseph von Eichendorff: Die blaue Blume / Mir träumt´. . ., Arthur Silbergleit: Eichendorff

 



Die blaue Blume

Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.

Ich wandre mit meiner Harfe
Durch Länder, Städt und Au'n,
Ob nirgends in der Runde
Die blaue Blume zu schaun.

Ich wandre schon seit lange,
Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blum geschaut.


Mir träumt´. . .


Mit träumt` ich ruhte wieder
Vor meines Vaters Haus
Und schaute fröhlich nieder
Ins alte Tal hinaus,

Die Luft mit linden Spielen
Ging durch das Frühlingslaub,
Und Blütenflocken fielen
Mit über Brust und Haupt.

Als ich erwacht, da schimmert
Der Mond am Waldesrand,
Im falben Scheine flimmert
Um mich ein fremdes Land,

Und wie ich ringsher sehe:
Die Flocken waren Eis,
Die Gegend war von Schnee,
Mein Haar vom Alter weiß.

Joseph von Eichendorff, geboren am 10. März 1788 auf Schloss Lubowitz bei Ratibor, Oberschlesien; gestorben am 26. November 1857 in Neisse, Oberschlesien.

„Eichendorff ist kein Dichter der Heimat, sondern des Heimwehs, nicht des erfüllten Augenblicks, sondern der Sehnsucht, nicht des Ankommens, sondern der Abfahrt“, Rüdiger Safranski, aus: Romantik. Eine deutsche Affäre. Fischer, München 2007


Eichendorff

Die traumtief schlafenden Wälder,
Vom Köhlervolk bewohnt,
Des Posthorns Märchenmelder,
Der uralt weise Mond,

Die Wolken, Wallfahrtsfrauen,
Ein Uhu auf schwarzem Schloß,
Ruinen im Abendgrauen,
Ein Kind, ein Elfensproß,

Waldbäche, die Sagen lallen,
Ein Fels, von Echsen umhuscht,
Glücktrunkene Nachtigallen,
Ein Mühlrad, schilfumbuscht,

Aufzitternde Winde und Moose,
Ein Reh an Franziskus Hand,
Der Hauchtraum einer Rose,
Novizen im Engelsgewand,

Kapellen, Kirchen und Klöster,
Ein Mönch vor Madonnas Bild,
Das Lächeln selig Erlöster,
Die Vaters Born gestillt,

Lenzstimmen längst verklungen,
Der Bienen Prozession
Nahn mit Erinnerungen
Bei deines Namens Ton.

Arthur Silbergleit, aus: Aurora – Ein romantischer Almanach, Jahresgabe der deutschen Eichendorff-Stiftung, Verlag „Der Oberschlesier“, Oppeln 1934

Arthur Silbergleit, geboren am 26. Mai 1881 in Gleiwitz in Oberschlesien; wurde am 13. März 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert, wo er noch im gleichen Monat starb.

Samstag, 25. November 2023

Henry von Heiseler: Drängt schon erneuertes Leben. . .

 



Drängt schon erneuertes Leben
Aus dem erfrornen Reise?
Siehst du die Schollen sich heben?
Regt es sich unter dem Eise?

Morgendlich wärmendes Wehen,
Wiegen und Heben und Senken …
Was will im Innern geschehen,
Wo sich die Wurzeln verschränken?

All du verlornes Empfinden,
Seufzen und Sehnen und Lachen,
Willst du mich wieder umwinden?
Willst du mir wieder erwachen?

Schatten verwundener Schmerzen
Sind nur im Traum noch lebendig
Und in dem klopfenden Herzen
Ruft es und singt es beständig.

Henry von Heiseler, geboren am 23. Dezember 1875 in St. Petersburg; gestorben am 25. November 1928 im Haus Vorderleiten in Brannenburg, Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Er gehörte zum George-Kreis. Unter anderem übersetzte er die Werke Puschkins.

Das Bild „Winter 2“ ist von Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (1875 - 1911)

Donnerstag, 23. November 2023

Richard Perls, aus: Blätter für die Kunst

 



Ich bette dich in traumestiefe ruh,
Trägst du noch Gram nach schnell vergilbtem ruhme?
Ich liebe dich und neige mich dir zu -
Es bleibt das wissen um die blaue blume.

Bist du madonna oder bist du fee?
Du kommst gehüllt in weissen lichtes falten.
Ich sterbe gern es schmilzt das harte weh,
Du magst nun frei mit meiner seele schalten.

Von hellen sternen scheinst du hergerauscht
Ich höre lichtes freie fluten rauschen.
Und wie ich einst der seelen klang gelauscht,
So will ich deinem sphärenklange lauschen.

Ich bette dich in traumestiefe ruh.
Geh ein mein freund zum alten heiligtume.
Dort flüstert und dort raunet man dir zu
Ein neues wissen um die blaue blume.


Vor einem Frauenbildnis des Donatello

Ich fand dich unter hohem baldachine
Ich fragte dich mit der erwartung auge
Und las die antwort in der leidensmiene,
als ob mein sehnen deinem blick nicht tauge.

Ich sprach vom lichte und ich sprach von auen,
Vom stillen duft im nie betretnen thale,
Vom heilgen glanze der entspringt dem blauen
Dem lichten ewgen unentweihten grale.

Was willst du thörin länger mit mir streiten?
Du sollst das schloss mit seinen zinnen schaun.
Komm in den garten heller kostbarkeiten,
Tritt in den reigen der geweihten fraun.

Und wenn im stummen spiel das abendrot
Zum letzten mal dein auge lenkt zur sonne
Wird offenbar was nie sich dir erbot:
Der welten ziel und des erlösers wonne.


Sehnen des Südens

Lachend vergass ich der weisheit schätze
Leiden und träume erfüllten den sinn.
Wob um die welt einst demantene netze,
Träume zu seligen ufern jetzt hin.

Schaue in blüten ein ewiges walten,
Folge dem gott auf verbotener spur.
Wenn dann die wogen gelinde erkalten,
Zieht mich mein schwan auf der wogenden flur.

Heilige frauen auf heiliger reise,
Traurige lieder traurig und hehr!
Neige mein haupt und lache ich leise.
Wie lacht es sich leise am dunkelnden meer!


Blumen vom Tode

I

Wie die seelen ineinander glühen
Wenn die töne deiner hand entrauschen
Wie die bunten blumen still erblühen
Wenn wir leise dunkle worte tauschen!

Nimm den dingen ihre kostbarkeiten!
Flicht die welten zum verwegnen kranz
Und beim spiele dunkler traurigkeiten
Locke seelen zu dem letzten tanz!

Neige dann in reinheit dich mir nieder
Raune das geheimnis leis mir zu
Und ich küsse deine müden lider
Berge dich in traumestiefer ruh.


