Sonntag, 5. November 2023

Jakob Haringer: Volkslied

 



Volkslied


Liebe Mutter, ich muss bald sterben.
Ach, liebe Mutter, mir tut alles weh.
Und eh der Herbst verblüht, da muss ich scheiden,
Dann lieg´ ich einsam unterm kühlen Schnee.
O, liebe Mutter, nimm dies Brieflein,
Es ist alles drin, was ich erspart,
Ich hab´s bestimmt einst für mein Kindlein
Und hat mich selber noch kein Mann geküsst.
O weine nicht in meiner Sterbekammer,
Nimm das Geld und kauf ein weißes Kleid
Und dunkle Veilchen werf in meinen Sarg hinein.
Jetzt kommt gewiss für mich die schönste Zeit.
Und weiße Mädchen sollen lustig singen dann
Von der Liebe und vom schönen Mai.
O liebste Mutter, hab ich Dir wehgetan?
Ich muss doch sterben, schau, und drum verzeih!
Und an mein Grab, ach ja, pflanz lauter Rosen,
Die pflück Dir alle und trag sie nach Haus,
In Deinem Zimmer weint dann meine Seele
Sich einmal noch von allen Schmerzen aus.

Jakob Haringer, aus: Die Einsiedelei, Ein Stundenblatt, Nummer II, um 1930

Jakob Haringer, geboren am 16. März 1898 in Dresden als Johann Franz Albert; gestorben am 3. April 1948 in Zürich.

René Schwachhofer schrieb 1947 in der verdienstvollen Auswahl vergessener, von den Faschisten verfemter Lyriker Vom Schweigen befreit:

„Haringer hat einige der schönsten deutschen Gedichte geschrieben; sie könnten im Volksmund umgehen. Einst wird man fragen: Wer war ihr Verfasser?“

Das Bild ist von Léon Spillaert (1881 - 1946)

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