Träume nur, Seele . . .
In den verdämmernden Herbsttag hinein
zauberst du lachenden Sonnenschein,
und aus der Blätter vergilbendem Flor
blühen dir duftige Veilchen empor,
träumende Seele -
Tönt denn der Glocken dumpfhallender Klang
dir wie ein schmetternder Lerchengesang?
Siehst du der Erde verweintes Gesicht,
fühlst du die eisigen Nebel denn nicht,
träumende Seele? -
Träume nur, träume ... der Frühling ist weit;
Rosen hat's nimmer im Winter geschneit -
dumpf nur und klagend, verweht vom Nordwest,
läuten die Glocken zum Totenfest.
Träume nur, Seele ...
Blaue Träume
Nadelspitzen des Novemberregens
peitscht der Nordwind prasselnd an die Scheiben,
aber warm und mollig ist's hier drinnen.
Zigarettenduft durchwellt das Zimmer,
in den Gläsern flammt der Sorrentiner.
Und du hebst das Glas, und lächelnd trinken,
langsam schlürfend, tropfenweise trinken
wir das Herzblut einer heißern Sonne.
Setz dich zu mir, komm!
Auf Deine Schulter
laß die sehnsuchtfeuchte Stirn mich stützen,
lauschen laß mich deinen wachen Träumen,
deinen Märchen aus dem Reich der Sonne,
deinen Liedern von der goldnen Katie . . .
Lies mir, Liebster, von der goldnen Katie!
Linde heilend will ich mit den Fingern
deiner Stirne blutige Male rühren,
dürstend küß ich alle deine Wunden,
küß sie zu mit meinen weichen Lippen.
Lies mir, Liebster, von der goldnen Katie.
Lies mir deine allerblausten Träume
aus den Zaubergrotten von Caprera,
aus dem schönheittrunkenen Land der Sonne.
Sag mir: liebst du denn die goldne Katie?
Du verstummst, - und durch die große Stille
raunt die Ostsee dumpfe Klagelieder.
Du verstummst, - und von der großen Stille
scheu erschreckt, hebt in den tiefsten Tiefen
deiner Seele die verstoßne Sehnsucht
ihre feuchten grünen Nixenaugen . . .
Langsam schlürfend, tropfenweise trinken
wir das Herzblut einer fernen Sonne . . .
sag mir, kennst du denn die große Liebe?
Aus: Clara Müller-Jahnke: Gedichte, herausgegeben und illustriert von Oskar Jahnke, Berlin: Buchhandlung Vorwärts (Hans Weber) [1910]
Clara Müller-Jahnkem geboren am 5. Februar 1860 in Lenzen, Kreis Belgard als Clara Müller; gestorben am 4. November 1905 in Wilhelmshagen bei Berlin, Dichterin, Journalistin und Frauenrechtlerin. Sie galt in ihrer Zeit als führende sozialistische Dichterin und machte insbesondere mit ihren agitatorischen Arbeitergedichten auf die Lage der Arbeiter und der Frauen aufmerksam. sie hatte jedoch auch eine poetische Seite.
Das Portrait der Dichterin ist aus Der wahre Jacob, Nr. 505, 28.11.1905,
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