II

Ich kann nicht lieben ich kann nur sehnen
Denn ich bin krank und bin auch so müde
Ich kann nur traurig am fenster noch lehnen
Zu schaun wann der traum mich zur hochzeit wol lüde

Gebt mir den erben nah meiner seele
Er wird mich bannen soll mich verstehn
Gebt mir die Jungfrau rein ohne fehle
Dass ich beseligt zum schlummer kann gehen

Auf einer wiese wo blüten entspriessen
Gönnt mir ein frohes ein schmerzloses glück
Darf ich des heilandes blick noch geniessen
Ruft mich die jungfrau zum schlummer zurück.


Aus dem Nachlass

Ach wie schmeichelt heut der süd so lind!
Das geheimnis ob es doch noch bliebe?
Ach die leiden die geblieben sind
Schaffen sie zum trost verklärte liebe?

- - -

Ich gehe heim zum winterlichen pfad
Ich soll die blumen nicht schaun die süßen.
Und wenn einst keimt die holde frühlingssaat -
Du darfst die lichten blüten von mir grüßen.

Richard Perls (Geboren am 6. Januar 1873 in Gleiwitz; gestorben am 24. November 1898 in München), der früh verstorbene Dichter gehörte zum George-Kreis.

Ich bette dich in traumestiefe ruh. . . aus: Blätter für die Kunst, Band 5 / 1895

Sehnen des Südens, aus: Blätter für die Kunst, Band 1 / 1896

Blumen vom Tode, aus: Blätter für die Kunst, Band 3 / 1896

Ach wie schmeichelt heut der süd so lind!. . . ; Ich gehe heim zum winterlichen pfad. . . , Aus dem Nachlass, Blätter für die Kunst, Band 3 / 1899

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 – 1916)

Mittwoch, 22. November 2023

Gertrud Marx: Leichtes Gaukeln Klarer Kühle. . .

 



Leichtes Gaukeln
Klarer Kühle,
Wellenschaukeln
Der Gefühle.
Stillbewegtes
Auf und nieder,
Froh erregtes
Maß der Lieder.
Helles Wachen
In der Frühe,
Versemachen
Ohne Mühe.
Licht´ Gewahren
Alles Schönen,
Unsichtbaren
Sieg zu krönen.
Abgestreifte
Alltagssorgen,
Herbstgereifte
Frucht geborgen.

Gertrud Marx (1851 - 1916), aus: Gedichte. Neue Folge, Königsberg i. Pr., Verlag Gräfe und Unzer, 1922.

Das Bild ist von Maria Sibylla Merian (1647 - 1717)

Leo Sternberg: Wenn der Regen rieselt

 



Wenn der Regen rieselt


Wenn der Regen rieselt von den Blättern,
Muss ich denken, dass du ferne weinst.
Ach, warum zerfließen süße Tage,
Bleiben Träume der Erinn´rung nur?

Oh, das heimliche Geräusch des Regens
Auf den Dächern und der Dämm´rung Vorhang -
Und dein Haupt dabei an meiner Schulter!
Nichts mehr wissen würden wir von Tränen.

Wenn ich dein Gesicht in Händen hielte,
Zugeregnet ganz von meinen Küssen,
Müsste ich nicht fürchten, dass die Liebe,
Wie die süßen Tage, selbst zerränne -
Wenn der Regen von den Blättern rieselt.

Leo Sternberg, aus der Zeitschrift Das Leben, Juni 1923

Leo Sternberg, geboren am 7. Oktober 1876 in Limburg an der Lahn, er schrieb Lyrik und schuf eine Reihe von kulturhistorischen Werken. Seine Lyrik erschien unter anderem in den Zeitschriften Die Aktion, Hochland, Der Brenner, Jugend und Der Feuerreiter. 1937 reiste Sternberg mit seiner Frau nach Jugoslawien, um Recherchen zu einem Romanprojekt über den Kaiser Diokletian anzustellen. Seine Tochter war bereits zuvor nach Jugoslawien ausgewandert. Wenige Tage nach seiner Ankunft im Oktober starb er auf der Insel Hvar in Dalmatien und wurde dort beerdigt. Sein Bruder Hugo Max Sternberg, dessen Frau Lola und die gemeinsame Tochter Lili wurden 1943 in Auschwitz ermordet.

Die Illustration „Abend“ ist von Edvard Munch (1863 - 1944)

Dienstag, 21. November 2023

Walter Benjamin: Sonette - XIV.

 



Sonette - XIV.


Ich bin im Bunde mit der alten Nacht
Und wurde alt von ihr nicht unterschieden
Hat Traurigkeit im Herzen ohne Frieden
Die Herdstatt ihrer Schatten angefacht

Was so entfernte Not zu Einer macht
Die sonnenlose irdische hienieden
Und mein Verfinstern das der Freund gemieden
Das habe ich im Wachen oft bedacht

In solcher Nacht ist Schlafen mehr denn selten
Dem Schlummerlosen schenkt sie ihre Helle
Die könnte nicht für Tag den Menschen gelten

Und doch bestrahlt sie seine wahren Welten
Kein andres Licht blüht ja auf seiner Schwelle
Erinnerung sein Mond und sein Geselle.

Walter Benjamin, geboren am 15. Juli 1892 in Berlin; gestorben am 26. September 1940 in Portbou, Spanien, Philosoph, Kulturkritiker und Übersetzer.

1933 entzog er sich als säkularisierter Jude der NS-Herrschaft und ging ins Pariser Exil. Nach der Besetzung Frankreichs durch die deutschen Truppen nahm er sich auf einer missglückten Flucht in der spanischen Grenzstadt Portbou das Leben.

Walter Benjamins Sonette galten als verschollen. Erst 1981 wurden sie in der Pariser Nationalbibliothek aufgefunden. Benjamin hatte sie mit anderen ihm wichtigen Papieren vor seiner Flucht im Frühjahr 1940 Georges Bataille übergeben. 1986 erschienen sie in der Bibliothek Suhrkamp.

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Montag, 20. November 2023

Wolfgang Borchert: Laternentraum

 



Laternentraum

Wenn ich tot bin,
möchte ich immerhin
so eine Laterne sein,
und die müßte vor deiner Türe sein
und den fahlen
Abend überstrahlen.

Oder am Hafen,
wo die großen Dampfer schlafen
und wo die Mädchen lachen,
würde ich wachen
an einem schmalen schmutzigen Fleet
und dem zublinzeln, der einsam geht.

In einer engen
Gasse möcht ich hängen
als rote Blechlaterne
vor einer Taverne –
und in Gedanken
und im Nachtwind schwanken
zu ihren Gesängen.

Oder so eine sein, die ein Kind
mit großen Augen ansteckt,
wenn es erschreckt entdeckt,
daß es allein ist und weil der Wind
so johlt an den Fensterluken –
und die Träume draußen spuken.

