Donnerstag, 30. November 2023

Ite Liebenthal: Geht der Wind um dein Haus / Nicht immer. . . / Alle Abendwolken wandern. . .

 



Geht der Wind um dein Haus

Geht der Wind um dein Haus, fürchte dich nicht:
Ich bin im Winde.
Und wenn des Dunkels sausende Stille spricht,
sing ich gelinde.

Mit meines Herzens ruhig lebendigem Schlag
bin ich im Liede:
Warte ein wenig, bald kommt der Feiertag,
bald kommt der Friede.

. . . 


Nicht immer, wenn dein heiliger Name
von fremden Lippen fällt, ist eine Schale
so wie mein Herz bereit ihn aufzufangen.
Auf Straßen liegt er achtlos übergangen.
Oft las ich ihn wie eine wundersame
Bergblüte auf im dunsterfüllten Tale.

Und meine Tränen lösten ihn vom Staube.
Ich flüchtete wie mit geweihtem Raube
zur Höhe, wo die reine Sonne schien
auf frommen Bodens unversehrte Scholle,
und kniend hob ich in die andachtvolle
Stille vor Gottes Antlitz ihn.

. . . 


Alle Abendwolken wandern
still hinab durchs goldne Tor.
Lächelnd tritt nun aus dem andern
die verhüllte Nacht hervor.

In den Falten ihres Kleides
komm ich zu dir, tief versteckt.
Alle Zeichen meines Leides
hat ihr Leuchten zugedeckt.

Und sie neigt sich auf dein Lager,
während sie dein Traum begrüßt.
Hab ich heimlich und mit zager
Liebe deine Hand geküsst?

Ite Liebenthal, aus: Gedichte, Erich Lichtenstein Verlag Jena 1921

Ite Liebenthal, Lyrikerin, geboren am 15. Januar 1886 in Berlin. Bereits 1906, mit 20 Jahren, veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband (Aus der Dämmerung). Weitere Veröffentlichungen folgten in der Zeitschrift Die Argonauten. 1921 erschien ein Band mit Gedichten im Erich Lichtenstein Verlag Jena.

Rilke ist von ihren Werken beeindruckt. Am 18. Januar 1922 schreibt er in einem Brief an Ite Liebenthal:

„Noch diesen Morgen, als ich die ›Gedichte‹ wieder vornahm, fiel mir eine köstliche alte Apotheke ein, die ich vor Jahren einmal in der einstigen Bischofstadt Carpentras, um ihres künstlerischen Werthes willen, zum Kauf angeboten bekam. Ihre Verse, heute, brachtens mit sich, daß ich auf einmal im Dunkel des schönen, offenen, die Wände auffüllenden Geschränkes, die geschlossenen Vasen vor mir sich hinreihen sehe: jede anders im blaublumigen, ausdrucksvollen Ornament, und doch wieder alle gleich; jede ein Gift, eine Gluth oder eine Kühlung einschließend, mit dem vollen großen, ja geschwungenen Namen dieses Inhalts, ihn so offen ansagend ― und doch wieder ihn völlig verhaltend, jede einzelne, in ihrer, die Verschließung so unübertrefflich aussprechenden Gestaltung…“

Auch als ihre Schwester Erna und ihr Bruder Werner nach der Machtergreifung der Nazis emigrierten, blieb Ite Liebenthal in Berlin. Zuletzt wohnte sie als Untermieterin in der Hektorstraße 3 in Berlin-Halensee. Am 27. November 1941 wurde sie zusammen mit 1052 anderen deutschen Juden vom Bahnhof Grunewald aus nach Riga deportiert.

Die Deportierten wurden, so eine Überlebende, in den eiskalten Wirtschaftsgebäuden des Jungfernhofes bei Riga untergebracht. Von dort gingen ab Februar 1942 Transporte ab, zuletzt am 26. März 1942 ein Transport mit ca. 1700 Menschen. Alle Abtransportierten wurden am gleichen Tag in einem Wald bei Riga erschossen.

Das zehnte Heft der Reihe VERSENSPORN, Jena ist Ite Liebenthal gewidmet. Das Foto von ihr stammt daraus.

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