Mittwoch, 1. November 2023

Jakob Haringer: Allerseelen

 



Allerseelen

So frisch rasiert im schönen Herbst zu wandern -
Zwar hat ein Brief mich wieder mal enttäuscht,
Ist wurscht, ich schmeiß ihn zu den alten Andern
Und morgen kommt ein junges Glück vielleicht.
Dann süße Rast bei Bier und Schweinebraten,
Die gute Wirtin kocht mir frisch Kaffee,
Und die Zigarre reizt zu neuen Taten -
Was kann mir noch im Leben viel geschehn!
Ich steh ja über euren Kinderdingen -
Ich bin zum Sterben jede Stund bereit!
Ich freu mich, dass noch heut die Vögel singen,
Und freu mich heut schon wenn es morgen schneit.
Und jeder Blick schenkt mir ein neues Leben,
Die Wolken wandern und mein Lied zieht fort.
Hast du Dich ganz der Erde hingegeben,
Wird dir der Himmel drauf zum nächsten Ort.
Und dass ihr alle auch mich einst betrogen -
Das hat mir nur den schönsten Trost gelehrt.

Und all das Schwere will ich pfeifend loben:
Dass ich mir selber nur am meisten wert!
Und ist auch bald die Pilgerschaft zu Ende -
Das Glück verschenkt bloß, was es erst uns nahm,
Falt ich noch einmal, lieber Gott! die Hände -
Das Leben war am schönsten, so wie´s kam!

Jakob Haringer, geboren am 16. März 1898 in Dresden als Johann Franz Albert; gestorben am 3. April 1948 in Zürich.

René Schwachhofer schrieb 1947 in der verdienstvollen Auswahl vergessener, von den Faschisten verfemter Lyriker Vom Schweigen befreit:

„Haringer hat einige der schönsten deutschen Gedichte geschrieben; sie könnten im Volksmund umgehen. Einst wird man fragen: Wer war ihr Verfasser?“

Das Bild „Allerseelen" (1930) ist von Marianne von Werefkin (1860 - 1938)

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