Wolfgang Borchert, geboren am 20. Mai 1921 in Hamburg; gestorben am 20. November 1947 in Basel

Laternentraum aus: Laterne, Nacht und Sterne. Gedichte um Hamburg 1946

Das Bild „Haus mit Laterne“ ist von Marianne von Werefkin (1860 - 1938)

Jedesmal, wenn ich dieses Gedicht lese, denke ich sofort an die folgenden Zeilen aus dem Gedicht „Ehrgeiz“ von Joachim Ringelnatz, vielleicht, weil hier wie dort die Fensterluken spuken:

Und ich pfeife durchaus nicht auf Ehre.
Im Gegenteil. Mein Ideal wäre,
Daß man nach meinem Tod (grano salis)
Ein Gäßchen nach mir benennt, ein ganz schmales
Und krummes Gäßchen, mit niedrigen Türchen,
Mit steilen Treppchen und feilen Hürchen,
Mit Schatten und schiefen Fensterluken.

Dort würde ich spuken.

Samstag, 18. November 2023

Lili Grün: Ein Fräulein erwacht in einer fremden Wohnung

 



Ein Fräulein erwacht in einer fremden Wohnung

Sie schmeckt mir nicht, die so geliebte Morgenzigarette -
Ach, wenn ich bloß ´ne andre Sorte hätte;
Natürlich. Ausgerechnet so ein starkes Kraut,
Und überhaupt - ich will nach Haus
In mein Bett!
Und mich ausstrecken
Unter gewohnten, geliebten, vertrauten Decken
Und ich will meine Zahnbürste
Und meine Badewanne
Und meine eigene praktische Kaffeekanne,
Nicht dieses fremde, scheußliche Ding
Mit diesem ausgefallenen Muster.
Ausgerechnet ´ne Blume und ein Schmetterling.
Einfach verrückt!
Was hat denn der Junge da nur für Manieren?
Du lieber Himmel, so kann man sich irren?
Gestern abend war er doch wirklich scharmant.
Und heut ist er öd, scheußlich und unbekannt.
Ob denn das alles wirklich nötig ist - ?!
Ach, das kommt nur daher,
Dass man immer wieder in Romanen liest,
Dass es sowas wie Abenteuer gibt.
Und jetzt in die Lackschuh hinein.
Die tun doch weh, sind eng und brennen
Und überhaupt - ich mag nach Haus
In mein Bett und flennen!
Ich bin so verknautscht.

Ach ja, mein Liebling,
Am besten ist´s, du rufst mal an
Und kommst dann auf ganz gemütlich zu mir
Oliva 3304
Wo hab ich denn bloß die Telephonnummer her?
Ist das nicht die von Hedi Stehr?
Ach, was, der Junge macht sowieso keinen Gebrauch davon,
Wenn er anruft, lass ich mich hängen
Und überhaupt - wir wollen diese Nacht lieber verdrängen!

Lili Grün, aus: Berliner Tageblatt, 1931

Lili Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern ging sie Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo sie 1931 zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der Künstlerszene ein literarisch-politisches Kabarett eröffnete. Zurück in Wien verarbeitete sie ihre Berlin-Erlebnisse in ihrem Roman "Alles ist Jazz", der erstmals 1933 unter dem Titel "Herz über Bord" im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Mit der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und am 1. Juni 1942 mit anderen Opfern, darunter die Dichterin Alma Johanna Koenig, im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.

Das Bild ist von Georg Schrimpf (1889 - 1938)

Georg Heym: Alle Landschaften haben

 



Alle Landschaften haben

Alle Landschaften haben
Sich mit Blau erfüllt.
Alle Büsche und Bäume des Stromes,
Der weit in den Norden schwillt.

Leichte Geschwader, Wolken,
Weiße Wolken dicht,
Die Gestade des Himmels dahinter
Zergehen in Wind und Licht.

Wenn die Abende sinken
Und wir schlafen ein,
Gehen die Träume, die schönen,
Mit leichten Füßen herein.

Cymbeln lassen sie klingen
In den Händen licht.
Manche flüstern und halten
Kerzen vor ihr Gesicht.

Georg Heym (1887 - 1912), aus: Menschheitsdämmerung, Symphonie jüngster Dichtung, herausgegeben von Kurt Pinthus, Ernst Rowohlt Verlag, Berlin 1920

Das Bild ist von Mikalojus Konstantinas-Ciurlionis (1875 - 1911)

Freitag, 17. November 2023

Joachim Ringelnatz: Kindergebete

 



Kindergebete

Erstes


Lieber Gott, ich liege
Im Bett. Ich weiß, ich wiege
Seit gestern fünfunddreißig Pfund.
Halte Pa und Ma gesund.
Ich bin ein armes Zwiebelchen,
Nimm mir das nicht übelchen.

Zweites

Lieber Gott, recht gute Nacht.
Ich hab noch schnell Pipi gemacht,
Damit ich von dir träume.
Ich stelle mir den Himmel vor

Wie hinterm Brandenburger Tor
Die Lindenbäume.
Nimm meine Worte freundlich hin,
Weil ich schon sehr erwachsen bin.

Drittes

Lieber Gott mit Christussohn,
Ach schenk mir doch ein Grammophon.
Ich bin ein ungezognes Kind,
Weil meine Eltern Säufer sind.

Verzeih mir, dass ich gähne.
Beschütze mich in aller Not,
Mach meine Eltern noch nicht tot
Und schenk der Oma Zähne.

Joachim Ringelnatz (7. 8. 1883 – 17. 11. 1934)

Das Bild ist von Ford Madox Brown (1821 - 1893)

Donnerstag, 16. November 2023

Karl Stamm: Immer hauchen Dunkelheiten durch meine Wanderschaften. . .

 



(Für Ernst Gubler)

Immer hauchen Dunkelheiten durch meine Wanderschaften,
sanfter Wahnsinn will mit mir sein in leisem Aufruhr,
immer ist nächtliche Flucht in meinem Schritte,
die mich weghebt von jedem Dinge, dem ich entstamme,
nur ihre Müdigkeiten sammeln sich an meinen Füßen,
verhalten den Austritt mir aus dem geliebten
Kerker der Schwermut,
stellen mich hin in das weiße Nichts,
darin ich mir selber entgegentöne
meinen frierenden Namen,
endlos allein, umstellter Feind,
erstarrend in diesem frierenden Namen ...
bis sanft mich auflöst an letzter Grenze
der heiligen Bäume lächelnder Anruf.

Karl Stamm, geboren am 29. März 1890 in Wädenswil, Kanton Zürich; gestorben am 21. März 1919 in Zürich, Schweizer Dichter, aus: Der Aufbruch des Herzens, 1. Auflage 1919

Ernst Gubler (1895 - 1958) war ein Schweizer Bildhauer und Maler.

Das Bild „Melancholie“ ist von Odilon Redon (1840 – 1916)

Dienstag, 14. November 2023

John Höxter: Hier und dort und allenthalben. . . / Ich will das Wie nicht wissen. . . / Hic et ubique / Hexentanzplatz

 



Hier und dort und allenthalben:
Hunger, Pleite, Hass und Pest.
Pillen, Pulver, Tränke, Salben
Geben uns den letzten Rest.
Miete, Heizung, alles teuer,
Fraß und Kleidung sowieso –
Meine Augen sprüchen Feuer
Und die Welt ist trocknes Stroh!


* * *

Ich will das Wie nicht wissen noch das Was;
Den Nießnutz nur von Ja und Nein (für Nass!),
Den echten Schein der Summe des Seins,
Der Dreiheit, der Zweiheit und der Eins.
(Die Drei dehnt des Denkens dunkle Dimension,
Zwei spiegelspaltet, Zwist und Zwang zum Lohn,
Die einsame Eins kann nichts weiter tun
Als im Überallhier immernun zu ruhn.)


Hic et ubique

Wenn du die Hand hebst,
Fällt ein Schatten über die Milchstraße.
Wenn du dein Haupt senkst,
Schwillt der Gesang der Sterne an;
Die Achse der Welt ächzt in deinem Hirn,
In deinem Herzen schwingt das Kreisen der Sphären.
Äthermeere ebben und fluten
Mit den Gezeiten deines Blutes,
Durch die Harmonie der Himmel
Pochen deines Pulses Rhythmen den Klang,
Getönt im Regenbogenfarbenreigen
Deiner Freuden und deiner Leiden. Und schau:

Zur Stunde, da du stirbst, löst sich ein Stern
In einer Welt Lichtjahrtausende fern.


Hexentanzplatz

Zwar ist mein Lebensbahnbillet
Noch nicht ganz abgefahren,
Doch fühle ich mich stark komplett
Und kann den Rest mir sparen.
Ich bin gewiss nicht recht im Zug
Zum Tanzfest auf dem Brocken;
Vor „Elend“ hab’ ich schon genug,
Nichts kann mich weiter locken.
Ein schneller Griff – nicht ohne Not,
Ihr wisst es – zieh’ ich Leine;
Die Zunge reckt sich, ich bin tot
Und „baumle mit die Beine!“

John Höxter, am 2. Januar 1884 in Hannover geboren, Dichter und Maler, und der genialste Schnorrer der Berliner Bohéme nahm sich am 15. November 1938 in Berlin das Leben.

"Ich bin noch ein ungeübter Selbstmörder" schrieb er in seinem Abschiedsbrief an Leo von König, aber auch: "Möge das edle, naive deutsche Volk eines Tages jene furchtbare Schande von sich abwaschen, die es auf sich lud als es all zu willig sich der Herrschaft der unheiligen Dreieinigkeit des Wahnteufels, des Hetzteufels und des Gierteufels unterwarf."

Ihm ist das Heft Nr. 8 des Versensporn - Heft für lyrische Reize gewidmet. Es enthält insgesamt 35 Texte.

Montag, 13. November 2023

Sophie van Leer, Wilhelm Runge: Lieder

 



Lieder

I

In meinem Blut
tanzt
Du

Säule
trägst Du mich
Wellen schlägst Du um mich her
Mantel aus Meer

Nacht singt Du
Traum träumt Du
Sinn sinnt Du
Fern
Du


II

In meine Schultern hülle ich Dich
und trage Dich zu mir

Ich wiege Dich im Kahne meines Bluts
und pflanze hoch die Wälder meiner Glieder
um Dich
ich bette Dich
in das rausche Gestrüpp meiner Locken


III

Wunde mich nicht
wende Dich nicht
weile
wölbe Dein Lauschen

Bieg Deine Glieder
beuge Dein Lächeln

Neige die Wange
in meinen Schoß

lausch meiner Sehnsucht
Rausche Rausche

Sophie van Leer, aus: Der Sturm, Nummer 2, 15. Mai 1916


Lieder

Undurchdringlich
ist mein Gedenken
wie eine Mauer
um dich her
ich bin
eine Brücke der Sehnsucht
über die Weiten
zu dir hin
darüber eilt mein banger Atem
der nur von deiner Liebe lebt
und meine Tränen fallen dir
zu Füßen


* * *

Deine Augen ruhen auf mir
kaum kann ich sie tragen
Frieden
schenke deinen Händen
sie erheben sich bei deinen Worten
demütig
ein betend Volk
Wein
bis du in allen Adern
trunken finden die Gedanken nicht
herzaus herzein
tasten alle hin an deiner Stimme
den verwirrten Weg
entlanggeführt.

Wilhelm Runge, aus: Der Sturm, Nummer 21 - 22, 1 Februar 1916

Sophie van Leer, geboren am 3. Februar 1892 in Amsterdam; gestorben am 3. Juni 1953 ebenda, Lyrikerin, 1915 ging sie dann nach Berlin, wo sie sich der Gruppe um Herwarth Walden anschloss. In deren Zeitschrift Der Sturm erschienen in den folgenden Jahren zahlreiche Lyrik- und Prosabeiträge van Leers. 1915 lernte sie bei einer Ausstellung den Maler Georg Muche kennen, in den sie sich stürmisch verliebte und mit dem sie sich verlobte. Die Beziehung zerbrach 1918. Gleichzeitig bestand allerdings eine Beziehung zu dem jungen Dichter Wilhelm Runge, der als Soldat an der Westfront kämpfte, und mit dem sie einen ausgedehnten Briefwechsel führte, der 2011 publiziert wurde. Während der Novemberrevolution wurde Sophie van Leer in München verhaftet und zum Tode verurteilt, kam aber einen Tag später bereits frei. Einem während der Inhaftierung abgelegten Gelübde folgend konvertierte sie zum Katholizismus und nahm dabei die Vornamen Francisca Maria an. (Wiki)

Wilhelm Runge, geboren am 13.6.1894 Rützen/Schlesien, am 22.3.1918 bei Arras „gefallen“. In Schlesien aufgewachsen, ging Wilhelm Runge 1914 als Kriegsfreiwilliger an die Front. Vor Ypern wurde er im Nov. 1914 verwundet, 1915 kam er nach Berlin u. studierte Medizin. Dort schloss er sich dem »Sturm«- Kreis um Herwarth Walden an. Besonders eng befreundete er sich mit Georg Muche, damals Lehrer an der Kunstschule des »Sturm«, und dessen Braut Sophie van Leer. Im »Sturm« erschien fast seine gesamte Lyrik. Anlässlich seines frühen Todes schrieben Franz Richard Behrens, Kurt Heynicke u. Walter Mehring poetische Nachrufe; Muche widmete ihm ein Ölgemälde zum Gedächtnis. Das einzige Buch, der Gedichtband Das Denken träumt (Berlin 1918), wurde von Wilhelm Runge noch im Feld korrigiert, aber erst nach seinem Tod veröffentlicht.

Das Bild ist von Otto Mueller (1874 - 1930)

Sonntag, 12. November 2023

Georg Trakl: Ein Herbstabend

 



Ein Herbstabend

An Karl Röck

Das braune Dorf. Ein Dunkles zeigt im Schreiten
Sich oft an Mauern, die im Herbste stehn,
Gestalten: Mann wie Weib, Verstorbene gehn
In kühlen Stoben jener Bett bereiten.

Hier spielen Knaben. Schwere Schatten breiten
Sich über braune Jauche. Mägde gehn
Durch feuchte Bläue und bisweilen sehn
Aus Augen sie, erfüllt von Nachtgeläuten.

Für Einsames ist eine Schenke da;
Das säumt geduldig unter dunklen Bogen,
Von goldenem Tabaksgewölk umzogen.

Doch immer ist das Eigne schwarz und nah.
Der Trunkne sinnt im Schatten alter Bogen
Den wilden Vögeln nach, die ferngezogen.

Georg Trakl, aus: Gedichte (Der jüngste Tag Band 7/8) Sammlung, K. Wolff Leipzig Juli 1913

Karl Röck, dem das Gedicht gewidmet ist, war Mitarbeiter der Zeitschrift "Der Brenner" in Innsbruck. Er war mit Trakl freundschaftlich, aber auch kritisch verbunden.

Georg Trakl, geboren am 3. Februar 1887 in Salzburg geboren, gestorben am 3. November 1914 starb. Trakl wurde als Militärapotheker einberufen und begab sich angesichts der Gräuel, welcher er an der Front teilhaftig wurde, in den Freitod.

Das Bild „Pappelallee im Herbst“ ist von Vincent van Gogh (1853 - 1890)

Samstag, 11. November 2023

Anselm Ruest: Inseltraum

 



Inseltraum

Hoch über dem schweigsamen Wandrer
Zerflossen Jahr und Zeit;
Es ist kein Lüftchen gedrungen
In seine Einsamkeit.

Noch stand er: erstaunt der Wunder
Vom ersten Lebenstraum; -
Und sacht strich droben im Bogen
Die Sonne durch den Raum.

Er sah auf verschollenen Meeren
Ein schimmerndes Inselland;
Uralte gewaltige Wurzeln
Umkrallten düster den Sand.

Urweite gewölbete Kronen
Verbargen der Stunden Zahl;
Vier Jahre glitt nieder von Wipfel
Zu Sande der Sonnenstrahl.

Da hat der Wanderer geschwiegen.
Die Woge ward Eis, ward Schaum. . .
Und sacht strich droben im Bogen
Die Sonne durch den Raum. -

Anselm Ruest (1878 - 1943), aus: Die Aktion, Nr. 27, 21. August 1911

Anselms Ruests erstes größeres Werk war eine Monographie über Max Stirner (1906), ergänzt durch ein von ihm zusammengestelltes Stirner–Brevier. Anselm Ruest hat einige klassische Werke herausgegeben. Clemens Brentanos Godwi (1906) zählt hier ebenso dazu wie Eckermanns Gespräche mit Goethe (1907) oder eine Jean-Paul-Anthologie (1912). Ruest war 1911 Mitbegründer von Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion. Von 1919 bis 1925 war er Herausgeber der informellen Zeitschrift des Stirnerbundes, Der Einzige, im ersten Jahrgang zusammen mit „Mynona“. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus emigrierte er 1933 nach Frankreich, wo er ab 1939 mehrmals interniert wurde. Im Jahr 1941 freigelassen, starb er 1943 nach schwerer Krankheit im südfranzösischen Exil. (Wiki)

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Freitag, 10. November 2023

Fritz Karpfen: Nimm mich mit, o Herbst

 



Nimm mich mit, o Herbst

Wenn der Abend auf die Berge niedersinkt,
steh' ich einsam da und seh' dem Herbste zu,
wie er milde Seine Fahnen
auf der Erde schwingt,
schwer und rot vertönen ihre Farben
in der Abendruh!

Endlos taumeln noch die Lichter
nach den Fernen
bunte Schatten steigen auf und
wehn sinnestrunken
nach den ersten Sternen
die in herrlichstem Geleuchte droben stehn.

Ich aber bin einsam,
ich bin nahe dem Verzagen
meine Sinne sind der Heimat zugewandt.
Dahin, dahin fährt der Herbst
mit seinem Silberwagen!

Nimm mich mit, o Herbst,
an meiner Sehnsucht Strand,
nimm mich mit, o Herbst,
an meiner Sehnsucht Strand.


Fritz Karpfen, geboren am 21. Februar 1897 in Wien, gestorben am 26. August 1952, Schriftsteller und Feuilletonist. Dieses Gedicht wurde von Franz Lehar vertont.

Das Bild ist von Jakub Schikaneder (1855 - 1924)


Leo Sternberg: Nebel

 



Nebel

Nur Inseln sind die Wälder noch. . .
Der Herbst in seinem Nebelboot
Fährt durch die Welt. . .
Am Uferrande dunstet
Der Baum in seinen sieben weißen Schleiern. . .
Durch feuchte Laken fließt
Der Toten trübes Aug.
Du bist mein Ferge nun. . .
Die Welt ist still hinabgesunken. . ..
Die Träume heben sich erwacht
Aus gläsernen Särgen. . .

Leo Sternberg (1876 – 1937), aus: Sirius Nr. 5, Zeitschrift, herausgegeben von Walter Serner, Zürich 1915 / 16

Leo Sternberg, geboren am 7. Oktober 1876 in Limburg an der Lahn, er schrieb Lyrik und schuf eine Reihe von kulturhistorischen Werken. Seine Lyrik erschien unter anderem in den Zeitschriften Die Aktion, Hochland, Der Brenner, Jugend und Der Feuerreiter.

Das Bild ist von Henri Pierre-Picou (1824 - 1895)

Mittwoch, 8. November 2023

Hilda Bergmann: Trüber Tag

 



Trüber Tag

Voll von Liedern ungesungen
ist die Welt und atmet schwer.
Nebel hält die Niederungen
eingehüllt, ein graues Meer.
Und die Erde ohne Lichter
und der Himmel wie ein Richter
kalt und streng und gnadenleer.

Aber aus der Trübnis leise
flattern Töne, kommt ein Lied;
eine Lerche, welche Kreise,
unablässig Kreise zieht.
Und wie sie mit Lobgesängen
an den düstern Himmel stößt,
ist die Stummheit schon zu Klängen
und die Schwermut in der engen
Menschenbrust zum Glück erlöst.

Hilda Bergmann, aus: Am häuslichen Herd. Schweizerische illustrierte Monatsschrift, 50. Jahrgang (1946 - 1947)

Hilda Bergmann, geboren am 9. November 1878 in Prachatitz, Böhmen; gestorben am 22. November 1947 in Schweden), österreichische Schriftstellerin und Übersetzerin.

Nachdem die Familie im Jahre 1897 nach Wien umgezogen war, schloss sie dort 1898 eine Ausbildung als Volksschullehrerin ab, wo sie an verschiedenen Schulen arbeitete. 1908 schied sie aus Gesundheitsgründen aus dem Schuldienst aus. Im selben Jahr heiratete sie den Witwer Alfred Kohner. Dieser brachte einen Sohn namens Hans in die Ehe. Da Alfred Kohner sich als Jude nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich 1938 in Gefahr befand, wanderte die Familie nach Åstorp in Schweden aus. Eine Rückkehr in ihre Heimatstadt Prachatitz war ihr wegen der Kriegs- und Nachkriegsereignisse verwehrt. Im Exil in Schweden starb Hilda Bergmann am 22. November 1947.

Das Bild ist von Caspar David Friedrich (1774 - 1840)

Dienstag, 7. November 2023

Erich Oesterheld: Impression

 



Impression

In grauen Schleiern, wie von Regen feucht,
Schleicht Tag um Tag verekelt durch die Straßen,
Und meine Seele (diese edle, wie mir deucht)
Verkriecht sich scheu und zittrig vor den nassen
Gespenstern auf den grauverhängten Gassen.

Sieh, ich, ein Punkt im grauen Meer des Tags,
Trag meinen Ekel pflichtgehorsam durch die Stunden,
Trag ihn durch feuchte Menschenmassen stracks
Zur Tram, ein Seelchen im Gewühl, der Zeit entbunden,
Und flüchtig auf der Sohle der Sekunden.

Ich bin wie ein Irrlicht, das durch Nebel blinkt,
Und schweigender Akkord, der hastig im brutalen
Konzert der Straßen in sich selbst versinkt. -
Ich bin wie eingesperrt in dem fatalen
Verkehrswirrwarr fortschrittlicher Vandalen.

Und schemenhaft treibts mich von Welt zu Welt,
Denn eine große Stadt hat vieler Welten Wesen;
Ich bin ein Wächter, am Perron bestellt,
Um aus den Wüsten Menschen zu erlesen,
Damit es hell in mir, wie es gewesen.

Und sieh! wie eine blonde Sonne, leicht und schlank,
Steht da ein Mädchen vor mir, hell umglitten
Von meinem Blick. Das Toben wird Gesang,
Und wie ein Tag, der aus der Nacht geschritten,
Steht sie im hellen Licht und ich inmitten.

Erich Oesterheld, aus: Die Aktion - Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst; Sondernummer „Lyrische Anthologie“, 1913

Erich Oesterheld, geboren am 6- Januar 1883 in Berlin, gestorben am 8. November 1920 ebendort, war Schriftsteller, Übersetzer und Verleger. Unter anderem übersetzte er Charles Baudelaire.

Das Bild ist von Alexandra Exter (1882 - 1949)

Montag, 6. November 2023

Maria Luise Weissmann: Die Heimkehr / Ode an Sebastian

 



Die Heimkehr

Vielleicht, dass mich der schlanke Schaft der Birke trug?!
Nun wurzelt Fuß ins Wurzelwerk der Brombeerranken.
Auf blauem Teiche meines Blicks: Libellenflug.
Gräser im Südwind meines Atems wanken
Und das in sanften Winden wehend fließt:
Kornfeld des blonden Haares, erdgeneigt.
Ein Käfertraum an Fingerstengeln sprießt,
Grille, die aus umlaubter Achselhöhle geigt -
Oh, ich ward Tiefe, Weite, und der Wald,
Der müdverhängter Wimper grün entdämmert,
Und lausche: wie der kleine Specht, mein Herz,
Aus fernen Hügeln sacht herüberhämmert.


Ode an Sebastian

Oh, Du warst Baum! Darinnen Vögel schliefen.
Winde sich hold vermählten. Leoparden bogen kühl.
Ein Lamm. Gewölk, lag weich an Dich gebettet,
Auch warst Du weit, dass fernster Städte Dach
Noch Deiner Zweige Schatten überwölbte.
Oh, Du warst weit! Ich konnte Deinen Wurzeln, die
Den Ball, verspielte Hände, eng umschlangen, nicht
Entgehen, Knöchel sank und blutete betränt.
Und Du warst groß! Es hing der Abendstern an Dir
Und losch vergrämt, als Du mit Stürmen Dich besprachst,
Du trugst die Sonne auf erhobenen Haupt,
Nacht sank in Trauer, da Du es geneigt.

Maria Luise Weissmann, aus: Das Frühe Fest, Heinrich F.S. Bachmair, Pasing 1922

Maria Luise Weissmann (20. 8. 1899 – 7. 11. 1929) Ab 1918 erschienen erste Arbeiten von ihr (teilweise unter dem Pseudonym M. Wels) im Fränkischen Kurier. Sie befreundete sich mit Georg Britting, in dessen Zeitschrift Die Sichel vier ihrer Gedichte erschienen, und wurde Sekretärin des Nürnberger Literarischen Bundes. Bei einer Lesung dort lernte sie im Juni 1918 den Autor und Verleger Heinrich F. S. Bachmair, den sie vier Jahre später heiraten sollte.

1919 übersiedelte Weissmann nach München, wo sie in der von Bachmair neu gegründeten Buchhandlung Die Bücherkiste zusammen mit ihrem Cousin Wilhelm von Schramm arbeitete. Sie trat der Münchener Gesellschaft Bund für Buddhistisches Leben bei und arbeitete in dem der Gesellschaft verbundenen Verlag von Oskar Schloß in Neubiberg. Außerdem wurde sie Mitglied der 1919 in Nürnberg gegründeten literaturrevolutionären Gruppe Das junge Franken. In den folgenden Jahren veröffentlichte sie Gedichte in verschiedenen Zeitschriften, darunter Die Sichel, Der Weg, Der Anbruch und Die Flöte.

Sie hatte sich auf Seite der Linken in der Münchner Räterepublik engagiert und war nach deren Ende zu Festungshaft verurteilt worden. Im Juli 1920 kam er frei und Weissmann zog zu ihm nach Pasing und heiratete ihn im Juni 1922. In den folgenden Jahren lebte das Paar abwechselnd in Pasing, München und Dresden. Im gleichen Jahr 1922 erschien auch ihr erster Gedichtband Das frühe Fest. (Wiki)

Das Foto zeigt die Dichterin 1928, der Fotograf ist Hanns Holdt (1887 - 1944)

Sonntag, 5. November 2023

Jakob Haringer: Volkslied

 



Volkslied


Liebe Mutter, ich muss bald sterben.
Ach, liebe Mutter, mir tut alles weh.
Und eh der Herbst verblüht, da muss ich scheiden,
Dann lieg´ ich einsam unterm kühlen Schnee.
O, liebe Mutter, nimm dies Brieflein,
Es ist alles drin, was ich erspart,
Ich hab´s bestimmt einst für mein Kindlein
Und hat mich selber noch kein Mann geküsst.
O weine nicht in meiner Sterbekammer,
Nimm das Geld und kauf ein weißes Kleid
Und dunkle Veilchen werf in meinen Sarg hinein.
Jetzt kommt gewiss für mich die schönste Zeit.
Und weiße Mädchen sollen lustig singen dann
Von der Liebe und vom schönen Mai.
O liebste Mutter, hab ich Dir wehgetan?
Ich muss doch sterben, schau, und drum verzeih!
Und an mein Grab, ach ja, pflanz lauter Rosen,
Die pflück Dir alle und trag sie nach Haus,
In Deinem Zimmer weint dann meine Seele
Sich einmal noch von allen Schmerzen aus.

Jakob Haringer, aus: Die Einsiedelei, Ein Stundenblatt, Nummer II, um 1930

Jakob Haringer, geboren am 16. März 1898 in Dresden als Johann Franz Albert; gestorben am 3. April 1948 in Zürich.

René Schwachhofer schrieb 1947 in der verdienstvollen Auswahl vergessener, von den Faschisten verfemter Lyriker Vom Schweigen befreit:

„Haringer hat einige der schönsten deutschen Gedichte geschrieben; sie könnten im Volksmund umgehen. Einst wird man fragen: Wer war ihr Verfasser?“

Das Bild ist von Léon Spillaert (1881 - 1946)

Aus der Zeitschrift Neue Jugend: Gedichte von Georg Muthner, Jean Jaques, Jean Le Hogh

 



Elegie


für H.

Die andern können von sich ferne rücken,
Erinnerung werden lassen
oder gar vergessen,
was sie liebten.

Nur mein Blut kann nicht kühl werden
und Ruhe finden
und hält mich lang wach in der Nacht.

Gespenster toter Hoffnungen
stehn dicht um mich
und tun so als lebten sie noch.

Georg Muthner


Abschied

Du fuhrst dahin. Der Abend blutete sein Lied.
Die Ebenen sangen korndurchwogte Hymnen auf das letzte Licht.
Der Zug - o Schlange mit den vielen Wegen -
durchbraust den Weg aus Eisen,
Und Du bedauerst, was nur hinter Dir ein nächster Tag erlebt.

Jean Jacques


Impression romaine.

Sybille Kuehn, der großen gebärdenreichen hinter Maske und Schleier zu eigen.

Ich wandere mit träumender Gebärde
Durch Borrominis Hain; von jedem Ast
Stürzt sich der reifen Früchte goldne Last
Wie Sapphos honiggelbes Haar zur Erde.
Der Aether flimmert fast perlmutterfarben,
Und drüben, wo mit silberweißem Kies
Das Meer sich dehnt gleich einem blauen Vließ
Sprühen mitunter blanke Perlengaben.
An dem von Lilien überblühten Grabe
Der Villa des Lucullus singt ein Knabe
Mit rotem Munde Verse des Ovid. . .
O Gott, gib angesichts der Endlichkeiten,
Dass diese Stunde, reich an Süßigkeiten,
Nicht wie ein seltner Traum vorüberflieht.

Jean Le Hogh

Aus: Neue Jugend, Drittes Heft Juni 1914, Schriftleitung Rudolf Börsch, Vertretung für Österreich-Ungarn: Friedrich Hollaender, Prag, künstlerische Ausstattung: Hei – Bar. Über die Autoren konnte ich nichts herausfinden. Ab der dritten Ausgabe wurde die Zeitschrift von Heinz Barger übernommen, unter Mitarbeit von Wieland Herzfelde. Sie entwickelte sich zu einer expressionistischen Literaturzeitschrift, in der so namhafte Autorinnen und Autoren wie Kasimir Edschmid, George Grosz, Else Lasker-Schüler, Walter Benjamin. Während des ersten Weltkrieges war es nicht möglich, eine Druckkonzession für einen neuen Verlag zu bekommen, so dass Wieland Herzfelde die Rechte an der ehemaligen Schülerzeitschrift erwarb und den Verlag Neue Jugend etablierte, aus dem später der Malik-Verlag hervorging.

Freitag, 3. November 2023

Clara Müller-Jahnke: Träume nur, Seele / Blaue Träume

 



Träume nur, Seele . . .

In den verdämmernden Herbsttag hinein
zauberst du lachenden Sonnenschein,
und aus der Blätter vergilbendem Flor
blühen dir duftige Veilchen empor,
träumende Seele -

Tönt denn der Glocken dumpfhallender Klang
dir wie ein schmetternder Lerchengesang?
Siehst du der Erde verweintes Gesicht,
fühlst du die eisigen Nebel denn nicht,
träumende Seele? -

Träume nur, träume ... der Frühling ist weit;
Rosen hat's nimmer im Winter geschneit -
dumpf nur und klagend, verweht vom Nordwest,
läuten die Glocken zum Totenfest.
Träume nur, Seele ...


Blaue Träume

Nadelspitzen des Novemberregens
peitscht der Nordwind prasselnd an die Scheiben,
aber warm und mollig ist's hier drinnen.
Zigarettenduft durchwellt das Zimmer,
in den Gläsern flammt der Sorrentiner.
Und du hebst das Glas, und lächelnd trinken,
langsam schlürfend, tropfenweise trinken
wir das Herzblut einer heißern Sonne.
Setz dich zu mir, komm!
Auf Deine Schulter
laß die sehnsuchtfeuchte Stirn mich stützen,
lauschen laß mich deinen wachen Träumen,
deinen Märchen aus dem Reich der Sonne,
deinen Liedern von der goldnen Katie . . .
Lies mir, Liebster, von der goldnen Katie!

Linde heilend will ich mit den Fingern
deiner Stirne blutige Male rühren,
dürstend küß ich alle deine Wunden,
küß sie zu mit meinen weichen Lippen.
Lies mir, Liebster, von der goldnen Katie.

Lies mir deine allerblausten Träume
aus den Zaubergrotten von Caprera,
aus dem schönheittrunkenen Land der Sonne.
Sag mir: liebst du denn die goldne Katie?

Du verstummst, - und durch die große Stille
raunt die Ostsee dumpfe Klagelieder.
Du verstummst, - und von der großen Stille
scheu erschreckt, hebt in den tiefsten Tiefen
deiner Seele die verstoßne Sehnsucht
ihre feuchten grünen Nixenaugen . . .

Langsam schlürfend, tropfenweise trinken
wir das Herzblut einer fernen Sonne . . .
sag mir, kennst du denn die große Liebe?

Aus: Clara Müller-Jahnke: Gedichte, herausgegeben und illustriert von Oskar Jahnke, Berlin: Buchhandlung Vorwärts (Hans Weber) [1910]

Clara Müller-Jahnkem geboren am 5. Februar 1860 in Lenzen, Kreis Belgard als Clara Müller; gestorben am 4. November 1905 in Wilhelmshagen bei Berlin, Dichterin, Journalistin und Frauenrechtlerin. Sie galt in ihrer Zeit als führende sozialistische Dichterin und machte insbesondere mit ihren agitatorischen Arbeitergedichten auf die Lage der Arbeiter und der Frauen aufmerksam. sie hatte jedoch auch eine poetische Seite.

Das Portrait der Dichterin ist aus Der wahre Jacob, Nr. 505, 28.11.1905,

Donnerstag, 2. November 2023

Georg Trakl: Im Winter, Else Lasker-Schüler: Georg Trakl

 



Im Winter

Der Acker leuchtet weiß und kalt.
Der Himmel ist einsam und ungeheuer.
Dohlen kreisen über dem Weiher
Und Jäger steigen nieder vom Wald.

Ein Schweigen in schwarzen Wipfeln wohnt.
Ein Feuerschein huscht aus den Hütten.
Bisweilen schellt sehr fern ein Schlitten
Und langsam steigt der graue Mond.

Ein Wild verblutet sanft am Rain
Und Raben plätschern in blutigen Gossen.
Das Rohr bebt gelb und aufgeschossen.
Frost, Rauch, ein Schritt im leeren Hain.

Georg Trakl, aus: Gedichte, 1. Auflage, Kurt Wolff Verlag Leipzig, 1913

Am 3. Februar 1887 wurde Georg Trakl in Salzburg geboren, am 3. November 1914 starb der Dichter. Trakl wurde als Militärapotheker einberufen und begab sich angesichts der Gräuel, welcher er an der Front teilhaftig wurde, in den Freitod. Else Lasker–Schüler widmete ihm zwei Gedichte, eines davon:

Georg Trakl

Seine Augen standen ganz fern.
Er war als Knabe einmal schon im Himmel.

Darum kamen seine Worte hervor
Auf blauen und weißen Wolken.
Wir stritten über Religion,

Aber immer wie zwei Spielgefährten,

Und bereiteten Gott von Mund zu Mund.
Im Anfang war dass Wort.

Des Dichters Herz, eine feste Burg,
Seine Gedichte: Singende Thesen.

Er war wohl Martin Luther.

Seine dreifaltige Seele trug er in der Hand,
Als er in den heiligen Krieg zog.

- Dann wusste ich, er war gestorben -
Sein Schatten weilte unbegreiflich

Auf dem Abend meines Zimmers.

Else Lasker-Schüler, aus: Gesammelte Gedichte, Verlag der weißen Bücher, Leipzig 1917

„Er ist der Schwermütigste von Allen. Auf jedem Vers, den er schrieb, liegt jene tiefste, hoffnungsloseste, süßeste Melancholie – jene Melancholie, die zu müde, zu schwer ist, um in eigenen Worten noch zu sprechen, die in Musik und in Farben zerfließt. Sein Lebenswerk, seine gesamte Dichtung ist eigentlich keine Kunst mehr. Es ist ein unterbrochenes, verworren-süßes Lied von seiner untröstbaren, von seiner tiefen, tiefen Schwermut. Die paar Dinge, die er lieb hatte auf Erden, kehren immer wieder in seiner Dichtung: die paar Farben – purpurn, braun, blau – die flötende Amsel, die schmale dunkeläugige Gestalt der Schwester, die er Karfreitagskind nannte, und das Süßeste von allen: die Knabengestalt mit den modenen Augen und der hyazinthenen Stimme – Elis.

. . .

Ein Orgelchoral erfüllte ihn mit Gottes Schauern. Aber in dunkler Höhle verbrachte er seine Tage, log und stahl und verbarg sich, ein flammender Wolf, vor dem Antlitz der Mutter. Mit purpurner Stirne ging er ins Moor, und Gottes Zorn züchtigte seine metallenen Schultern.

Wer solche Sätze schrieb, steht außerhalb.“

Aus: Klaus Mann - Über Georg Trakl, Weltbühne 2. Oktober 1924

Das Bild ist von Pekka Halonen (1895 - 1933)

Mittwoch, 1. November 2023

Jakob Haringer: Allerseelen

 



Allerseelen

So frisch rasiert im schönen Herbst zu wandern -
Zwar hat ein Brief mich wieder mal enttäuscht,
Ist wurscht, ich schmeiß ihn zu den alten Andern
Und morgen kommt ein junges Glück vielleicht.
Dann süße Rast bei Bier und Schweinebraten,
Die gute Wirtin kocht mir frisch Kaffee,
Und die Zigarre reizt zu neuen Taten -
Was kann mir noch im Leben viel geschehn!
Ich steh ja über euren Kinderdingen -
Ich bin zum Sterben jede Stund bereit!
Ich freu mich, dass noch heut die Vögel singen,
Und freu mich heut schon wenn es morgen schneit.
Und jeder Blick schenkt mir ein neues Leben,
Die Wolken wandern und mein Lied zieht fort.
Hast du Dich ganz der Erde hingegeben,
Wird dir der Himmel drauf zum nächsten Ort.
Und dass ihr alle auch mich einst betrogen -
Das hat mir nur den schönsten Trost gelehrt.

Und all das Schwere will ich pfeifend loben:
Dass ich mir selber nur am meisten wert!
Und ist auch bald die Pilgerschaft zu Ende -
Das Glück verschenkt bloß, was es erst uns nahm,
Falt ich noch einmal, lieber Gott! die Hände -
Das Leben war am schönsten, so wie´s kam!

Jakob Haringer, geboren am 16. März 1898 in Dresden als Johann Franz Albert; gestorben am 3. April 1948 in Zürich.

René Schwachhofer schrieb 1947 in der verdienstvollen Auswahl vergessener, von den Faschisten verfemter Lyriker Vom Schweigen befreit:

„Haringer hat einige der schönsten deutschen Gedichte geschrieben; sie könnten im Volksmund umgehen. Einst wird man fragen: Wer war ihr Verfasser?“

Das Bild „Allerseelen" (1930) ist von Marianne von Werefkin (1860 - 1938)